Heft 01/2015
Feuer und Eis
Theater im ostsibirischen Jakutsk
Broschur mit 96 Seiten, Format: 215 x 285 mm
ISSN 0040-5418
Berlin. Regierungsviertel. Eine Handvoll Menschen macht sich an einem Zaun zu schaffen. Nahezu unbemerkt von Passanten, Presse, Polizei werden an diesem Tag aus der hochsicherheitsüberwachten Bannmeile des Bundestags 14 Kreuze entwendet. Gedenktafeln an die Mauertoten, die nun, pünktlich zum 25. Jahrestages des Mauerfalls am 9. November 2014 auf Reisen geschickt werden sollen: an die „Mauern“ der Europäischen Union, an denen nach wie vor Menschen sterben. Wenige Tage später wird das Gebäude des Maxim Gorki Theaters in Berlin von rund 100 Beamten der Bundespolizei umstellt. Am Himmel kreisen Hubschrauber.
Es sind Aktionen wie der „Erste Europäische Mauerfall“, mit denen das Berliner Künstlerkollektiv Zentrum für Politische Schönheit (ZPS) immer wieder bis in den inner circle der Macht vordringt. Kunst als fünfte Macht im Staat – so zumindest sieht es ZPS-Gründer Philipp Ruch. Doch wie weit kann bzw. darf Aktionskunst gehen? Und was bewirkt sie wirklich? In unserem Januar-Schwerpunkt konfrontiert Matthias Dell das ZPS mit zwei weitere Aktivisten in Sachen politischer Schönheit: Matthias Wermke und Mischa Leinkauf, die im Sommer 2014 auf der New Yorker Brooklyn Bridge die amerikanischen Flaggen gegen weiße austauschten und damit einen Großeinsatz der Polizei auslösten. Ruch nennt dies das Prinzip Mausefalle: Wie in Shakespeares „Hamlet“ sorge Kunst dafür, dass eine Gesellschaft sich selbst erkennt.
Voraussetzung für die Wirksamkeit dieser Aktionen ist ihre Ereignishaftigkeit. Sie treten ohne Vorwarnung auf, nicht im Theater, sondern im öffentlichen Raum, und zielen dadurch auf das, was Wolfgang Engler in seinem grandiosen Essay Geschieht es? als Komfortzonen des Westens beschreibt. Ausgehend von Heiner Müllers Erfahrung mit der „Weltenwende“ von 1989, analysiert der Kultursoziologe das Verhältnis von Demokratie, Ereignis und Schrecken. „Gefragt ist eine Währung“, konstatiert er schließlich, „die uns weithin ausgegangen ist: kollektive Zuversicht, die Lust, gemeinsam in offener Landschaft unterwegs zu sein, statt allein ans vorher festgelegte Ziel zu kommen.“
Unmittelbar verstörend ist Englers Verweis auf die „Leerstelle im Zentrum unseres Denkens“, diese „tief sitzende Müdigkeit, gespeist aus der fehlenden Antwort auf die Frage nach dem Wozu“. Denn diese Leerstelle wird im Zweifelsfall anders gefüllt. Mit Fanatismus, Hass, Gewalt. Von derartigen Tendenzen berichten Gunnar Decker und Michael Bartsch aus Bautzen und Dresden. Während sich in Bautzen Angriffe rechter Gruppierungen neuerdings auch gegen die dort seit Jahrhunderten lebenden Sorben richten, gehen in Dresden die Demonstrationen der „Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“ immer weiter. Tilmann Köhlers Uraufführung von Thomas Freyers neuestem Stück Mein deutsches deutsches Land erhielt dadurch makabre Aktualität. Im direkten Spannungsverhältnis dazu steht das mutige Stück der algerischen Autorin Rayhana, das wir in diesem Heft abdrucken. In meinem Alter rauche ich immer noch heimlich handelt von Frauen, die sich in einem algerischen Hamam ungeschminkt über männliche Gewalt, Ehrenmorde und die Radikalisierung des Islam unterhalten.
