Heft 10/2021
Angst und Widerstand
Thema Afghanistan
Broschur mit 88 Seiten, Format: 215 x 285 mm
ISSN 0040-5418
Bis vor Kurzem traf sich die Afghan Girls Theater Group, ein Kollektiv junger Schauspielerinnen zwischen 16 und 23 Jahren, einmal wöchentlich in ihrem Probenraum in Kabul, um an Inszenierungen zu arbeiten, die sich mit der Situation der Frauen in Afghanistan auseinandersetzen. Oft spielten sie fernab konventioneller Bühnen, eigneten sich öffentliche Räume an und kämpften so auch gegen die soziale Stigmatisierung, der sich Schauspielerinnen in Afghanistan aufgrund ihres Berufes ausgesetzt sehen.
Mit der gewaltsamen Machtübernahme der Taliban fand die Arbeit der Afghan Girls Theater Group – wie die vieler Künstlerinnen und Künstler generell – ein abruptes Ende. Die Theaterwissenschaftlerin Hannah Neumann, die über die letzten Wochen hinweg unentwegt mit den jungen Frauen im Kontakt stand, berichtet in unserem Schwerpunkt zum Thema Afghanistan von dramatischen SMS-Wechseln, ihrem verzweifelten Verfassen von Evakuierungslisten mit stetem bangen Seitenblick aufs Handy, ob die Luftbrücke noch steht – und wirft dabei auch kritische Fragen an die Bundesregierung sowie an einige Praktiken des internationalen Kulturaustauschs auf. Über Letzteren berichtet ausführlich der ehemalige Leiter des Goethe-Instituts Kabul Ibrahim Hotak im Gespräch mit Patrick Wildermann – während sich der Theaterwissenschaftler Matt Cornish dem Thema aus der US-amerikanischen Perspektive nähert und dezidiert das Versagen des Westens in den Blick nimmt: Wo sind die Anti-Kriegs-Stücke, und welche Narrative dominieren eigentlich die westliche Auseinandersetzung mit Afghanistan? Ein besonderer Spezialist für die Frage, wie die amerikanische (und natürlich auch die europäische respektive speziell die deutsche) Außenpolitik im Kunst- und Kulturbetrieb reflektiert werden, ist der Schauspieler Sebastian Blomberg. Er spielt zurzeit gleich in mehreren Produktionen, die die Schuld des Westens an den Kriegen in Afghanistan und im Irak thematisieren und hat über seinen Politiker-Rollenstudien – in Hamburg steht er zum Beispiel in Rainald Goetz’ Stück „Reich des Todes“ als Dick Cheney auf der Bühne – auch eine entsprechende Expertise in der Einordnung von Regierungsstilen generell entwickelt. „Dieser Politikertypus des Aushalters, des Aussitzers, des Weglächlers, wie ihn Merkel verkörperte, ist scheinbar der erfolgreichste“, resümiert er im Gespräch mit Dorte Lena Eilers und klagt: „Leute, die sich wirklich trauen, einen Politikwechsel einzufordern, kriegen auf die Zwölf.“
Angela Merkel ist nun seit dem 26. September als Regierungschefin definitiv und endgültig Geschichte – nachdem sie einen ihrer letzten Auftritte als Bundeskanzlerin tatsächlich in einem Theater bestritten hatte! Martin Krumbholz beobachtete sie im Düsseldorfer Schauspielhaus im Gespräch mit der Schriftstellerin Chimamanda Ngozi Adichie und berichtet, dass es außer um Feminismus, Nigeria und die DDR auch um die Frage ging, ob die Literatur uns eigentlich zu besseren Menschen macht.
