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Heft 03/1995
Heiner Müller in Hollywood
Broschur mit 96 Seiten, Format: 215 x 285 mm
ISSN 0040-5418
Dieses Heft ist leider vergriffen und nur noch als PDF erhältlich.
Der Traum beginnt in einem Café mit zwei gegenüber liegenden Eingängen in der Form von Torbögen oder Kirchenportalen. Es nimmt die ganze untere Etage eines alten Hauses ein. Das Haus steht in der Nähe des Theaters, in dem ich gelegentlich arbeite. Ich sitze mit dem Regisseur L.B. an einem der runden Tische. B. ist heiter, wie immer in Gesellschaft, ein Herr über seine Krankheit, sie beschleunigt sein Leben statt seinen Tod: er spielt mit ihr. Er bestellt ein Getränk, das ich nicht kenne, dunkelbraun und schwer. Drei junge Männer mit leeren Gesichtern setzen sich wortlos an unsern Tisch und starren uns an. Ihre Augen haben den verdeckten Blick des Eingeborenen der Diktatur. Nach einem Blickwechsel mit den andern redet einer mich an. Er gibt vor mich zu kennen. Er kommt aus einem Viertel, in dem ich lange Zeit gewohnt habe.
Ich kann mich nicht erinnern, ihn gesehen oder von ihm gehört zu haben. Er gibt sich als Komponist aus. Jedenfalls hat er die Fähigkeit, über Musik zu reden. Ob es ihn interessiert, ist nicht auszumachen. Sein Gesicht belebt sich, wenn er spricht. Mich ärgert seine Vertraulichkeit. Sie versteckt eine Drohung. Sein Blick, wenn er den Vorhang hinter seinen Augen aufzieht, ist die Berührung einer Schlange. Ich kenne den Reptilienblick aus Gesprächen mit Funktionären der Macht und der Geheimpolizei. Die Begleiter des Komponisten gehören eher der Gattung der Lemuren an, die der Volksmund als Spitzel bezeichnet, mit Anspielung auf ihren spitzen Blick. Im Eingang mir gegenüber ist Z. aufgetreten, ein andrer Regisseur, durch Skandal berühmter als B. an meinem Tisch durch Erfolge. Er inszeniert seinen Auftritt mit einem Rundblick über das Lokal, in der Haltung des Strategen, der das Schlachtfeld maßnimmt, auf dem er siegen will. Ich rufe ihn an, eine Gelegenheit, das Gespräch mit dem Komponisten abzubrechen, das mir schon lange lästig ist. Z. ignoriert meinen Anruf, unser Verhältnis ist zur Zeit nicht freundlich, oder überhört ihn über dem Kneipenlärm, und verläßt das Gafe, blicklos an unserm Tisch vorbei, durch den Eingang hinter mir, in Richtung auf das Theater. B., mit Blick auf seinen Abgang, sagt: Er geht zur Probe. Dann holt eine andre Wirklichkeit mich ein. Ich stehe auf einem schmalen Schlammweg zwischen Müll- und Schrotthalden einem der jungen Männer aus dem Gafe gegenüber. Ich erinnere mich jetzt, daß er mir am Tisch eine billige Zigarre angeboten hat, die ich nicht geraucht habe. Als ich ihn frage, wie wir aus dem Gafe in diese Einöde geraten sind, verzerrt sich sein Gesicht zur Kenntlichkeit einer höhnischen Grimasse. Er hebt ein abgebrochnes Brett vom Boden auf, es kann eine Zaunlatte sein, und schwingt es über seinem Kopf. Dabei führt er in dem aufspritzenden Schlamm einen wilden Tanz auf. Dann erstarrt er für Sekunden, sie kommen mir wie Stunden vor, warum laufe ich nicht weg, holt weit aus und schlägt plötzlich zu. Ich kann den Schlag abwehren, aber ein Nagel, der aus dem Brett heraussteht, reißt mir die Handfläche auf. Er lacht, als er mein Blut sieht, sein erster Laut. Beim zweiten Schlag gelingt es mir, ihm das Brett aus den Händen zu reißen. Ich vergesse nicht es umzudrehn und schlage ihm den Nagel in den Kopf. Brüllend reißt er das Brett aus der Wunde, fällt blutend mit dem Gesicht in den Schlamm, der seine Stimme langsam erstickt. [...].
