Thema

Der Fall Europa

Eine Gegendarstellung. Der iranische Regisseur Amir Reza Koohestani über seinen „Kirschgarten“ am Theater Freiburg und die Zensur im Kopf im Gespräch

von und

Amir Reza Koohestani, Sie haben kürzlich am Theater Freiburg Tschechows „Kirschgarten“ inszeniert – als Uraufführung, denn Sie haben das Stück komplett überschrieben. Erzeugt das Überschreiben eines russischen Dramas auf Farsi durch einen iranischen Regisseur für eine Aufführung in Deutschland eine besondere Reibung?
Nein. (lacht) Nur in den Köpfen der Leute. Eine Woche vor der Premiere wurde ich von einem Journalisten gefragt, was mein politischer Ansatz sei. Ich antwortete, mein politischer Ansatz ist, keinen politischen Ansatz zu haben. Nicht weil ich keinen hätte, aber ich wollte einfach die Definition von politischem Theater und die Erwartungen an mich unterlaufen – etwa dass ich als Regisseur aus Iran verschleierte Frauen auf der Bühne haben sollte und über Extremisten und Selbstmordattentäter spreche.

Im Chaos Culture Club – Amir Reza Koohestanis „Kirschgarten“ am Theater Freiburg zeigt die Orientierungslosigkeit einer zutiefst gespaltenen Gesellschaft. Foto Birgit Hupfeld
Im Chaos Culture Club – Amir Reza Koohestanis „Kirschgarten“ am Theater Freiburg zeigt die Orientierungslosigkeit einer zutiefst gespaltenen Gesellschaft. Foto Birgit Hupfeld

Wie also demnächst in München, wo Sie im März 2018 an den Kammerspielen „Die Attentäterin“ nach dem Roman der algerischen Schriftstellerin Yasmina Khadra inszenieren?
(lacht) Ja genau, aber selbst wenn ich mich diesen Themen widme, möchte ich über die andere Seite der Geschichte sprechen. So wie 2016 in „Der Fall Meursault“ an den Münchner Kammerspielen …

… nach dem Roman des algerischen Autors Kamel Daoud, eine Gegendarstellung zu Albert Camus’ „Der Fremde“. Der Roman wurde in Europa als antikoloniales Manifest gelesen, da Daoud kritisiert, dass die Araber in Camus’ „Der Fremde“ nicht einmal Namen hatten. Anders als diese sehr eindeutige Lesart warf Ihre Inszenierung den Zuschauer, was Fragen zum Kolonialismus, zum Islam, zur Literaturrezeption in Europa anging, regelrecht hin und her.
Genau. Aber noch viel mehr gilt das für „Die Attentäterin“. Mich interessiert nicht, was die westlichen Massenmedien rauf- und runterbeten. Das Bild des „bösen“ oder „fremden“ nichtweißen Terroristen zu reproduzieren führt zu der gleichen Politik, die bislang im Mittleren Osten praktiziert wurde: Tötet sie alle. „Die Attentäterin“ ist eine mission impossible: Ich will zeigen, dass Extremisten, die bei ihren terroristischen Attentaten in Kauf nehmen, auch Kinder zu töten, uns nah sein können. Was verleitet sie dazu? Es wäre zu leicht, sie als Aliens zu bezeichnen, die von einem anderen Planeten kommen.

Solche Fragen wollen sich die Figuren in Ihrem „Kirschgarten“ lieber gar nicht stellen. Sie leben auf einer Insel der Seligen, sagen wir Deutschland, und sind viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um zu erkennen, wie radikal die Gesellschaft auseinanderbricht. Der Kirschgarten ist ein Klub namens Cherry Orchard. Zunächst war es eine Bar für die Arbeiter der inzwischen stillgelegten Kohlemine. Später veranstalten die Betreiber Mottopartys, um auch andere Gäste anzulocken. Als aber vermehrt Schwule den Klub bevölkern, verlassen die Arbeiter den Raum. Worin liegen die Herausforderungen, eine Gesellschaft zu analysieren, in der man selbst nicht aufgewachsen ist oder lebt?
Ich bin kein Experte in deutscher oder europäischer Politik, aber ab und zu lebe ich hier, lese Zeitungen, spreche mit hiesigen Freunden. Niemand weiß, wie man auf den Rechtsruck in der Gesellschaft reagieren soll. Es war ja zuallererst ein demokratischer Prozess, Leute haben gewählt, und sie haben das Recht dazu. Wenn man Parteien wie die AfD beschneidet, handelt man gegen eine der Hauptsäulen der Demokratie. Also was tun? Es herrscht Chaos.
Tschechow selbst war zu seiner Zeit in Russland ebenfalls von drastischen politischen Veränderungen umgeben, wollte in seinem Stück aber nicht über Politik sprechen, jedenfalls nicht an der Oberfläche. Er zeigt seine Charaktere in alltäglichen Situationen. Hin und wieder sprechen sie über Politik, Philosophie, aber nicht als eine Botschaft, eher liegt das Politische in der Textur der Dialoge. Denn über Politik zu sprechen, macht ein Stück nicht politisch. Unser politisches Umfeld heutzutage ist viel komplizierter, als dass man es auf eine einfache Botschaft reduzieren könnte. Eigentlich ist es egal, wer auf welcher Seite steht. Was die Lage wirklich kompliziert und frustrierend macht, ist, dass wir völlig orientierungslos sind und nicht wissen, wie wir reagieren sollen. Dieses Chaos wollte ich im „Kirschgarten“ zeigen.
Wir haben immer noch ein Grundstück, den Klub, also Eigentum, das die einen ausbeuten und die anderen bewahren wollen. Der Grund, warum die Figuren im Stück den „Garten“ verlieren, ist nicht der, dass sie Schulden haben. Es sind die unterschiedlichen Wünsche, die ein jeder auf den „Garten“ projiziert – ähnlich der politischen Situation, in der wir leben. Eine Partei sagt, wir sollen die Flüchtlinge aufhalten, eine andere sagt, wir brauchen sie für die Wirtschaft, jeder will auf den anderen Einfluss nehmen, ihn zwingen, seinen Standpunkt zu akzeptieren. Wir sprechen immer über Diversität und Demokratie, in der jeder seine Meinung äußern kann, aber plötzlich fangen Leute an, die Meinungen anderer zu beschneiden, weil sie für die Gemeinschaft gefährlich sein könnten.

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