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Heft 10/1984
Erben und Widersprechen
Zum 225. Geburtstag Friedrich Schillers am 10. November 1984
Broschur mit 80 Seiten, Format: 200 x 290 mm
ISSN 0040-5418
Der dramatische Erstling machte Furore. Die rollenden Augen der aufs höchste erregten Zeugen der »Räuber«-Uraufführung sind in die Literatur- und Theatergeschichte eingegangen. Dann stellte sich Normalität ein. Das zweite Stück wurde ein Mißerfolg, der nicht nur dem mangelnden Römerblut in den Pfälzeradern anzulasten war. Mit der lokal je und je unterschiedlich gehandhabten Aufsicht über die theatralischen Lustbarkeiten gab es Ärgernisse: in »Kabale und Liebe« erregte der Kammerdiener Anstoß, im »Don Carlos« durfte Domingo nicht allerorten passieren. Es gab auch Veranlassung zu Klagen über die Schauspieler - in Mannheim spielten sie so lässig, daß der Dichter beim Intendanten protestieren mußte, er habe seinen Text nicht wiedererkannt. Dann die große Pause. Mit dem »Wallenstein« etablierte sich Schiller als klassischer Autor. Als er am 17. September 1801 der zweiten Vorstellung seiner dort uraufgeführten »Jungfrau von Orleans« in Leipzig beiwohnte, zeigten ihn, als er das Theater verließ, Väter ihren Söhnen: »Dieser ist es!« Das meinte: Schiller war zum Nationaldichter geworden. Die Geschichte seines Nachruhms, geprägt durch ebenso leidenschaftliche, sogar schwärmerische Verehrung wie heftige und auch bösartige Ablehnung, wird von diesem außerordentlichen Rang bestimmt, den der Dramatiker Friedrich Schiller erlangt hatte. Die Feierlichkeiten in Deutschland zu seinem 100. Geburtstag 1859, von Marx und Engels nicht ohne kritische Skepsis kommentiert, belegen es. Nietzsche höhnte dann über den »Moraltrompeter von Säckingen«, Alfred Kerr folgte, nichts an ihm sei scheel und niedrig, edler Schiller, teurer Friedrich. Ohne das Vorbild und die prägende Kraft Schillerscher Kunst sind wichtige Entwicklungen und Leistungen früher sozialistischer Literatur in Deutschland nicht denkbar; kritisch gesehen, wie Büchner ihn leidenschaftlich abgelehnt hatte, ist Schiller in der berühmten Sickingen-Debatte Bezugspunkt marxistischer ästhetischer Theoriebildung - 1905 verknüpft sich gerade mit seinem Namen in den Arbeiten Franz Mehrings die Frage nach dem Verhältnis der deutschen Arbeiterklasse zum Erbe. Aber wie kein anderer deutscher Dichter hat Schiller auch die Muster hohltönender pathetischer Oberlehrerdramen geliefert, Strukturen von Trivalliteratur mitbestimmt. Auch dies gehört zu den Folgen dieser literarischen Größe. Klassik und Klassizismus, Originäres und Epigonales liegen dicht beieinander. Und immer wieder erweist sich Friedrich Schiller, der Dichter wie der ästhetische Theoretiker, als Herausforderung.
Sein 150. Todestag 1955 wurde mit Thomas Mann als Festredner wie in Stuttgart so in Weimar zum nationalen Ereignis; hier erreichten Schillerrezeption und Schillerbegeisterung in unserem Jahrhundert wohl ihren absoluten Höhepunkt. Johannes R. Becher, der in Weimar am eigentlichen Gedenktag, dem 9. Mai, sprach, setzte mit seinem prononcierten Bekenntnis zu dem antirevolutionärer Verse wegen vielfach geschmähten »Lied von der Glocke« einen markanten Akzent. Und noch deutlicher wurde er im Folgejahr in seiner Rede auf dem IV. Deutschen Schriftstellerkongreß. Schillers Forderung an den Dichter, das Geschäft des Idealisierens zuvörderst an sich selbst zu besorgen - so in der Auseinandersetzung mit Gottfried August Bürger -, wurde zum politisch-moralischen Maßstab: ein Künstler könne keinen Helden gestalten, wenn er selbst »so ganz ohne Vorbild und Beispiel als menschliche Persönlichkeit« sei - Und eine gattungstheoretische Diskussion unter Berufung auf die Tradition von Gottsched bis Schiller und Goethe wurde den DDR-Autoren anempfohlen, die damals in der Auseinandersetzung mit Wilhelm Girnus über den Primat von Ideologie oder Ästhetik debattierten. Bechers