Woran sich natürlich nahtlos diejenige anschließen ließe, ob uns auch die Politik zu einer besseren Gesellschaft machen wird – sprich, ob mit der neuen Bundesregierung in der Post-Merkel-Ära die richtigen Zukunftsweichen gestellt werden. An der Kunst soll’s jedenfalls nicht scheitern: Dietmar Dath denkt mit seinem Sci-Fi-Theaterstück „Restworld“, das wir in dieser Ausgabe drucken, weit voraus und imaginiert eine (vielleicht nicht mehr ganz so ferne) Welt, in der die Maschinen immer menschlicher und die Menschen immer automatischer werden. Der Theater-Video-Künstler Luis August Krawen, den wir im Künstlerinsert vorstellen, entwirft schon heute die digitalen Bildwelten von morgen. Das Berliner Theater-Architektur-Kollektiv raumlabor, das Patrick Wildermann porträtiert, hat soeben den Goldenen Löwen der Architekturbiennale Venedig für die „Floating University“ gewonnen, ein Projekt, das mit neuen Strukturen für unser Zusammenleben experimentiert – wie übrigens, auf eine ganz andere Art, auch Christopher Rüpings Inszenierung des Monats, „Das neue Leben“ nach Dante Alighieri, in der die Persönlichkeiten der Mitwirkenden mit ihren unterschiedlichen Sozialisationen und Verwurzelungen im Mittelpunkt stehen. Die Theaterfestivals von Hamburg über Mülheim bis Zürich beweisen mit Produktionen zu Umwelt, Klimawandel oder Feminismus ebenfalls thematische Gesellschaftsrelevanz. Und, ganz wichtig: Sie öffnen, wie Daniele Muscionico aus der Schweiz berichtet, auch geografisch den Blick weit über den eigenen Tellerrand hinaus – so wie unser Kolumnist Ralph Hammerthaler, der sich diesmal aus Pristina meldet, um von Alida Bremer zu erzählen, der „sprühendsten Frau der Balkanliteratur“.
Die Redaktion
Artikel | Seite |
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Künstlerinsert | |
Videoarbeitenvon Luis August Krawen | Seite 8 |
Der mit Pixeln maltExperimentalfilm, Video, bildende Kunst: Luis August Krawen beherrscht alles – und macht damit rasant Karrierevon Daniele Muscionico | Seite 12 |
Thema | |
Steht die Luftbrücke noch?Afghanistan sollte eine Erfolgsgeschichte des Westens werden, vor allem für die Frauen – aber nicht nur der Politik, sondern auch dem Kulturaustausch fehlte es an Ernst, Tiefe und Nachhaltigkeitvon Hannah Neumann | Seite 15 |
Man kann nicht sagen, dass alles umsonst warIbrahim Hotak über die afghanische Theaterlandschaft, die kulturelle Aufbruchstimmung Mitte der nuller Jahre und die Kunst als Aufklärungsinstrument im Gespräch mit Patrick Wildermannvon Patrick Wildermann und Ibrahim Hotak | Seite 20 |
Wo sind die Anti-Kriegs-Stücke?Die westliche Politik hat in Bezug auf Afghanistan versagt – aber wie steht es um die Theater- und Kulturszene? Ein Report aus den USAvon Matt Cornish | Seite 24 |
Im Reich der LügenDer Schauspieler Sebastian Blomberg im Gespräch mit Dorte Lena Eilersvon Dorte Lena Eilers und Sebastian Blomberg | Seite 27 |
Protagonisten | Seite 32 |
Wir schaffen das!Angela Merkel und Chimamanda Ngozi Adichie sprechen im Düsseldorfer Schauspielhaus über Feminismus, Nigeria, die DDR und die Frage, ob die Literatur uns zu besseren Menschen machtvon Martin Krumbholz | |
Aktuelle Inszenierung | Seite 34 |
Ich fang jetzt noch mal ganz anders anChristopher Rüping zeigt „Das neue Leben“ nach Dante Alighieri in Bochum als Mashup mit Meat Loaf und Britney Spearsvon Martin Krumbholz | |
neuerscheinungen: theater der zeit-buchverlag | Seite 37 |
Exklusiver Vorabdruck: Das Format als WerkAus: CHANGES Berliner Festspiele 2012 – 2021. Herausgegeben von Thomas Oberender, Paperback, 520 Seiten, ISBN 978-3-95749-398-9 EUR 24,00 (print). EUR 19,99 (digital)von Thomas Oberender | |
Festivals | |
Kann Liebe ein Virus sein?Das Zürcher Theaterspektakel öffnet Fenster in die Welt – und war selten so notwendig wie in pandemischen Zeitenvon Daniele Muscionico | Seite 41 |