Aus Heiner Müller: Traumtext. Die Nacht der Regisseure, S. 4
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Heiner Müller | |
Das Schweigen des MüllerEin Gespräch von Frank M. Raddatzvon Heiner Müller und Frank M. Raddatz | Seite 2 |
TraumtextDie Nacht der Regisseurevon Heiner Müller | Seite 4 |
Theater in Berlin | |
Ein Spezialist der BalanciertheitEin Gespräch von Friedrich Dieckmannvon Friedrich Dieckmann und Thomas Langhoff | Seite 6 |
OrientierungsproblemeBerliner Notizenvon Martin Linzer | Seite 10 |
Nachdenken ist etwas LangsamesEin Gespräch von Joachim Fiebachvon Joachim Fiebach und Andrea Breth | Seite 14 |
Theater für die KommerzdemokratieEin Gespräch von Christian Rochow und Axel Schalkvon Edward Bond und Christian Rochow | Seite 19 |
Denn wozu singt der Mensch?!Ein Porträt und ein Gespräch von Nora Eckertvon Nora Eckert und Götz Friedrich | Seite 24 |
Kinder- und Jugendtheater | Seite 28 |
Die vielen Farben des TheatersEin Gespräch von Gina Weinkauffvon Brigitte Dethier und Gina Weinkauff | |
Freies Theater | Seite 30 |
Der Weg lohnt sich...ins "Weite Theater" für Puppen und Menschenvon Ingeborg Pietzsch | |
Neue Stücke | |
Vom Glück des ScheiternsSchwerinvon Stefan Grund | Seite 34 |
Techno-Mätzchen und LebenslügenHannovervon Michael Quasthoff | Seite 36 |
Performance | Seite 38 |
Schattenlose SchattenDer japanische Performer Saburo Teshigawaravon Arnd Wesemann | |
Jekaterinburg | Seite 40 |
Der Westen ist am besten, doch der Osten währt am längstenvon Olga Wildgruber | |
Kurzkritiken | |
Spuren hinterlassenVolkstheater Rostock: "Die Stühle. Eine tragische Farce" von Eugène Ionescovon Kathrin Tiedemann | Seite 44 |
Seelenblut im SperrbezirkBremer Theater: "Sterne am Morgenhimmel" von Alexander Galinvon Claudia Petzold | Seite 45 |
Barbie und FrankDeutsches Schauspielhaus in Hamburg: "Raststätte oder Sie machens alle" von Elfriede Jelinekvon Kathrin Tiedemann | Seite 46 |
Kanonen und ButterDeutsches Schauspielhaus in Hamburg: "In the Company of Men/Männergesellschaft" von Edward Bondvon Kathrin Tiedemann | Seite 47 |
Dachau DreamsSchauspielhaus Düsseldorf: "Ein Monat in Dachau" von Vladimir Sorokinvon Ulrich Deuter | Seite 48 |
Gewalt-StudieTheater Heilbronn: "Hungrige Herzen" von Michael Wildenhainvon Gisela Ullrich | Seite 49 |
Verratene LiebeStaatstheater Kassel: "Das Kirschgärtchen" von Alexej Slapovskijvon Dagmar Borrmann | Seite 50 |
Bunte SeifenblaseTheater im Depot Stuttgart: "Schwanenweiß" von August Strindbergvon Tilmann Seidel | Seite 51 |
Sibirien in LippeLandestheater Detmold: "Letzten Sommer in Tschulminsk" von Alexander Wampilowvon Martin Linzer | Seite 52 |
Heimat-LosL.O.T. Theater Braunschweig: "eins à Heimat" nach Texten von Günther Anders, Otto Friedrich Bollnow, Reinhard P. Gruber und Graciela Gonzales de la Fuentevon Michael Quasthoff | Seite 53 |
Schnöde neue WeltTheater Waidspeicher Erfurt: "Bitte genial": Maria-Elisabeth Wey, Fritz Bauer, Nils Dreschke, Peter Förster, Lars Frank, Andreas Günther, Paul Olbrich, Stefan Weyvon Hartmut Mechtel | Seite 53 |
