Grenzen der Scham: Daß Humperdinck hier starb, hat die theatergeschichtliche Bedeutung von Neustrelitz so wenig anzuheben vermocht wie das kleine Dorf Tasdorf bei Berlin von derTatsache profitieren konnte, daß Giacomo Meyerbeer dort geboren wurde (man sollte 1991 wissen: es geschah vor 200 Jahren). Ob sich am 5. September die Medien um einen womöglich zu enthüllenden Gedenkstein scharen werden und bei dieser Gelegenheit vielleicht übermannt vom gesammelten Schauder, der Welt zur Kenntnis geben, welch ein unverschuldet haarsträubend dreckiges Nest dieses Tasdorf im Schatten des Rüdersdorfer Zementwerkes ist? Wie auch immer, Tasdorf wird von der Gedenktagskonjunktur keinen Gewinn haben und wieder in seinen Schlaf zurückfallen. (Bis 1994, dann soll 's ja allem und allen endgültig besser gehen ... )
Neustrelitz wird, so verschlafen es wirkt nicht in diesen Schlummer zurückkehren. Wird es nicht können. Ein Ort an dem ein neuer lächerlich-denkwürdiger Ismus geboren wurde, kann nicht mehr einschlafen, man wird ihn mit bitterem Hohngelächter im Wachzustand halten. In Neustrelitz wurde der Leïtismus kreiert was eines Tages auch in touristischen Führern vermerkt sein könnte. Auch wäre Neustrelitz vorzuschlagen, in der Zeit florierender Partnerschaften Kontakte mit Hameln zu pflegen und alljährlich eine Aufführungsserie von Gogols »Revisor« anzusetzen - zur Erinnerung an das, was gewesen, zur Mahnung an diejenigen, die der Blendkraft aus Tellerwäscher- und Felix Krull-Mentalität icht widerstehen können. Aber solche »Salzburg des Nordens«-Euphemisten wie Leïtis ähneln in Haltung und Aussage manchen großen Politikern, sie gefallen sich darin, Lichtstrahl im finsteren Reich zu sein.
Die Leïtisten sind fast so weit verbreitet wie es die Tschekisten Mielkes waren. Herr von Leïtis hat se ine Biographie hochwertig gemacht, was auch in der alten DDR viele getan haben - nicht nur die reißwolfwütigen Tschekisten -, die nach dem Mauerfall streng die Feier-Folge einhielten: Erstens Verbrüderung bei Sekt und Trabi mit den Westdeutschen, zweitens Sturm auf die Personalakten, um zu tilgen, was der früchtetragenden Zukunft im Wege sein könnte. Und plötzlich waren auch die hohen Orden, die Vaterländer und wie sie alle hießen, Gewinn bringende Trödelware. All die netten neuerstandenen Polit-Schwadroneure und Widerständler, die einen mit klagend großen Augen zu fragen scheinen: Hast du denn nicht gemerkt wie sehr ich mich mit meinen Mitteln dem Unrechtssystem widersetzte? Sie sind ja nicht besser als jener rechtens gescholtene Hochstapler von Leïtis: Überall zieht in graduell unterschiedlicher Weise Unmoral ihre verästelten Spuren.
Wer bis vor zwei Jahren bestimmte Grenzen überschritt, mußte mit Kerker rechnen; wer heute Schamgrenzen in nie geahnter Schnelligkeit überrennt mußte dies nicht befürchten. Er darf sich dem umflorten Entzücken neuer individueller Entfaltung widmen. Der einstige Hochschuldozent für Marxismus-Leninismus und hohe Staatsfunktionär für Kultur, dann für Kirchenfragen, ist heute hoher Bankbeamter. Die einstige mächtige Theaterintendantin memoriert in einem maroden Stil über inneres Leid und äußeres Leid, über Zweifel, Bekenntnisse, Irrtümer, auf neue Weise wird denunziert über Intimes geplaudert (aber die Oelschlegel ist halt Wolfgang Lange nicht die Stein oder die Goll, was einen Unterschied macht). Diese zwischen Jeremiade und Selbstkasteiung pendelnde Schrift verursacht mir Pein. Nicht weil ich zu befürchten hätte, darin vorzukommen wie so viele andere, oder ich ihr den finanzie llen Erfolg neide; und ich wünsche ihr auch nicht daß man ihre Bücher, wie man es einst mit Knut Hansum tat in den Vorgarten kippt Nein, ich meine einfach, Frau Oelschlegel hätte schweigen sollen, einfach »öffentlich schweigen«. Nur das. Aber da Scham unter neuen marktwirtschaftlichen Bedingungen keine ernstzunehmende Kategorie mehr ist, müssen wir wohl darauf rechnen, daß dem Lesevolk der Theatergemeinde demnächst neue Lektüre ins Haus steht - vielleicht der Bekennermut des großen sonnenäugigen Volksschauspielers, das dialektische Lamento des asketischen Intendanten, das graziöse Rechtfertigungssolo des Ballettmächtigen. Das würde unsere Schädel dröhnen und die Augen feucht werden lassen. Vor Empörung...? Wer weiß. Kann aber auch sein, daß schon eine festliche Bismarck-Oper eines Komponisten flink geschrieben wird, in der starke assoziative Momente unweigerlich die heroische Gestalt des Einheitskanzlers dieser Tage inkludieren. Die im Grundton optimistische Ouvertüre müßte natürlich, zumindest in Kanzler-C -Dur stehen.