In den Wald, in die PfützenDas Festival Weiße Nächte am Mülheimer Theater an der Ruhr setzt sich mit den Tücken der Natur auseinandervon Martin Krumbholz | Seite 43 |
Durch den Schornstein auf die MetaebeneDas Sommerfestival auf Kampnagel in Hamburg präsentiert ein Best-of der zeitgenössischen Bühnenkunstvon Theresa Schütz | Seite 45 |
Protagonisten | |
Die Stadt als Spielfeld – Ein PortraitFür ihre Berliner „Floating University“ haben die Theaterarchitekten von raumlabor den Goldenen Biennale-Löwen in Venedig gewonnen, in Frankfurt sind sie mit einem temporären Logentheater präsentvon Patrick Wildermann | Seite 48 |
Verlassen Sie das Haus und retten Sie Ihr Leben!Rabih Mroué betreibt im Sommerbau eine Exegese psychologischer Kriegsführungvon Björn Hayer | Seite 50 |
Kolumne | Seite 53 |
In welcher Sprache träumst du, Alida?Wau Wau Wau, die sprühendste Frau der Balkanliteraturvon Ralph Hammerthaler | |
Look Out | |
Tausendundeine EntschuldigungDie Frankfurter Regisseurin und Performerin Hanna Steinmair legt mit Lust und Komik patriarchale Verherrlichungen bloßvon Shirin Sojitrawalla | Seite 54 |
Das Ende des bürgerlichen TrauerspielsDer Berliner Regisseur Benjamin Zock entdeckt verschüttete Theaterstoffe für die Gegenwartvon Lara Wenzel | Seite 55 |
Auftritt | |
Berlin: Das unheimliche SpektakelBelgienhalle Gartenfeld: „Die letzten Tage der Menschheit“ von Karl Kraus. Regie und Ausstattung Paulus Manker, Kostüme Aleksandra Kicavon Dorte Lena Eilers | Seite 57 |
Berlin: The Bigger PictureMaxim Gorki Theater: „1000 Serpentinen Angst“ von Olivia Wenzel. Regie Anta Helena Recke, Bühne Marta Dyachenko, Kostüme Pola Kardumvon Theresa Schütz | Seite 58 |
Flensburg: Storno für ein Leben an Kasse 3Theaterwerkstatt Pilkentafel: „Wo wir Lebensmittel liebten“ von Elisabeth Bohde, Torsten Schütte, Svenja Wolff, Lotta Bohde und Manuel Melzervon | Seite 59 |
Köln: Menschen aus Daten erschaffenWDR: „Made to Measure“ von Laokoonvon Tom Mustroph | Seite 60 |
Weimar: Gegen das VergessenKunstfest Weimar: „Und alle Tiere rufen: Dieser Titel rettet die Welt auch nicht mehr“ (UA) von Thomas Köck; „438 Tage NSU-Prozess – Eine theatrale Spurensuche“ von Nuran David Çalış und Tunçay Kulaoğvon Lara Wenzel | Seite 61 |
Stück | |
Von Menschmaschinen und MarionettenzauberernDietmar Dath über sein Stück „Restworld“ im Gespräch mit Erik Zielkevon Dietmar Dath und Erik Zielke | Seite 64 |
Restworldvon Dietmar Dath und F. Wiesel | Seite 66 |
Magazin | |
Die soziale OpernplastikDie Berliner Musiktheater-Erneuerer Dennis Depta und Marielle Sterra erschließen mit dem dritten Opus ihrer „Berlin is not …“-Reihe ungewöhnliche Kunstformen und Publikavon Tom Mustroph | Seite 75 |
Geahts no?Es geht – Christoph Nix’ erste Ausgabe der Tiroler Volksschauspiele in Telfs gehen trotz kulturpolitischer Streitigkeiten erfolgreich über die Bühnevon Bernd Doppler | Seite 76 |
Ein TheaterphilosophZum Tod des französischen Denkers Jean-Luc Nancyvon Erik Zielke | Seite 78 |
Des Meisters MastermindCarl Hegemann: Dramaturgie des Daseins. Everyday live. Hg. von Raban Witt, Alexander Verlag, Berlin 2021, 445 S., 33 EUR.von Martin Krumbholz | Seite 80 |
Spur der StimmenHeiner Goebbels: A House of Call. My imaginary Notebook. Neofelis, Berlin 2021, 140 S., 9 EUR.von Dorte Lena Eilers | Seite 81 |
Aktuell | |
Meldungen | Seite 82 |
Premieren Oktober 2021 | Seite 84 |
tdz on tour | Seite 86 |
Impressum/Vorschau | Seite 87 |
Autorinnen und Autoren Oktober 2021 / Vorschau | |
Gespräch | Seite 88 |
Was macht das Theater, Traute Hoess?von Patrick Wildermann und Traute Hoess |
Sebastian Blomberg
Matt Cornish
Dietmar Dath
Bernd Doppler
Dorte Lena Eilers
F. Wiesel
Ralph Hammerthaler
Björn Hayer
Traute Hoess
Ibrahim Hotak
Luis August Krawen
Martin Krumbholz
Daniele Muscionico
Tom Mustroph
Hannah Neumann
Thomas Oberender
Theresa Schütz
Shirin Sojitrawalla
Lara Wenzel
Patrick Wildermann
Erik Zielke
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