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Neue Intendanz!

Der Komponist Trond Reinholdtsen über die Norwegian Opra, die Krise der zeitgenössischen Musik und seine Arbeiten mit Vinge/Müller im Gespräch mit Harry Lehmann und Christine Wahl

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Herr Reinholdtsen, Sie arbeiten an der Zukunftsmusik! Sie entwickeln großformatige philosophische Opernprojekte, in denen die Musik vollständig mit virtuellen Instrumenten eingespielt wird. Im April kommen Sie zum Tonlagen-Festival nach Dresden-Hellerau. Was werden Sie dort zeigen?

Es geht um eine seltsame, mystische Gruppe von Verlierern und Ausgestoßenen aus dem Lumpenproletariat, dem Prekariat und den deplorables. Sie nennen sich „Die Follower von Ø“ und werden ihr affirmatives Agitprop-Oratorium „Zu den Waffen! Zu den Waffen!“ aufführen. Für die (wenigen) unter Ihnen, die den Hintergrund nicht kennen: „Die Follower von Ø“ sind hyperbegeisterte und manchmal etwas radikalisierte Zuschauer, die sich sehr oft meine Youtube-Filmreihe „Ø“ anschauen und sie zu interpretieren versuchen.

Ein Teil dieser „Ø“-Serie war 2018 auf der Münchener Biennale, dem Festival für neues Musiktheater, zu erleben: Trollartige ­Wesen mit Bauschaumköpfen sangen mit großer Inbrunst Schlüsselsätze aus der Philosophie.

Die Protagonisten der „Ø“-Filme haben sich freiwillig und komplett von der Bürokratie, der Dekadenz, dem digitalen Lärm und überhaupt der ganzen Idee eines „Außen“ isoliert. Sie nennen es „das System“ und haben sich vor ihm in einem entlegenen schwedischen Dorf im Keller verbarrikadiert. Dort planen sie „Das Ereignis“, eine mystische Aktion von weltveränderndem Ausmaß. Leider sind ihre vorbereitenden Recherchen, ihre philosophischen und politischen Überlegungen, ihre methodischen Experimente in Kunst und Alchemie in eine zentripetale, halb ­inzestuöse Sackgasse geraten; ihr „Projekt“ hat sich ein ­wenig in der Theorie verloren.

Und die Fans der „Ø“-Filme – die „Follower von Ø“, die jetzt zum Tonlagen-Festival kommen – sind praxisbegabter?

Ja, sie möchten die Botschaft von „Ø“ direkt in die Welt hinaustragen. Sie wollen die konkrete Aktion und beginnen in Dresden-Hellerau ihre missionarisch-militante Guerilla-Propagandatour.

Als Komponist von Vegard Vinge und Ida Müller sind Sie ein bekannter Unbekannter in der Berliner Theaterszene. Sie haben für „John Gabriel Borkman“ (2011) und das „12-Spartenhaus“ (2013) im Prater der Volksbühne sowie das „Nationaltheater Reinickendorf“ (2017) bei den Berliner Festspielen nicht nur die Musik komponiert und den Sound kreiert, sondern auch sämtliche Stimmen selbst eingesungen. Wie kam es zu der Zusammenarbeit mit Vinge und Müller?

Der berühmte Komponist Lars Petter Hagen hat uns zusammengebracht; er fand, das könnte gut passen. Vegard und Ida hatten gerade eine eher kleine Inszenierung von Ibsens „Nora“ in einer Off-Spielstätte in Oslo herausgebracht, die sich als klassischer Skandalerfolg erwies und das Gesprächsthema innerhalb der Künstlerszene war. Ich habe die Aufführung selbst nicht gesehen, da sie nie öffentlich beworben wurde und ich mich nicht in der Internetdschungelschleife befand. Aber die Gerüchte besagten, dass Vegard und Ida drei Tage vor der Premiere sämtliche Schauspieler gefeuert und beschlossen hätten, alle Rollen selbst zu spielen. Ich hatte also von ihnen gehört, und uns war schnell klar, dass wir von vielen Dingen in der gleichen Weise begeistert sind.

