Protagonisten

Mensch Myer!

Eine Entdeckung zum 25. Todestag – Heiner Müllers bislang unveröffentlichtes Drehbuch-Exposé „Myer und sein Mord“ fürs DDR-Fernsehen

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Foto David Baltzer (Heiner Müller) / spyrakot- stock.adobe.com (Fernsehgeräte)
Foto David Baltzer (Heiner Müller) / spyrakot- stock.adobe.com (Fernsehgeräte)

Schon lange, bevor der Sendebetrieb des DDR-Fernsehens am 31. Dezember 1991 eingestellt wurde und die Büros entsprechend dem Einigungsvertrag bereits aufgelöst waren, hatte ein Hefter mit Texten Heiner Müllers das Fernsehzentrum in Berlin Adlershof verlassen. Es handelte sich um 29 nicht datierte und vom Autor nicht gezeichnete Typoskriptseiten, unveröffentlicht und bislang in der umfangreichen Sekundärliteratur zu Heiner Müller nicht behandelt.

Christa Vetter, die den Hefter bewahrte und seinerzeit an sich nahm (er wäre wohl sonst im Müll gelandet), war in den 1960er Jahren Dramaturgin für Fernsehspiele beim Fernsehen der DDR und zuvor am Berliner Maxim Gorki Theater tätig ge­wesen, wo sie Arbeiten von Müller betreut hatte. Das Konvolut umfasst insgesamt 15 Texte in unterschiedlicher Ausführung, vom ausgeschriebenen Treatment bis zur knappen Skizze als vermut­licher Stoffprobe: Entwürfe für kleine Fernsehspiele beziehungsweise eventuelle Literaturverfilmungen.

Diese Entwürfe schrieb Heiner Müller in den Jahren nach 1961 offenbar als Auftragsarbeiten. Der biografische Hintergrund sind die Hungerjahre nach dem Ausschluss aus dem Schriftstellerverband. Kulturgeschichtlich kommt die planvoll vermehrte Produktion von Fernsehspielen im Deutschen Fernsehfunk ­Anfang der sechziger Jahre hinzu, als Stoffe für das noch junge Medium gefragt waren: für Müller ein wohl wichtiger anonymer Broterwerb in der Beauftragung durch Christa Vetter.

Stofflich haben die 15 Entwürfe wenig bis gar nichts mit Müllers bis dahin entstandenem Werk zu tun und dürften zwar keine besonders komplizierte, aber doch ungewöhnliche Aufgabe für ihn dargestellt haben. Trotzdem gibt es Bezüge zu späteren Arbeiten zu entdecken.

Das am besten und ausführlichsten gestaltete Treatment „Myer und sein Mord“ behandelt die Rolle des Fernsehens selbst in Form einer Parabel: Der Hauptfigur, einem kleinen Angestellten in London, wird nach der Anschaffung eines Fernsehgeräts die Frau fremd, da diese sich in den Moderator einer Ratgeber­sendung verliebt und den Gatten vernachlässigt. Dieser plant, nachdem er vergeblich das Äußere des Fernsehstars zu imitieren versucht hatte, den Mord am Moderator. Der wiederum stirbt ­vorher von selbst an einer Alkoholvergiftung. Und zwar – Verwechslung von Präsenz und vermeintlichem Live-Charakter des Mediums – noch bevor seine letzte Sendung zu sehen ist. In einer finalen Wendung wiederholt sich die Ausgangssituation, denn die Frau verfällt auch dem seinem Vorgänger ähnlichen Nachfolger des Moderators. Das Fernsehen selbst stellt gleichsam sein eigenes Problem dar.

In der „Hamletmaschine“ wird Heiner Müller später ­schreiben: „Fernsehen der tägliche Ekel am verordneten Frohsinn.“ „Myer und sein Mord“ ist der einzige Entwurf für ein Original-Drehbuch in diesem Konvolut und ähnelt in seiner Lakonie und seinem bösen Witz Müllers frühen Prosastücken wie „Der Bankrott des großen Sargverkäufers“, geschrieben 1951. Das Treatment muss jedenfalls zum Werk gerechnet werden.

Alle anderen Entwürfe verarbeiten Welt-Literatur (Poe, Mérimée, O. Henry, Hawthorne, Twain, Hašek) und den heute unbekannten Arthur Rundt, einen deutschen Amerika-­Emigranten. Einmal mehr wird also die Stoffbeute in der ameri­kanischen Literatur deutlich, die Heiner Müller hier für noch Kommendes ­sammelt. Darüber hinaus dürfte die erzählerische Raffung von komplexen Geschichten als Erfahrung in sein Schreiben mit eingegangen sein.

Vom Fernsehen indes wurde kein einziges Projekt weiter vorangetrieben. Im hier faksmilierten Myer-Typoskript sind die Korrekturen ganz offensichtlich von Heiner Müllers Hand. //

Mit Dank an Wolfgang Rindfleisch

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