Wo war Fairness, um nicht immer nur von Scham zu sprechen, als einer großen Regisseurin der Dienst quittiert wurde? Wer stand da auf und verteidigte sie bedeutsam? Was zu ihrer Kü ndigung geführt hat diese ist ungerecht und sehr vie le empfanden, als es bekannt wurde, ein bedrängendes Gefühl von Macht (hatten wir doch schon). die sich ventiliert Ruth Berghaus wurde an der Deutschen Staatsoper gekündigt unter Vorwänden (Altersgrenze), die internationaler Kunstpraxis Hohn sprechen (was wäre beispielsweise die Hamburgische Staatsoper ohne den weit über siebzigjährigen Rolf Liebermann gewesen?) Man muß nicht zur Berghaus-Lobby zählen, um zu erkennen, daß im Lauf der Zeit kaum ein anderer das künstlerische Profil dieses Opernhauses so geprägt hat wie sie. So darf man einen Menschen nicht gehen lassen. Der Fall liegt zurück, aber es ist nötig, daran zu erinnern. Es wird immer nötig sein, an die Grenzverletzungen der Scham zu erinnern.
Wolfgang Lange
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Grenzen der Schamvon Wolfgang Lange | |
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Magic black box | |
Landestheater Salzburg:»Die Zauberflöte«von Friedbert Streller | Seite 6 |
Deutsche Oper Berlin:»Die Entführung aus dem Serail«von Wolfgang Lange | Seite 7 |
Städtische Bühnen Erfurt:»Die Hochzeit des Figaro«von Uwe Hübner | Seite 8 |
UImer Theater:»Die Zauberflöte«von Hartmut Regitz | Seite 9 |
Theater der Stadt Planen:»Don Giovanni«von Frank Kämpfer | Seite 10 |
Kleist Theater Frankfurt/Oder:»Die Hochzeit des Figaro«von Frank Kämpfer | Seite 11 |
Komponisten zu Mozart | |
Pralle Lebensnähevon Kurt Dietmar Richter | Seite 12 |
Am Deuten und Fühlen arbeitenvon Baldur Böhme | Seite 14 |
Klarheit und höchste Kunstfertigkeitvon Karl-Rudi Griesbach | Seite 15 |
Oper | |
Fülle des WohllautsAnmerkungen zu fünf Opernereignissen in Berlin, Dresden und Leipzigvon Wolfgang Lange | Seite 17 |
Schicksal einer Opervon Joachim Herz | Seite 18 |
Fabellesartvon Sigrid Neef | Seite 22 |
Eifersucht und MißverständnisseBadisches Staatstheater Karlsruhe: »Arianna in Creta« von G. F. Händelvon Rolf Fath | Seite 24 |
Reich an Sinn und EinfällenHans-Otto-Theater Potsdam: »Rusalka« von Antonin Dvořákvon Uwe Hübner | Seite 24 |
Entfaltete TalenteDeutsch-Sorbisches Volkstheater Bautzen: »La Bohème« von Puccinivon Wolfgang Lange | Seite 25 |
Männerentwürfe: Wenzel oder/und HansZu Peter Konwitschnys Inszenierung »Die verkaufte Braut« in Grazvon Frank Kämpfer | Seite 26 |
Musik | Seite 27 |
Offene Landschaft13. musik-biennale berlinvon Ilse Müller | |
Oper | Seite 27 |
Drei Fragen an Peter Konwitschnyvon Peter Konwitschny und Frank Kämpfer | |
Freies Theater | Seite 28 |
Zwischen Kreuzberg und Weddingvon Martin Morgner | |
Puppentheater | Seite 30 |
Soll und Haben (I)Eine Bestandsaufnahmevon Gerd Taube | |
Tanz | |
Ausdruckstanz - noch aktuell?von Beate Hentschel | Seite 34 |
Absurd, knallbunt und sportivTanzWinter '91 im Hebbel-Theater Berlinvon Volkmar Draeger | Seite 37 |
Ballett | |
Reine Seele - reine Welt, ein Nonsens!Theater der Stadt Cottbus: »Natter Erde, laß gut sein - ich mal mir was aus«, Tanzabend in zwei Tei len von Elvira Schurig und Birgit Scherzervon Dietmar Fritzsche | Seite 40 |
Zigeunerin mit französischem EspritDeutsche Oper Berlin : »Carmen« von Roland Petitvon Volkmar Draeger | Seite 40 |
Scheitern an sich selbst ...»Peer Gynt«, Ballett von Hermann Rudolph, in Chemnitz uraufgeführtvon Werner Gommlich | Seite 41 |
Verlorene IllusionenUraufführung des Balletts »Madame Bovary« von Michail Gawrikow am Nationaltheater Weimarvon Werner Gommlich | Seite 42 |