Alt(?)deutsche LegendeSchauspielhaus Chemnitz: "Genovefa" von Peter Hacksvon Martin Linzer | Seite 54 |
Mutterschaft als KarriereknickDeutsch-sobisches Volkstheater Bautzen. "Medea-Monolog" von Michael Hewelvon Olga Wildgruber | Seite 55 |
Er ist wieder daStaatstheater Cottbus/Uckermärkische Bühnen Schwedt: "Ein seltsamer Heiliger oder Ein irrer Duft von Bibernell" von Rudi Strahlvon Martin Linzer | Seite 55 |
SlapstickTheater Nordhausen: "Die jüngste Nacht" von Arnolt Bronnenvon Harald Müller | Seite 56 |
SelbstbehauptungBühnen der Stadt Gera: "Fegefeuer in Ingolstadt" von Marieluise Fleißervon Kathrin Tiedemann | Seite 57 |
Mißratene JugendAkademietheater Wien: "Die Schattenlinie" von Tankred Dorstvon Wolfgang Huber-Lang | Seite 58 |
Requisitenspektakel über KriegVolksbühne Berlin/Choreographisches Theater: "Ernst Jünger" von Johann Kresnikvon Dietmar Fritzsche | Seite 59 |
Getanzter AußenseiterAnhaltinisches Theater Dessau: "Othello und Desdemona" von Arila Siegert/Gerald Humelvon Dietmar Fritzsche | Seite 60 |
Die Welt eine blutige BühneStaatsoper Stuttgart: "Macbeth" von Giuseppe Verdivon Nora Eckert | Seite 61 |
Rettung durch das WortBielefeld. "Der Sturz des Antichrist" von Viktor Ullmannvon Nora Eckert | Seite 61 |
TreppenspielFreiburg: "Simone Boccanegra" von Giuseppe Verdivon Nora Eckert | Seite 62 |
Katastrophen des AlltagsOpernhaus Leipzig: "Eugen Onegin" von Peter Tschaikowskivon Nora Eckert | Seite 63 |
Es war einmal...Opernhaus Zürich: "Die Frau ohne Schatten" von Richard Straussvon Nora Eckert | Seite 64 |
Premierenkalender | Seite 66 |
März / April 1995 | |
Spanien | |
Theaterland SpanienKonrad Zschiedrich im Gesprächvon Ingeborg Pietzsch und Konrad Zschiedrich | Seite 68 |
Immer noch politisches Theater?Autorenkommentar zu "Vor dem Abriß"von José Sanchís Sinisterra | Seite 71 |
Stück | Seite 72 |
VOR DEM ABRISS - Eine Geschichte ohne EndeOriginaltitel: El cerco de Leningrado - Historia sin final. Aus dem Spanischen von Maite Prieto Alonso und Gotthardt Schönvon José Sanchís Sinisterra | |
Bücher | Seite 88 |
Reclams Kindertheaterführer. Hg. v. Kinder- und Jugendtheaterzentrum i. d. Stuttgart 1995, 378 S., 42 Abb.von Ingeborg Pietzsch | |
Christa Ludwig: Und ich wäre so gern Primadonna gewesen. Erinnerungen. Henschel Verlag Berlin 1994, 287 S.von Nora Eckert | |
Stefan Kuntz: Freie Theater. Tips. Bundesverband Freier Theater e. V. Herne 1994von Kathrin Tiedemann | |
Magazin | |
Tanzmesse NRW, die erstevon Evelyn Dörr | Seite 90 |
E kulturjor fir alle mënschvon Martin Linzer | Seite 90 |
Internationales Symposium: TheaterFremdeKunst / Kunstkritik im Wandel... /von Ingeborg Pietzsch | Seite 91 |
Abschied vom Großen Buddha des Theatersvon Ernst Schumacher | Seite 92 |
Bis in das Jahr 2000 hinein...von Ingeborg Pietzsch | Seite 92 |
Lendentuch aus Feuervon Ludger Tabeling | Seite 93 |
Meldungen | Seite 93 |
Kulturpolitik | Seite 95 |
Kultur gibt's nicht zum Nulltarif!von Helga Trüpel | |
Autoren | Seite 96 |
Impressum | Seite 96 |
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