Von welchen denn?

Die Oper ist die eine Sache, die Filmgeschichte und die Berliner Volksbühne sind zwei weitere. Bei unserer ersten gemeinsamen Produktion – „Gespenster“ in Oslo – haben wir uns allerdings ziemlich gestritten. Einer der Schauspieler war fest davon überzeugt, dass wir nie wieder zusammenarbeiten würden. Ich verteidigte damals noch meine modernistischen Wurzeln und bestand an einem bestimmten Punkt darauf, eine ziemlich komplexe, ­dunkelgraue zeitgenössische Musik einzusetzen; eine matschige Klangmasse, die alle Schauspieler deprimierte. Aber da ich das Gefühl hatte, dass sie eine ästhetische Wahrheit repräsentiert, konnte ich nicht nachgeben. Ein anderes Mal flippte ich aus, weil Vegard verlangte, „Gabriel’s Oboe“ zu verwenden, das superkitschige Leitmotiv aus dem Film „The Mission“ – das ultimative Beispiel für seichte „zeitgenössische klassische Musik“. Er wollte es für irgendeine Szene; wahrscheinlich die, in der das komplette Ensemble versucht, sich in Zeitlupe gegenseitig mit Heringen zu bewerfen.

Wie ging der Streit aus?

Es war für mich eine brutale Lektion über die Energien und Effekte des Theaters im Vergleich zum Konzertsaal. Am Ende musste ich zugeben, dass Vegard und Ida immer recht hatten. Das „strukturelle Hören“, von dem Adorno sprach, hat im Theater leider keinen wirklichen Platz. Jetzt möchte ich „Gabriel’s Oboe“ in jeder Szene einsetzen.

Also mission completed! Aber im Ernst: Wie muss man sich die ­Arbeitsteilung zwischen Ihnen, Vegard Vinge und Ida Müller bei einem zwölfstündigen Gesamtkunstwerk wie „John Gabriel Borkman“ vorstellen?

Die Arbeitsteilung ist eigentlich recht traditionell; zumindest, was meine Rolle betrifft. Ich hatte damals oben im Prater eine Art Hölderlin-Turm, wo ich stundenlang allein mit meinem Mikrofon saß und gesungen und geschrien habe. Manchmal komponierte ich kleine Sachen oder stellte längere Sequenzen zusammen. Ich stand völlig außerhalb jedweden Soziallebens in der Produktion – was meinem Persönlichkeitstyp sehr gut entspricht. Vielleicht gab es auch kein Sozialleben – wer weiß? Spätabends ging ich mit meinen neu erstellten Soundfiles runter zur Bühne im Erd­geschoss, und immer war irgendeine neue spektakuläre Szene im Gange, die ich noch nie gesehen hatte.

In den Produktionen mit Vinge und Müller lief jede Aufführung anders ab. Es kursiert das Gerücht, dass für eine Inszenierung bis zu 200 Stunden Material existieren, aus denen dann jeden Abend ein neuer Ablauf zusammengestellt wird. Wie funktioniert das ­genau: Improvisieren Sie, oder wird vorab eine Szenenfolge aus Musik- und Tonspuren kompiliert, die Sie dann abspielen?

Oje, ich sehne mich zurück nach den guten alten Zeiten in Oslo, in denen es überhaupt noch so etwas wie eine Szenenfolge gab – zumindest für die ersten vier Stunden! Jetzt ist es ein einziges Chaos. Jeder ist in ständiger Panik und versucht, auf alles vorbereitet zu sein. Wir auf der „Brücke“, wo die Ton-, Video- und Lichtleute platziert sind, haben ausgeklügelte Techniken entwickelt, wie man es schafft, zwölf Stunden lang nicht zu pinkeln und ohne Zuhilfenahme der Hände zu essen, während man gleichzeitig Klangdateien triggert und parallel versucht, die nächste vage Anweisung des Regisseurs zu entschlüsseln.

