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Belebte Geisterstadt

Nach dem Abzug der U.S. Army aus der Stadt begibt sich das Heidelberger Theater beim Spektakel „Born with the USA“ auf eine Spurensuche der vergangenen 68 Jahre

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„Heidelberg wollen wir schonen, denn wir wollen dort mal wohnen.“ Der Legende nach wurde der Grundstein für einen der zahlreichen Militärstützpunkte, die die Amerikaner nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland installierten, schon zu Kriegszeiten gelegt. Ab 1952 befanden sich im baden-württembergischen Neckaridyll neben der Nachrichtenkaserne mit dem U.S. Hospital, Mark Twain Village und Patton Barracks auch das europäische Hauptquartier der United States Army. Für Ed Matthiessen, einen Opernsänger aus Texas, war diese Stadt in der Stadt das Zuhause fern der Heimat, sein kleines „Idealamerika“, in dem er als Laienchorleiter tätig war. Elfie Thompson, deutsche Ehefrau eines amerikanischen Offiziers und Angestellte in einer Controlling-Abteilung, erinnert sich indes an das Misstrauen, das ihr und den anderen Deutschen von den amerikanischen Kollegen nach den Ereignissen vom 11. September 2001 entgegengebracht wurde. Der Abzug der U.S. Army aus Heidelberg nach 68 Jahren markierte im Sommer vergangenen Jahres nicht nur einen Einschnitt in Elfies und Eds Biografien, sondern auch im Erscheinungsbild der Stadt:

180 Hektar umfasst die brachliegende Geisterstadt, die nun städtische Konversionsfläche ist. Was für eine schlagende Idee des Theaters, sich einen Teil dieses Areals im Schwellenzustand zwischen Nichtmehr und Noch-nicht künstlerisch anzueignen!

Ein Vorbild für das, was im Rahmen der Stadttheaterdebatte immer gefordert wird: eine intensive, kreative Verzahnung von Theaterbetrieb und Stadtgesellschaft. 

Neben Ed und Elfie konnte das Theater 18 weitere Zeitzeugen gewinnen, um die je 30-köpfigen Zuschauergruppen über das Gelände des Militärhospitals und durch das sechsstündige spartenübergreifende und bildungsintensive „Born with the USA“-Theaterspektakel zu führen. Die Ausstellung „Spurensuche“ und die musikalische Lesung „Das Glimmen der Röhren“ fokussieren Kriegsende, Heidelberger Brückensprengung sowie Ankunft des „milden Sie- gers“. Mit der Inszenierung von Kerstin Spechts kritischem Volksstück „Amiwiesen“ rücken dann die Nachkriegsjahre am Beispiel der Witwe Anna in den Blick, die nach einer gescheiterten Affäre mit einem G.I. und erniedrigenden Dienstjahren zur Mörderin und Kindesentführerin wird. In Lothar Kittsteins Auftragsstück „Underground“, das raumspezifisch für die unterirdischen Gänge des Krankenhauses entwickelt wurde, wird der Zuschauer mit den düsteren Wahrnehmungswelten von Kriegsveteranen konfrontiert. Die Gesellschaft, in die sie zurückkehren, ist für sie ebenso unbewohnbar wie für uns jene übelriechenden dunklen Kellernischen. Im Assoziationsgehalt ähnlich finster, aber in der Umsetzung um ein Vielfaches poetischer nimmt sich „60 Seconds“ der niederländischen Choreografin Nanine Linning im zwölf Meter langen Krankenhausflur aus und gehört – neben dem bereits im Juli uraufgeführten, auf Interviews basierenden visuellen Raumessay „Conversion_1“ der costa compagnie – zum Eindrücklichsten des Gesamtparcours.

Unterhaltsames Reflektieren über die eigene Sozialisierung mit amerikanischer Popkultur ermöglichen das Filmkonzert „Golden Days“ und die Abschlussparade „O when the Saints“. In der Gegenwart angekommen, stellt Caro Thum in ihrer deutschsprachigen Erstaufführung von Tim Prices preisgekröntem Stück die titelgebende „Radikalisierung Bradley Mannings“ infrage. Wodurch äußert sie sich? Dass er gegen Vater, Armeedrill und Schwulenfeindlichkeit opponiert? Dass er es für richtig hielt, die Öffentlichkeit über unrechtmäßige Militäraktionen der US-Regierung zu informieren? Während auf der Leinwand das „Collateral Murder“-Video projiziert wird (in dem man sieht, wie die US-Luftwaffe 2007 Journalisten und irakische Zivilisten in Bagdad erschießt), das von Manning (neben einem Konvolut Depeschen US-amerikanischer Botschaften) 2010 an WikiLeaks weitergegeben worden sein soll, synchronisiert das Ensemble den Dialog der Schützen, der wirkt, als hätten sie sich in einem Computerspiel verirrt. Dazu ertönt Lady Gaga. Ihr Double Elena Nyffeler, im sexy Dress die Publikumsarena entlangschreitend, zieht die Aufmerksamkeit vom Video ab und animiert zu perfider Partystimmung. Ein radikal wirksamer Moment, der (nicht nur) das deutschamerikanische Verhältnis bei den kulturkritischen Wurzeln packt. //

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