Heft 12/2001
Thema Arbeitswelten
René Pollesch und Gesine Danckwart
Broschur mit 84 Seiten, Format: 215 x 285 mm
ISSN 0040-5418
Uneingeschränkte Solidarität: Nun ist es heraus. Kaum war die Regierung bestätigt, ließ der Kanzler verkünden, dass die Arbeitslosenzahlen wohl wieder über vier Millionen steigen werden. Wahrscheinlich erinnert sich kaum jemand, aber diese Regierung wurde gewählt, die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen, und sie trat 1998 an, diesen Index der verbindlichen Marktwirtschaft um die Hälfte zu senken. Der damals noch füllige Joschka Fischer griff vor Jahren die Kohl-Regierung an, eher würde er sich halbieren, als dass der politische Gegner die Arbeitslosigkeit effektiv reduzieren könne. Fischer behielt recht, allein er hat sich halbiert, und in der Angelegenheit sind die Sozialdemokraten selbst ihre besten Gegner geworden. Zynischer als die Mannen um Helmut Kohl, der während einer Bundestagsdebatte zum Thema die Kochbücher seiner Frau signierte, gibt sich der moderne SPD-Kapitalismus: Mit dem Heilsversprechen der Globalisierung wird jede soziale Verwilderung gerechtfertigt, und wenn es ganz praktisch an die Zahlen geht, sind auch miese Tricks genehm - Arbeitslose, die älter als 58 Jahre sind, werden nicht mehr als solche gezählt, wenn sie erklären, sich nicht mehr vermitteln lassen zu wollen. Bis zu einer Viertelmillion will man so aus der Statistik drücken.
Das Thema Arbeit und Arbeitslosigkeit wird indes auf den Bühnen nicht in diesen Kategorien behandelt. Dramatiker wie René Pollesch und Gesine Danckwart zeigen, wie das Innenleben heutiger Erwerbsgetriebener erodiert. Nicht weil sie keine Arbeit haben, sondern weil sie als scheinbar autonom sich selbst Verwirklichende in einer Arbeitswelt leben, deren Bedingungen sich schneller ändern als Börsenkurse steigen und stürzen. Pollesch (S. 5) bringt es aufden Punkt: Das System funktioniert auch deshalb, weil Entfremdung heute als ihr Gegenteil erscheint, Ausbeutung eine Frage der Selbstorganisation geworden ist. Ungefähr zu der Zeit, als Friedrich Engels die beiden hinterlassenen Bände von Marx' "Kapital" nach dessen Tod herausgab, fasste der amerikanische Aphoristiker Ambrose Bierce zusammen: "Arbeit - Eines
der Verfahren, durch das A Eigentum für B erwirbt." Sicher, vor Weltwirtschaftstheoretikern kann das nicht bestehen, aber man kann ja mal an die ganz einfachen Zusammenhänge wenigstens erinnern.
Erinnern wird sich die Theaterwelt - sofern sie nicht auf halbgare Schnellschüsse wie Israel Horowitz' "Drei Wochen nach dem Paradies - eine Stimme aus NewYork City" aus ist - auch wieder an die Konflikte im ehemaligen Jugoslawien. Dejan Dukovskis "Balkan ist nicht tot" klingt wie eine Ansage als Aufforderung. Das Stück des jungen Mazedoniers wurde Mitte November am Hamburger Schauspielhaus in einer Lesung vorgestellt. Es ist ein Werk, das die schärfsten, aber gar nicht so neuen Konflikte der heutigen Zeit aufgreift, und so ein bestechender Beweis gegen den Vorwurf, neue Dramatik (A streitet mit B) würde alles nur simplifizieren und zu wenig die großen Themen angehen. Schon mit "Das Pulverfass. Ein Reigen der Gewalt" hatte Dukovski 1996 eines der wichtigsten Stücke zur Ursachenforschung auf dem Balkan geschrieben, aber nicht allein diesen gemeint. (S. 62) Seit kurzem liegt es in der neuen Übersetzung von Samuel Finzi (der auch "Balkan ist nicht tot" ins Deutsche brachte) beim Verlag der Autoren vor.
Auf der Welttheaterkarte ist der Irak ein weißer Fleck. Das Gastspiel aus dem unbekannten Land, von dem unermüdlichen Internationalisten Roberto Ciulli nach Mülheim geholt, zeigte, dass Theater auch für die zum Spiegel der Verhältnisse werden kann, die das Land gar nicht so genau kennen. Da sind mitunter nicht nur die Inhalte der Stücke eine Botschaft, sondern vor allem die Machart, das Selbstverständnis und die Präsentation auffremder Bühne schon Information. (S. 36) Das Theater an der Ruhr, das im November sein 20jähriges Bestehen feierte, ist nach wie vor einer der wichtigsten Austauschaktivisten im deutschen Theater - zwar weithin dafür bekannt, aber nicht immer genügend beachtet.
Dr. Jürgen Kuttner, der schwer berlinernde Theatraliker, der eigentlich nicht ins Theater wollte und von der Berliner Volksbühne eingefangen wurde, bespielt inzwischen nicht nur die Hauptstadt, sondern auch Bochum und jetzt sogar regelmäßig die Münchner Kammerspiele. Im Assoziationswitz hat er den Pointenroutinier und Politisches nur im Prominenten piekenden Harald Schmidt längst überholt, ohne ihn einzuholen. Seine so genannten Videoschnipsel-Abende sind eine in zeitgemäßer Partisanen-Taktik vorgeführte fröhliche Ideologie-Kritik, die naturgemäß das Unbewusste der Medien analysiert - den Inhalt hinter der Information. Erstmals hat Annett Gröschner einen der stets nur mündlich improvisierten Kommentare für ihr Porträt dokumentiert (S. 29): Kuttner erläutert Schröders Pressekonferenz vom 7. Oktober, als der Krieg gegen Afghanistan begann und in Fischers schlankem Jackett ein Handy orgelt.
Die Redaktion
Jörg Buddenberg
Otto Paul Burkhardt
Ulrich Deuter
Dejan Dukovski
Carola Dürr
Anja Dürrschmidt
Caren Fischer
Ralph Gambihler
Annett Gröschner
Stefan Grund
Thomas Irmer
Isabelle Jacobi
Petra Kohse
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Dea Loher
Nikolaus Merck
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René Pollesch
Gudrun Rohmann
Alfred Schlienger
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