Anders als die meisten Ihrer Kollegen schreiben Sie keine klassischen Partituren beziehungsweise tippen Noten in ein Notationsprogramm, sondern komponieren im Medium der Samples. Unterscheidet sich diese Arbeitsweise eigentlich noch von der eines Popmusikers?

Tatsächlich mache ich beides. Ich könnte einen langen Liebesbrief über das Konzept der Partitur verfassen. Aus der Perspektive des Theaters betrachtet, ist meine Beziehung zur Partiturtradition vielleicht das, was meine theatralen Methoden tatsächlich von denen der meisten anderen Regisseure unterscheidet. Das ultima­tive Medium für den Fetisch der strengen Planung ist die Partitur. Alles wird auf einer abstrakten Ebene auf dem Papier – oder besser gesagt im Computer – ausgearbeitet. Gesten, Licht- und Kamera­bewegungen sind bereits komponiert, in eine notierte Zeitstruktur gebracht und als Audioanweisungen, MIDI-Signale und Audio­dateien gespeichert, bevor ich andere zu einem Projekt einlade. Ich benötige also keine langen Gruppenprozesse oder Motivationsgespräche mit Schauspielern. Eigentlich brauchen wir noch nicht einmal Proben.

Sie sprechen hier von dem „Konzept der Partitur“, also der Partitur in einem erweiterten Sinne, einer Art Meta-Aufschreibe­system. Wie verhält es sich aber, wenn Sie ganz konkret die Musik für Ihre eigenen Opernwerke komponieren?

Da verwende ich meist andere Techniken als die akribische Aus­arbeitung einer Partitur in der Notenschrift: Es gibt alberne Improvisationen, algorithmische Programmierung oder Sounddesigns, und das Ganze wird noch heftig am Computer bearbeitet. Alle Episoden von „Ø“ verwenden MIDI-Instrumente, die für das Opernorchester im Orchestergraben einspringen; es ist, als würde man auf dem Recht bestehen, alle Möglichkeiten des superteuren, traditionellen Opernhaus-Apparats zu nutzen. Aber natürlich ­haben die gesampelten Instrumente eine gewisse billige Kitsch-Ästhetik, die ich auch genieße. Paradoxerweise kann diese vorgetäuschte Erhabenheit – man hört ja auch eine Menge falscher Töne – irgendwie hoch expressiv und berührend sein. Ich habe das Gefühl, dass ich mich viel weiter in das traditionelle und ­pathetische Opernschreiben hineinbegeben kann – indem ich zum Beispiel rein tonale Arien komponiere –, wenn die Produk­tionstechniken und der ganze theatrale Apparat eine gewisse hausgemachte Fremdartigkeit besitzen. Ich versuche, eine Art Brecht’schen V-Effekt zu konstruieren, der das Publikum trotzdem ein bisschen manipulieren und verführen kann.

Der „superteure, traditionelle Opernhaus-Apparat“, den Sie erwähnten, führt – und zwar als deren Gegenmodell – geradewegs zu Ihrer Norwegian Opra. Dahinter steckt nicht nur eine um­fassende künstlerische Idee, die Sie bereits 2009 formuliert ­haben und auf die wir gleich zu sprechen kommen werden, ­sondern auch ein konkreter Ort.

Am Anfang befand sich die Norwegian Opra in meinem gemie­teten Wohnzimmer in Oslo, aber 2015 sind wir dann Richtung Osten gezogen; seitdem ist ihr Standort in einem Wald in Schweden. Den Mittelpunkt bildet das „Ø-Haus“, in dem alle „Ø“-Filme produziert wurden. Es wird nach und nach in ein totales Bühnenbild verwandelt und zu einer permanenten Operninstallation umgebaut. In der Nähe haben wir inzwischen aber auch eine Scheune, ein weiteres Haus und vor allem eine große Wiese gekauft, die wir für land art nutzen und auf der wir begonnen haben, avantgardistische Beton-Architektur zu errichten. Es soll eine Opernstadt werden, „Civitas Solis“, die Heimat der „Follower von Ø“.