Aufforderung zur Anstrengung eines klassischen Gattungsbegriffs ist seinerzeit niemand gefolgt. Dennoch war die Frage nicht abgetan. Poetologische Überlegungen, wie sie in den sechziger und siebziger Jahren, den »Maßgaben der Kunst« nachfragend, Peter Hacks auf der Suche nach einer neuen Klassizität, nach der Eigentümlichkeiten des Dramas und des Theaters angestellt hat, sind - was der geistreiche Spott über die trivialliterarischen Konsequenzen des Schillerschen Vorbildes nicht verdecken kann - immer auch Auseinandersetzung mit dem unabgegoltenen Erbe Friedrich Schillers. Freilich gehört es zum Wesen jeder bewußt angestrebten Klassizität - das hatten Schiller und Goethe, an theatralischem Erfolg zu ihrer Zeit Kotzebue und anderen eindeutig unterlegen, schon erfahren müssen -, daß der Blick auf ein Ideal und dessen ideale Verwirklichung auch Realität verfehlen kann. Der Lyriker Schiller hat das dialektisch sehr schön gefaßt in zwei korrespondierenden kleinen Elegien, die in seinem Musenalmanach für das Jahr 1796 erschienen: im Bilde des Seglers Odysseus, der auf der Suche nach der Heimat die Meere durchkreuzend heimgekehrt die Heimat nicht erkennt; doch dem respondiert das Bild des anderen Seglers Kolumbus, dessen Ideal - im Sinne eines vorgreiflichen Denkens - der Witz (Formel für eine phantasielos rationalistische Vernünftigkeit verhöhnen mag, doch »mit dem Genius steht die Natur in ewigem Bunde, /Was der eine verspricht, leistet die andre gewiß«. Gerade beim Lyriker Schiller sind noch immer Entdeckungen zu machen, die dazu beitragen können, hinter der scheinbaren Glätte, sogar plakativen Vordergründigkeit eingängiger Sentenzen in den Dramen auf die Substanz Schillerschen Denkens und Dichtens zu kommen, Schlüssel zu finden, die spezifische klassische Formulierung wichtiger Probleme einer Übergangsepoche zwischen Feudalismus und Kapitalismus in ihrer inneren Spannung, in ihrem Wirklichkeitsgehalt aufzuschließen. [...]
Aus Eike Middell: Erben und Widersprechen. Zum 225. Geburtstag Friedrich Schillers am 10. November 1984, S. 7 ff.
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Artikel | Seite |
Theaterkritik | Seite 1 |
Theaterkritiker zur Saison 1983/84 (I)von Silvia Brendenal, Dieter Kranz, Manfred Zelt, Christoph Funke, Dietmar Fritzsche, Jochen Gleiß, Friedbert Streller, Klaus Klingbeil, Werner Gommlich, Ernst Krause, Klaus Thiel, Ingrid Seyfarth, Leo Berg, Georg Antosch, Georg Menchén, Manfred Schubert, Rolf-Dieter Eichler, Karl-Heinz Löbner, Klaus Büstrin und Herrmann Berger | |
Schiller | Seite 7 |
Erben und WidersprechenZum 225. Geburtstag Friedrich Schillers am 10. November 1984von Eike Middell | |
Kolumne | Seite 8 |
Enthusiasten sind nötigvon Rüdiger Volkmer | |
Schiller | |
Persönlichkeit und politischer VorgangZu Schiller-Aufführungen in der DDR (Berlin, Dresden und Brandenburg)von Jochen Gleiß und Ernst-Frieder Kratochwil | Seite 10 |
Junge Schauspieler spielen SchillerJochen Gleiß im Gespräch mit Dietmar Terne (Karl-Marx-Stadt), Katrin Klein (Deutsches Theater Berlin), Daniel Minetti (Staatssehauspiel Dresden), Martina Schumann / Axel Wandtke (Weimar)von Axel Wandtke, Jochen Gleiß, Daniel Minetti, Dietmar Terne, Katrin Klein und Martina Schumann | Seite 13 |
Neue Stücke | Seite 17 |
Neue Stücke in Rostock»Und am Morgen erwachten sie« von Wassili Schukschin und »Der lange Weg nach Afrika« von Egon Richtervon Manfred Zelt | |
Erstaufführung | Seite 19 |
Wie wird man ein vollkommener Mensch?»Hayavadana oder Die vertauschten Köpfe« von Girish Karnad in Weimar erstaufgeführtvon Bernhard Scheller | |
Inszenierung | Seite 20 |
Historischer Kriminalfall?»Der Tanz des Sergeanten Musgrave« von John Arden am Poetischen Theater Leipzigvon Dagmar Borrmann | |
Regisseure im Gespräch | Seite 21 |
Matthias Frede im Gespräch mit Klaus Wintervon Matthias Frede und Klaus Winter | |
Oper | Seite 23 |
