Protagonisten

Bekenntnis zur Banlieue

Am Stadtrand von Wien fusionieren die beiden Theaterorte Garage X und Palais Kabelwerk zum neuen Werk X

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„Achtung! Sie verlassen jetzt die Innenbezirke von Wien!“ – So steht es zur Warnung auf den zitronengelben Zündholzschachteln, die das Werk X an sein Publikum ausgibt. Vom Stephansplatz in Wiens Stadtmitte sind es immerhin zehn U-Bahn-Stationen hinaus in das ehemalige Meidlinger Kabelwerk, wo zu Beginn der Spielzeit Ali M. Abdullah und Harald Posch mit ihrem Theater, dem Werk X, Quartier bezogen haben. Die U-Bahn-Haltestelle Tscherttegasse – kaum einer kannte sie bisher – ist nun das Revier der beiden Regisseure und künstlerischen Leiter. Ein neuer alter Theaterort zwischen Schrebergärten und Schnellbahngeleisen, inmitten einer Asphaltinsel mit kleiner Infrastruktur aus Dönerbuden, Cafés und Bars.

Wutbürger, wo seid ihr? – Die „Proletenpassion 2015 ff.“ (hier mit Claudia Kottal) rüttelt an den heutigen, von ewigem Konsum betäubten Herzen. Foto Yasmina Haddad
Wutbürger, wo seid ihr? – Die „Proletenpassion 2015 ff“ (hier mit Claudia Kottal) rüttelt an den heutigen, von ewigem Konsum betäubten Herzen. Foto Yasmina Haddad

Meidling, der 12. Wiener Gemeindebezirk, symbolisiert eine standhafte Arbeiterkultur, die heute allerdings – wie andernorts auch – mehr Mythos denn Realität ist. Nur das österreichweit berühmte Meidlinger L, eine auf einem lockeren Zungenschlag beruhende und mutmaßlich von tschechischen Einwanderern importierte Sprechweise, behauptet sich weiter. Das Meidlinger L besitzt sogar einen eigenen Wikipedia-Eintrag. Zum Arbeiterbezirk gehören heute auch neue Stadtteile. Auf dem Fabrikgelände der 1997 geschlossenen Kabel- und Drahtwerke AG, kurz Kabelwerk, entstanden Wohnanlagen. Inmitten dieser: ein großer, vierstöckiger Neubau mit zwei technisch hochmodern ausgestatteten Bühnen, die zusammen 600 Sitzplätze bieten. Auch drei Künstlerwohnungen gehören dazu.

Hier wurde in den vergangenen Jahren ein „niederschwelliges soziokulturelles Projekt“ betrieben, doch auch die Hochkultur hielt Einzug. Die Wiener Festwochen nutzten den Standort. Schon während der Bauphase war hier Peter Steins Mammut-„Faust“ samt Gastrolandschaft aufgebaut, doch hing dieser kurzzeitig Palais Kabelwerk genannte Veranstaltungsort ein wenig in der Luft. Bis Abdullah und Posch zuschlugen.

Die Garage X, ihre ab 2009 betriebene Vorgängerbühne am Petersplatz (sie hat ebenfalls zwei Säle mit jedoch nur insgesamt 230 Sitzplätzen), war zu klein geworden. Die Ideen sprengten die räumlichen Kapazitäten der innerstädtischen Kellerbühne. So entstand aus der Fusion von Garage X und dem Palais Kabelwerk das Werk X. Erhalten blieb der Gedanke des Kulturzentrums, und zwar in Form eines Theaterlabors, das sich diverCITYLAB nennt und von der Schauspielerin und Regisseurin Asli Kişlal geleitet wird. Das Jahresbudget beträgt nun 1,45 Millionen Euro. In der Garage X, die den Beinamen Eldorado erhielt, kuratieren Abdullah und Posch aber weiterhin einen Spielplan mit freien Gruppen. Zudem werden hier die im diverCITYLAB entwickelten Arbeiten präsentiert. Viele Möglichkeiten ergeben sich also aus diesem den Stadtrand mit dem Zentrum, das Stadt- und Staatstheater mit der freien Szene verbindenden Bühnenkonglomerat. Kritiker aber meinen, das Konzept marginalisiere die freie Szene, da sie von Großproduktionen verdrängt werde. Das Kabelwerk war stets ein Zankapfel der Wiener Stadtpolitik; bis zuletzt sprachen sich auch die im Zuge der Wiener Theaterreform vom Kulturamt eingesetzten Theaterjuroren gegen eine Zusammenlegung von Kabelwerk und Garage X aus, durchgesetzt wurde sie dennoch. Ob das Kabelwerk als regulärer Theaterstandort mit Vollbetrieb taugt, wird sich erst erweisen. Denn Ali M. Abdullah und Harald Posch haben kein Vorstadttheater für den Gemeindebau im Sinn, sondern weiterhin ihr studentisches, intellektuelles Publikum im Auge, „progressives Sprechtheater“, so Abdullah. „Wir machen hier keine Bezirksfestwochen!“

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