Dazu gehört auch eine Presseabteilung, die sich in Ihrem Fall „Theorie- und Propaganda-Department“ nennt. Dort heißt es, die Norwegian Opra sei „die Geburt der Oper aus der Krise der zeit­genössischen Musik“. Worin besteht diese Krise?

Das ist, um ehrlich zu sein, eine sehr langweilige Krise. Wen interessiert die schon? Vielleicht ein paar Deutsche. Und mich, natürlich. Es ist eine echte und katastrophale Krise, aber auch eine ermüdende und redundante. Unterm Strich bleibt die Tatsache, dass sich die zeitgenössische Musik in einem traurigen, dunklen Zustand befindet, und ich bin nicht wirklich in der Lage zu analysieren, wie es dazu gekommen ist. Ist es nicht so, dass es der ganzen Szene an Erfindungskraft mangelt, und das schon seit den siebziger Jahren? Als die visuelle Kunst in die Phase der Entmaterialisierung eintrat und ihre Medienspezifität verlor, folgte die Musik nur sehr langsam. Es gab zwar einzelne aufregende Ausbrüche, aber unser geliebtes Genre scheint immer wieder in eine konterrevolutionäre Position zurückzufallen – im Metternich-Stil.

Können Sie diesen musikspezifischen Konservatismus für uns Theaterszenler genauer beschreiben?

Für mich ist die zeitgenössische Musikwelt sehr akademisch, im schlimmsten Sinne des Wortes. Es gibt bestimmte Codes und unausgesprochene Regeln (was manchmal fälschlicherweise als „Handwerk“ bezeichnet wird). Die muss man befolgen, um zu zeigen, dass man zu diesem System dazugehört. Man kann sich eine Partitur anschauen und sofort sehen, ob die betreffende Person ­innerhalb oder außerhalb des Systems der korrekten zeitgenössischen Musik steht. Aber Akademismus ist immer ein Zeichen von Angst – Angst vor der Anarchie der Erfindung, der Neuheit und des Dilettantismus. Deshalb bewachen wir die zeitgenössische Musik mit superstarken Institutionen: mit Akademien, Festivals, Ensem­bles, Orchestern, dem Konzert und den Auftragswerken. Aber In­stitutionen, die von der Logik der Angst getrieben werden, wählen im Ergebnis immer die pragmatischsten Projekte und unterstützen die Werke des geringstmöglichen Widerstands.

In der Tat: eine katastrophale Krise. Wie will die Norwegian Opra da herauskommen?

Der Versuch ist, genau diese institutionellen Koordinaten, also die Infrastruktur der Produktion, infrage zu stellen. Und damit musste ich, logischerweise, ganz allein anfangen: Kein Geld, kein Publikum, alles wurde in meinem Wohnzimmer produziert. Auf existenzieller und persönlicher Ebene war die Krise damit gelöst, alles andere wird sich noch zeigen müssen.

Dem „Theorie- und Propaganda-Department“ zufolge hat die Norwegian Opra viel vor: Sie will eine Art Parallelaktion zu Richard Wagners berühmtem Festspielhaus in Bayreuth sein. Was fasziniert Sie heute an Wagners Idee des Gesamtkunstwerks?

Der Bezug auf Wagner ist, auf seiner grundlegendsten und ­banalsten Ebene, ein Nostalgietrip: eine Sehnsucht nach einer Zeit, in der die Musik im Zentrum der Künste, der Politik und der Philosophie stand und dazu beitrug, die bestimmenden Mythen von Humanität und Fortschritt zu konstruieren und neu zu interpretieren. Das ist die Musik vor der Krise – zumindest ist das ­meine Fantasie. Die Idee des Gesamtkunstwerks wurde – wie die Leser natürlich wissen – auf dem Höhepunkt von Wagners revolutionärer Tätigkeit formuliert, mehr oder weniger während der Flucht aus Dresden, wo er, Bakunin und der Rest der Bande Barrikaden errichtet und gefährliche Pamphlete veröffentlicht hatten. In seinem Text „Die Kunst und die Revolution“, den er ein Jahr nach dem Erscheinen von Marx’ „Kommunistischem Manifest“ verfasste, führt Wagner den Begriff des Gesamtkunstwerks ein und signalisiert damit, dass es eine starke Verbindung zwischen der Idee des Gesamtkunstwerks und dem politischen Aufbruch gibt. Er träumte aber auch von einer Rückbindung an das griechische Drama des Aischylos, wo die Kunst eng mit dem öffentlichen Leben, der Religion und dem Staat verbunden war. Wie Sie sehen, gibt es hier vieles, was überaus faszinierend ist: Ich habe ­natürlich vor, all das zu tun.