Rollen heißt das Zauberwort»Der Wildschütz« von Lortzing in Dresden-Radebeul, Görlitz und Plauenvon Klaus Büstrin | |
Ballett | |
Kreativität ohne Bruch mit der TraditionDie Wirksamkeit der Internationalen Sommerkurse an der Palucca Schule Dresdenvon Regina Schettler | Seite 25 |
... so interessant wie das LebenGespräch mit Patricio Bunstervon Regina Schettler und Patricio Bunster | Seite 29 |
SaludZum Choreographen Patricio Bunstervon Eva Winkler | Seite 31 |
Kostümbild | Seite 32 |
Kostümbild in der Theaterarbeitvon Gunter Kaiser | |
Hinter der Bühne | Seite 36 |
Ausbildung für WundertäterDas gab's früher nicht - Lehrwerkstätten amTheater (41)von Günther Bellmann | |
Regisseure im Gespräch | Seite 37 |
Silvia Brendenal im Gespräch mit Ingrid Fischervon Silvia Brendenal und Ingrid Fischer | |
ČSSR | Seite 40 |
Eine Theaterwoche in PragSechs Abende im Nationaltheater, S. K. Neumann-Theater, Theater am Geländervon Ingeborg Knauth | |
Ungarn | Seite 42 |
Magyarische ImpressionenBeobachtungen bei einem Budapester Festivalvon Jochen Gleiß | |
Frankreich | Seite 45 |
Festival der Widersprüche»Theater der Nationen« 1984 in Nancy, Metz und Epinalvon Dieter Kranz | |
Zum Stückabdruck | |
»Kunst hat zu ermutigen«Bemerkungen zu »Der neue Prozeß« von Peter Weissvon Jochen Ziller | Seite 49 |
Die unmerkliche Vergewaltigung des Josef K.von Axel Richter | Seite 51 |
Stückabdruck | Seite 52 |
Der neue ProzeßStück in drei Akten - Franz Kafka gewidmetvon Peter Weiss | |
TdZ-Informativ | Seite 65 |
UNIMA XIVvon Silvia Brendenal | |
Appell des XIV. UNIMA-Kongresses | |
Inland | Seite 66 |
TdZ-Informativ | Seite 66 |
Neues Haus mit alten Traditionenvon Nachrichtenagentur der DDR ADN | |
Inland | |
Urlaubsreif - doch lernbegierigVier junge Opernsängerinnen beim XXV. Internationalen Musikseminar in Weimarvon Heinz Stade | Seite 67 |
Briefe, Fragmente und Stücke (Schiller)von Nachrichtenagentur der DDR ADN | Seite 68 |
Personelles | Seite 68 |
Unterwegs | Seite 69 |
Ausland | |
Theater und Humanwissenschaftenvon Ernst Schumacher | Seite 70 |
Leningrader Ballett-Impressionenvon Wolfgang Staerkenberg | Seite 71 |
Neues vom rumänischen Theatervon Mărgaretă Bărbuţă | Seite 72 |
Budapester Oper neuvon Nachrichtenagentur der DDR ADN | Seite 72 |
Siegfried-Wagner-Uraufführungvon Wilhelm Hübner | Seite 72 |
Berichtigung | Seite 72 |
Zum Beitrag »Der Unterlegene gewinnt« (S. 31)von Dietmar Fritzsche | |
Bücher | Seite 73 |
Das große Brecht-Lieberbuch. Herausgegeben und kommentiert von Fritz HennenbergHenschelverlag Berlin 1984, 3 Bände, 516 Seiten, 120,- Mvon Wolfgang Lange | |
Oper heute. Ein Almanach der Musikbühne 7. Hgg. von Horst Seeger und Mathias RankHenschelverlag Berlin 1984, 245 S., 18,- Mvon Dietmar Fritzsche | |
Barbara Meffert: Welt der PantomimeHenschelverlag Berlin 1984, 280 Seiten, 35,- Mvon Eva-Maria Otte | |
Jürgen Groß: StückeHenschelverlag Berlin 1984, dialog Reihe, 253 S., 6,- Mvon Hans-Rainer John | |
Spielpläne | Seite 74 |
Vom 16. Oktober bis 15. November 1984 | |
Premierenkalender | Seite 75 |
Vom 16. Oktober bis 15. November 1984 | |
Besetzungen | Seite 76 |
Ur- und Erstaufführungen / Schauspiel / Musiktheater | |
Autoren | Seite 79 |
Impressum | Seite 79 |
Inhalt | Seite 80 |
Georg Antosch
Mărgaretă Bărbuţă
Günther Bellmann
Leo Berg
Herrmann Berger
Dagmar Borrmann
Silvia Brendenal
Patricio Bunster
Klaus Büstrin
Rolf-Dieter Eichler
Ingrid Fischer
Matthias Frede
Dietmar Fritzsche
Christoph Funke
Jochen Gleiß
Werner Gommlich
Wilhelm Hübner
Hans-Rainer John
Gunter Kaiser
Katrin Klein
Klaus Klingbeil
Ingeborg Knauth
Dieter Kranz
Ernst-Frieder Kratochwil
Ernst Krause
Wolfgang Lange
Karl-Heinz Löbner
Georg Menchén
Eike Middell
Daniel Minetti
Nachrichtenagentur der DDR ADN
Eva-Maria Otte
Axel Richter
Bernhard Scheller
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Manfred Schubert
Ernst Schumacher
Martina Schumann
Ingrid Seyfarth
Heinz Stade
Wolfgang Staerkenberg
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