Miniatur contra MelodramDeutsche Oper am Rhein: »Die tausend Grüße« / »Butterfly« von Uwe Scholz / Paolo Bortoluzzi. Ausstattung und Licht Beni Montresorvon Volkmar Draeger | Seite 43 |
zerRISSene SeelenflammenTanzfabrik Berlin (Theatermanufaktur): »Der Riß« von Dieter Heitkamp und Gayle Tuftsvon Dietmar Fritzsche | Seite 44 |
Blick in die Länder | |
Chemnitz im Aufschwung?Gespräch mit General intendant Jörg Liljebergvon Martin Linzer und Jörg Liljeberg | Seite 46 |
Drache '91Städtisches Theater Chemnitz: »Der Drache« von Jewgeni Schwarzvon Martin Linzer | Seite 47 |
Überlegungen vor OrtGespräch mit Hubert Kross jr., Intendant des Theaters Nordhausenvon Volker Trauth und Hubert Kross jr. | Seite 48 |
Dem Labyrinth entrinnenTheater Nordhausen: »Onkel Wanja« von Tschechowvon Volker Trauth | Seite 49 |
Vielfalt in der Fläche - Breite in der SpitzeZu möglichen Perspektiven der Theaterlandschaft in Sachsen-Anhalt - Ein Interview mit Boje Schmuhlvon Friedemann Krusche und Boje Schmuhl | Seite 50 |
München | |
Erkennen und WiedererkennenTheaterstadt Münchenvon Jochanaan Christoph Trilse-Finckelstein | Seite 53 |
Werden alle Menschen Brüder?Münchener Kammerspiele: »Schlußchor« von Botho Strauß uraufgeführtvon Dieter Kranz | Seite 56 |
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IrritationenBerlin / Schaubühne: »Amphitryon« von Kleistvon Ingeborg Pietzsch | Seite 58 |
VisionenKrakow: Teatr Cricot 2 »Heute ist mein Geburtstag« von Tadeusz Kantorvon Ingeborg Pietzsch | Seite 58 |
(K)ein TraumBerlln / Theater der Freundschaft »Märchen vom Teufel mit den drei goldenen Haaren« von Friedrich Karl Waechtervon Anke Böhme | Seite 59 |
OIe Shite!Leipzig, Neue Szene: »Shite Samurai« von Jo Fabianvon Jan Kerber | Seite 60 |
Kellerkinder in MomentaufnahmeLelpziger Schauspiel: »Skins« von Trevor Griffithsvon Bernhard Scheller | Seite 60 |
ZwängeRostock / Volkstheater: »Kleiner Mann, was nun!« von Dorst und »Frühlingserwachen« von Wedekindvon Ingeborg Pietzsch | Seite 61 |
Gastspiel in LeipzigRoyal National Theatre London: »King Lear« und »Richard III.« von Shakespearevon Michael Hametner | Seite 62 |
Liebesaffairen sind StaatsgeschäfteSchauspiel Frankfurt/Main: »Maria Stuart« von Schillervon Ernst Schumacher | Seite 63 |
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Die »Verspäteten Premieren«...von Ingeborg Knauth | Seite 65 |
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Bernard-Marie Koltès: »Kampf des Negers und der Hunde« / »Die Nacht kurz vor den Wäldern«Zwei Stücke. Aus dem Französischen von Simon Werle und Hans-Joachim Ruckhäberle Verlag der Autoren. Frankfurt/M. 1990, 150 S. 24.-DMvon Ingeborg Pietzsch | Seite 66 |
Georges Perec: »Die Gehaltserhöhung« / »Die Kartoffelkammer«Zwei Stücke. Aus dem Französischen von Eugen Helmle. Verlag der Autoren, Frankfurt/M. 150 S. 24,- DMvon Ingeborg Pietzsch | Seite 67 |
Dialog statt Konfrontation3. Festival der Theater des Mittelmeersvon Ernst Schumacher | Seite 67 |
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Ganz Berlin im BlickGespräch mit Walter Rasch, Vorsitzender des Vorstands der Stiftung Preußische Seehandlungvon Volker Trauth und Walter Rasch | Seite 69 |
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Prager Theater in BewegungWas tschechische Bühnen zeigenvon Ingeborg Knauth | Seite 70 |
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Die Neapolitanische Krankheit (Originaltitel: Neapolská choroba)Aus dem Tschechischen von Melitta Bailleuvon Karel Steigerwald | |
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Mai 1991 | |
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Ur- und Erstaufführungen / Schauspiel |
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