Wagner wollte mit seinem „Ring des Nibelungen“ noch einmal ein großes Welterklärungsnarrativ kreieren. Aber haben wir nicht inzwischen in der postmodernen Schule gelernt, dass es keine großen Erzählungen mehr gibt? An welchem Narrativ strickt also die Norwegian Opra?

Als eine meiner vielen halbherzigen und halbgeheimen PR-Aktionen habe ich das Seminar „Die Rückkehr der großen Narrative“ veranstaltet, ohne Publikum und ohne Referenten. Genau genommen bestand es nur aus einem Titel. Aber offiziell sind die Narrative zurück in meiner Welt. Die Wahrheit kommt in Form der Fiktion.

Das müssen Sie erklären!

Meine Sehnsucht nach dem Großen und Erhabenen hat einen provinziellen Hintergrund, nämlich die Situation der zeitgenössischen Musik, über die ich so betrübt bin – mit ihrer nicht enden wollenden Erforschung subtiler Klangfarbendetails, ihren minimalen Differenzierungen in den Spieltechniken und der vollkommen bedeutungslosen Abstufung grauer Klangmassen. Es ist ein Paradies der Kleinlichkeit – von Aischylos so weit entfernt, wie man es sich nur vorstellen kann.
Auf einer eher politischen Ebene hat uns das Narrativ, dass es keine Narrative gibt, notwendigerweise in eine Welt geführt, in der es unmöglich ist, sich eine Alternative zu einer „neutralen“, kapitalistisch organisierten Gesellschaft vorzustellen. Marx schrieb – als es noch möglich war zu träumen –, dass der Kommunismus nichts anderes sei als der Name für den Prozess der Abschaffung des kapitalistischen Systems. Für mich ist das das einzige politische Thema, das des Opernformats würdig ist.

Also: Der Aufstand beginnt, um eine berühmte Wendung von Heiner Müller zu paraphrasieren, nicht als Spaziergang, sondern als Opernabend?

Indem wir der Norwegian Opra erlauben, sich mit den größtmöglichen Themen zu beschäftigen und Kunstprojekte zu entwerfen, die sich über dreißig Jahre erstrecken, und indem wir uns schamlos auf die großartigsten früheren Kunstwerke beziehen, bringen wir uns selbst in eine etwas alberne und tragische Lage. Die Aussicht auf einen unterstützenden König wie Ludwig II. ist düster.

Sie setzen dafür auf maximale Autarkie! Im Programmheft zur Münchner „Ø“-Trilogie 2018 steht, die Norwegian Opra sei der utopische Versuch absoluter künstlerischer Freiheit, um die vollständige Kontrolle über alle Aspekte des Produktionsapparats zu erlangen. Wie frei sind Sie jetzt als Opernkomponist?

Für mich ist die Frage nach der Freiheit der Kern der Kunst. Vielleicht existiert Kunst vor allem als Erforschung der Freiheit und als Eröffnung neuer Möglichkeiten für das Denken und das Sinnliche. Aber ich kann keine Definition von Freiheit geben, schon gar nicht in Verbindung mit einer Art zu leben oder zu schaffen. Ich glaube nicht, dass sie existiert. Wir sind immer gefangen in banalen Praktiken, dem Blick des anderen, der Epigenetik unserer Mütter, den unvermeidlichen Rhythmen von Schlaf und Essen. Mein kleiner Versuch besteht darin, die Idee der Freiheit in der Kunst so weit wie möglich zu treiben. Ich habe den ganzen Apparat der Opernproduktion heruntergeschraubt und eine diktatorische Methode der kompositorischen Planung entworfen. Vielleicht habe ich das getan, weil ich mich sehr leicht unfrei fühle.