Meilenweit entfernt von religiösen oder auch ethnischen Konflikten erschien demgegenüber Dorte Lena Eilers und dem Berliner Fotografen David Baltzer ihr Aufenthalt in Jakutsk, einer Stadt im äußersten Osten Sibiriens, in der die Temperaturen im Winter auf bis zu minus 60 Grad fallen. Eine Stadt der Extreme, die nichtsdestotrotz eine lebendige Theaterszene besitzt. Auf Einladung des Sacha-Theaters, des Nationaltheaters des dort lebenden Turkvolkes der Jakuten, erlebten sie Inszenierungen, in denen sich Schamanismus, Naturreligion und neue theatrale Formen auf faszinierende Weise begegnen. Eine Ästhetik, die Kunst und Landschaft verbindet. Ein Theater im ewigen Eis. //
Die Redaktion
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Künstlerinsert | |
Bühnenvon Magda Willi | Seite 4 |
Architektin des LichtsKann man den Augen noch trauen? – Die Bühnenbildnerin Magda Willi zeigt das Licht als eine unser Bild von Realität verändernde Kraftvon Gunnar Decker | Seite 8 |
Thema: unterwegs in offener Landschaft | |
Unterwegs in offener Landschaftvon Matthias Dell | Seite 13 |
Kunst ohne VorwarnungDas Künstlerduo Wermke/Leinkauf und das Zentrum für Politische Schönheit über abgeschraubte Mauerkreuze, weiße Flaggen auf der Brooklyn Bridge und die Zukunft der Volksbühne im Gespräch mit M. Dellvon Matthias Dell und Mischa Leinkaufzum Online-Extra: Langfassung des Gesprächs mit Wermke/Leinkauf und dem Zentrum für Politische Schönheit | Seite 14 |
Geschieht es?Heiner Müller, die Demokratie, das Ereignis und der Schreckenvon Wolfgang Engler | Seite 18 |
Kommentar | Seite 23 |
Berliner Ensemble 2017 oder Klaus Wowereit telefoniertvon Thomas Wieck | |
Protagonisten | |
Angriff auf die VielfaltBautzen, das Deutsch-Sorbische Volkstheater und die Rechtsradikalenvon Gunnar Decker | Seite 24 |
Gestern, heute, morgenThomas Freyers NSU-Stück „Mein deutsches deutsches Land“ gewinnt am Staatsschauspiel Dresden durch die „Pegida“-Demonstrationen makabre Aktualitätvon Michael Bartsch | Seite 26 |
Kolumne | Seite 27 |
Das einzige Opfer eines MassenmordesDone is done: Alexeij Sagerer hat 7 Theaterstühle versteigertvon Ralph Hammerthaler | |
Ausland | Seite 28 |
Läufer im SchneeDer Schuss, der Schamane und die Weisheit der Frau – Das Akademische Sacha-Theater im ostsibirischen Jakutsk erzählt Geschichten aus der kältesten Stadt der Weltvon Dorte Lena Eilerszum Online-Extra: Asteroid Y 16 – Der kleine Prinz – Die erste inklusive Theatergruppe im ostsibirischen Jakutsk | |
SCORES – Insert Tanzquartier Wien | Seite 32 |
X (all alone) / Materialvon Olaf Nicolai | |
Protagonisten | |
Die Wut entscheidetThorsten Weckherlin startet am Landestheater Tübingen mit einer Reihe von Systemverweigerer-Stückenvon Otto Paul Burkhardt | Seite 33 |
Der HeideknabeMit zwei Ensemblestücken eröffnet Andreas Döring seine Intendanz am umstrukturierten Schlosstheater Cellevon Mirka Döring | Seite 36 |
Look Out | |
Wörter wie KörperThiemo Strutzenberger erforscht Sprache, indem er beim Spielen schreibt und beim Schreiben spieltvon Margarete Affenzeller | Seite 38 |
Schmeiß dein Ego weg!The Loose Collective erzählt in seinen poppigen Musik- und Tanzperformances Geschichten der Gemeinschaftsbildungvon Johanna Groh | Seite 39 |
Aktuelle Inszenierung | Seite 40 |
Lufttanz und TränentalAlice Buddeberg und Thomas Melle skelettieren in Bonn Shakespeares Königsdramen, bis eine vielsagende Tautologie bleibt: I am Ivon Martin Krumbholz | |
Auftritt | |
Basel: Surreale BilderflutTheater Basel: „Kasimir und Karoline“ von Ödön von Horváth. Regie Ulrike Quade, Bühne Floriaan Ganzevoort, Kostüme Jacqueline Steijlenvon Elisabeth Feller | Seite 43 |
Bochum: Das bösartige TierSchauspielhaus Bochum: „Einsame Menschen“ von Gerhart Hauptmann. Regie und Bühne Roger Vontobel, Kostüme Tina Kloempkenvon Martin Krumbholz | Seite 43 |
Chemnitz: Hannahs OrgasmusSchauspiel Chemnitz: „Hannahs Dämon“ (DSE) von Antoine Rault. Regie und Ausstattung Bogdan Kocavon Steffen Georgi | Seite 44 |
Hamburg: Das Gesetz in mirThalia Theater: „Deutschstunde“ von Siegfried Lenz. Regie Johan Simons, Bühne Bettina Pommer, Kostüme Henriette Müllervon Gunnar Decker | Seite 45 |
