Thema: Volksbühne Berlin

Ost-West-Nachzugsgefechte

Der Regisseur Jürgen Kuttner über Frank Castorfs Weltanschauungsfuror – und die ungeheure Anmaßung zu sagen: Jetzt ist Schluss! Ein Gespräch mit Gunnar Decker

von und

Nun muss man ehrlicherweise auch zugeben, dass Castorf 1992 von manchen als eine Art Barbar angesehen wurde, der sein Theater zur Spektakelhöhle verkommen lässt. Gerhard Stadelmaier sprach in der FAZ von „Turnhallentheater“, und das war noch das Harmloseste. Man kann den Abbruch einer großen Tradition beklagen, aber wenn die Helden alt geworden sind, drängen neue nach. So wie Gottfried Benn über die Geschichte sagte: Die einen wollen hoch und die anderen nicht runter … Aber es bleibt doch ein übler Nachgeschmack, dass hier nicht nur nebenbei ein Symbol beseitigt werden soll.
Es kommt mir auch wie ein Ost-West-Nachzugsgefecht vor. Wir streiten um die Deutungshoheit von Geschichte, und da geht es auch um ungenutzte Alternativen, um Möglichkeiten, die wir erst noch wiederentdecken müssen. Es geht um einen radikalen Begriff von Politik, der mehr weiß als grade in der Zeitung steht. Immerhin war es Piscator, der die Volksbühne in den 1920er Jahren groß gemacht hat, indem er das Haus öffnete für Spektakel, für Revue, für Performance, für Installation und für Aktion – all das, was man heute multimedial nennt. Da ist von Besson und Karge/Langhoff noch gar nichts gesagt. Aber das gehört alles zur Substanz der Volksbühne, die Castorf sehr wohl zu nutzen weiß, auch den besonderen Ort am Rosa-Luxemburg-Platz, der mal Bülowplatz hieß, dann Horst-Wessel-Platz. Damit muss man sich immer wieder auseinandersetzen. Dieser Ort reibt sich an der blind gewordenen Utopie!

Sie haben an der Volksbühne insgesamt weit über hundert „Videoschnipselabende“, medienkritische Unterhaltung, veranstaltet. Jetzt hört man, dass Dercon auch Alexander Kluge an die Volksbühne holen will, der ist in zwei Jahren 85!
Ja, das ist eine schlagkräftige Verjüngung. Aber nichts gegen Alexander Kluge, er war es, der vom „Angriff der Gegenwart auf die Geschichte“ sprach, den wir derzeit erleiden.

Gerade habe ich in Ihrem „Sprechfunk-Lesebuch“ gelesen, Radiogespräche, die auch schon zwanzig Jahre alt sind. Der erste Satz lautet: „Dieses Buch wirklich mit Genuss zu lesen, ist ein schwieriges Unterfangen.“ Darin verkörpert sich, wie ich finde, der Nachwendegeist: diese besondere Art von Übermut, die auch die Volksbühne prägte. Die makabre Tatsache, dass man sich aus dem einen falschen Leben ins andere falsche Leben geworfen sah – und erst einmal nichts anderes tun konnte, als die große Siegesfeier zu ruinieren.
Gottfried Benn sagte im Gespräch mit Thilo Koch einen Satz, der mich tagelang umgetrieben hat: Ein jedes Gedicht von Rang muss dunkel sein. Das ist auch das Castorf-Prinzip. Diese Lust an der Überforderung muss man aber erst einmal wecken, die ist auch eine Kulturleistung. Heute sortieren sich die Milieus und Gruppen so, dass sie sich kaum berühren. Statt der Lust am Widerspruch herrscht Konsenszwang. Das kommt auch aus der Angst der Mittelschicht vor dem Abstieg und führt dann bis zu Pegida.

In den Neunzigern trug noch die Tortenwurforgie einer Castorf-Inszenierung – vor allem im Bühnenbild von Bert Neumann – den Diskurs über Adornos „Dialektik der Aufklärung“ in sich. Dieses paradoxe Zugleich von Jahrmarkt und intellektueller Überforderung hat die Volksbühne – mal mehr, mal weniger überzeugend – bis heute kultiviert. Die wissenschaftliche Herstellung von Skandalen, für die einst Brecht ein Haus suchte?
Ja, aber immer aus Notwehr! Heiner Müller, der in einer westdeutschen Stadt spazieren ging, sprach anschließend von seinem Erschrecken über die Unschuld in den Gesichtern. Diese erschreckende Bruchlosigkeit der Identität! Die Deutschen wollen immer Opfer sein, nie Täter. An dieser Lebenslüge arbeitet sich die Volksbühne ab – das ist der Vorteil des Erfahrungsdrucks, den einem Staatsuntergänge vererben.

Im Grunde wird Chris Dercon doch gar nichts anderes machen können, wenn er seinen Anspruch ernst nimmt, als die Volksbühne noch einmal neu zu erfinden, genau so, wie sie heute ist, nur ohne Frank Castorf?
Ja, aber der Wärmestrom der Geschichte, um mit Ernst Bloch zu sprechen, an den das Haus bislang angeschlossen war, ist dann weg. Man schöpft nicht mehr aus der gemeinsamen Erfahrung, es wird, selbst wenn es um gleiche Themen gehen sollte, sehr viel distanzierter werden, eher archäologisch. Da geht etwas völlig unnötigerweise verloren. //

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