Eine Art Leitmotiv in Ihrem Werk ist die großartige Arie vom „postmodernen Sumpf“, deren Interpreten sich ebenfalls unfrei fühlen. Sie besteht aus dem schönen Satz: „Hier sitzen wir im postmodernen Sumpf.“ Wie ist die Arie entstanden?

Danke für die Frage nach diesem großen Meisterwerk! Die Arie taucht tatsächlich in vielen meiner Arbeiten auf, da der Text eine zeitlose Qualität zu haben scheint.

Sitzen Sie auch im postmodernen Sumpf – oder würden Sie sich bereits als postpostmodernen Komponisten bezeichnen?

Zu den großen Aufgaben meines Leben zählt die harte Arbeit, einen kleinen Beitrag zur Überwindung des postmodernen Geistes­zu­stands zu leisten. Das ist nicht einfach. Die Postmoderne löst bekanntlich – wie ihr böser Zwillingsbruder, das Kapital – alles Feste in Luft auf. Die schwachen Zweideutigkeiten und der Relativismus der vulgären Postmoderne rufen bei mir keine Begeisterung hervor.

Dafür spielt die Erkenntnistheorie in Ihren Werken eine große Rolle. In der Episode 13 der „Ø“-Serie kommt die Hegel-Kantate „Das Wahre ist das Ganze“ zu Gehör.

Oh ja, die berühmte Hegel-Kantate ist im authentischen Bach-Reger-Strawinsky-Poulenc-Stil geschrieben, als eine Studie in neoklassischem Kontrapunkt.

Auch der Theoretiker Alain Badiou hat Eingang in Ihre Arbeit gefunden. In Ihrem Klavierkonzert „Theory of the Subject“ liest die Pianistin Ellen Ugelvik ausgiebig in dessen gleichnamigem Werk. Haben Sie außer Ihrem Gesangs- und Kompositionsstudium in Oslo auch ein Philosophiestudium absolviert?

In der Philosophie bin ich ein hundertprozentiger Autodidakt, sodass ich immer sagen kann, dass ich die philosophischen Konzepte aus künstlerischen Gründen missverstehe. Ich bin mir nicht sicher, ob meine große Freude an der Philosophie, die ständig in die Werke sickert, tatsächlich einen künstlerisch gelungenen ­Aspekt meiner Arbeit darstellt. Ich sehe es manchmal eher als eine Krankheit, die ich versuche loszuwerden. Es kann elitär ­rüberkommen, und es ist ärgerlich, wenn einem Referenzen präsentiert werden, die man nicht versteht. Aber auf der anderen Seite finde ich, dass die Philosophie für die Oper die perfekte Partnerin ist. Für mich repräsentieren beide etwas von demselben Drang, bis zum Äußersten zu gehen: einerseits einen Gedanken wirklich bis zu Ende zu denken und andererseits die Empfindsamkeit bis in ihre pathetischsten Ausdrucksformen zu dehnen.

Im Herbst startet René Pollesch als neuer Intendant der Berliner Volksbühne. Vegard Vinge und Ida Müller gehören dort zu seinem künstlerischen Team. Werden Sie wieder dabei sein?

Ja, wir sind mit den Vorbereitungen für einen monumentalen „Peer Gynt“ beschäftigt. Soweit ich weiß, wird es die Eröffnungsproduktion sein. Am Vorabend soll meine große festliche Volksbühnen-Symphonie „Ein Volk, eine Bühne“ für großes Orchester und Chor uraufgeführt werden: ein programmatischer Streifzug in fünf langen Sätzen durch die glorreiche Geschichte des Hauses. Sie endet mit einem Lobgesang auf die neue Intendanten-Ära, mit dem Chorus „Neue Intendanz! Neue Intendanz!“.

Hätte es für Sie eigentlich eine berufliche Alternative gegeben?

Nein, ich war immer monoman. //

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