Stendal: Die ThemenfalleTheater der Altmark: „Zehn kleine Marzipanschweine“ (UA) von Jörg Menke-Peitzmeyer. Regie David Lenardvon Gunnar Decker | Seite 47 |
München: Nachhaltig verstörendMünchner Kammerspiele: „Warum läuft Herr R. Amok?“ nach dem Film von Rainer Werner Fassbinder und Michael Fengler. Regie Susanne Kennedy, Bühne Lena Newton, Kostüme Lotte Goosvon Christoph Leibold | Seite 48 |
Stück | |
Operation OdysseusZum Stück „In meinem Alter rauche ich immer noch heimlich“ der algerischen Autorin Rayhanavon Christopher Schmidt | Seite 50 |
In meinem Alter rauche ich immer noch heimlichvon Rayhana | Seite 52 |
Magazin | |
Flucht vor FolkloreMit dem Festival Eurothalia will sich das Deutsche Staatstheater in Timişoara unverzichtbar machenvon Matthias Dell | Seite 69 |
Explosiver RauschDas 9. Festival Politik im Freien Theater in Freiburg thematisiert Freiheit als stets unerfüllte Sehnsuchtvon Bodo Blitz | Seite 70 |
Die Megacity„54. Stadt“, ein Kooperationsprojekt vom Theater Oberhausen und dem Ringlokschuppen in Mülheim an der Ruhr, entwirft eine dystopische Vision für das Ruhrgebietvon Friederike Felbeck | Seite 71 |
Repertoire der VertiefungKeine Bestenliste, sondern eine Werkschau: Das Dortmunder Theaterfestival Favoriten vernetzt sich unter neuer Leitung zu einer großen Koproduktionvon Friederike Felbeck | Seite 72 |
Mr. SandmanSzenenwechsel: „Faza REM Phase“schlägt Schneisen durchs Traumdickicht | Seite 74 |
Treibstoff SpracheZum Pariser Kolloquium „Einar Schleef – Material und Materialität: über das Theater hinaus“von Kristin Schulz | Seite 76 |
Widerstand inmitten des WahnsinnsZum Tod von Jovan Ćirilov, Leiter des Bitef-Festivals in Belgradvon Renate Klett | Seite 77 |
Beredter FinneKaurismäki über Kaurismäki. Hg. von Peter von Bagh, Alexander Verlag, Berlin 2014, 288 S., 38 EUR.von Theresa Luise Gindlstrasser | Seite 78 |
Von einem, der Schriftsteller wurdeMartin Heckmanns: Konstantin im Wörterwald (Dramatiker erzählen für Kinder). mixtvision Verlag, München 2014, 80 S., 17,90 EUR.von Mirka Döring | Seite 79 |
kirschs kontexte: Sie war die Erste nichtWarum die drohende Insolvenz des Mülheimer Ringlokschuppen ein Symptom istvon Sebastian Kirsch | Seite 79 |
Aktuell | Seite 80 |
Meldungen | |
Aktuell: in nachbars garten | |
FilmDas Lächeln der Mittsommernachtvon Ralf Schenk | Seite 82 |
LiteraturCranach, hilf!von Katrin Schuster | Seite 82 |
KunstÜber Unter- und Rückseitenvon Ute Müller-Tischler | Seite 83 |
MusikVon der Aufhebung der Zeitvon Otto Paul Burkhardt | Seite 83 |
Aktuell | |
PremierenJanuar 2015 | Seite 84 |
TdZ on Tour | Seite 86 |
Impressum/Vorschau | Seite 87 |
Gespräch | Seite 88 |
Was macht das Theater, Lise Risom Olsen?von Matthias Dell und Lise Risom Olsen |
Margarete Affenzeller
Michael Bartsch
Bodo Blitz
Otto Paul Burkhardt
Gunnar Decker
Matthias Dell
Mirka Döring
Dorte Lena Eilers
Wolfgang Engler
Friederike Felbeck
Elisabeth Feller
Steffen Georgi
Theresa Luise Gindlstrasser
Johanna Groh
Ralph Hammerthaler
Sebastian Kirsch
Renate Klett
Martin Krumbholz
Christoph Leibold
Mischa Leinkauf
Ute Müller-Tischler
Olaf Nicolai
Lise Risom Olsen
Rayhana
Ralf Schenk
Christopher Schmidt
Kristin Schulz
Katrin Schuster
Thomas Wieck
Magda Willi
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Thema: unterwegs in offener Landschaft | Seite 14 |
Kunst ohne VorwarnungDas Künstlerduo Wermke/Leinkauf und das Zentrum für Politische Schönheit über abgeschraubte Mauerkreuze, weiße Flaggen auf der Brooklyn Bridge und die Zukunft der Volksbühne im Gespräch mit M. Dellvon Matthias Dell und Mischa Leinkaufzum Online-Extra: Langfassung des Gesprächs mit Wermke/Leinkauf und dem Zentrum für Politische Schönheit | |
Ausland | Seite 28 |
Läufer im SchneeDer Schuss, der Schamane und die Weisheit der Frau – Das Akademische Sacha-Theater im ostsibirischen Jakutsk erzählt Geschichten aus der kältesten Stadt der Weltvon Dorte Lena Eilerszum Online-Extra: Asteroid Y 16 – Der kleine Prinz – Die erste inklusive Theatergruppe im ostsibirischen Jakutsk |
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