Die weiße Bühne

Ein wirkmächtiges Konstrukt

von

Eine Kindergartengruppe macht einen Ausflug. Nach der Rückkehr in die Kita fragt ein Vierjähriger die Erzieherin, ob er Busfahrer werden könne. Es ist kurz vor dem Mittagessen, die Erzieherin ist kurz angebunden: Ja, natürlich könne er Busfahrer werden. Der Junge scheint unbefriedigt.

Am Abend erinnert sich die Erzieherin an die Frage. Auch in den nächsten Tagen fragt der Junge noch mehrmals nach. Auch zu Hause stellt er die Frage. Die Erzieherin und die Eltern tauschen sich aus. Nach drei Wochen versteht die Erzieherin endlich: Der Junge hat nigerianische Eltern – bei dem Ausflug wurde ihm bewusst, dass er in Berlin noch nie einen schwarzen Busfahrer gesehen hat. Er musste herausfinden, ob sein Traumberuf für ihn vielleicht nicht in Frage käme. 

Dieses Erlebnis, das Henrik Adler in seinem Artikel »Nicht ›Kinder an die Macht‹, sondern Räume geteilter Verantwortung« bereits soziologisch durchleuchtet hat, soll hier den Auftakt geben.

„Don Quixote“ von Lutz Hübner nach Cervantes, Mitarbeit Sarah Nemitz, Regie: Barbara Hauck. Mit Jonathan Gyles und Thomas Ahrens, 2015 / 16. Foto David Baltzer / bildbuehne.de
„Don Quixote“ von Lutz Hübner nach Cervantes, Mitarbeit Sarah Nemitz, Regie: Barbara Hauck. Mit Jonathan Gyles und Thomas Ahrens, 2015 / 16. Foto David Baltzer / bildbuehne.de

Durch die Geschichte des kleinen Jungen bemerkte ich mit nun geschärftem Blick, dass es in Berlin tatsächlich kaum schwarze Busfahrer gibt: Der Mensch bildet sich und lernt durch Versuch und Irrtum. Identität und Konstanz wurzeln im Akt des Sich-Wiederfindens, Repräsentiert-Werdens. Eigentliche Sicherung und Halt finden sich erst in der sich hieraus entwickelnden Sprache. Was, wenn ein Kind aufwächst, ohne durch die Gesellschaft repräsentiert zu werden?

Wir sind eingeladen, beim schwedischen Festival »Bibu« im Mai 2016 unsere Produktion »Kriegerin« im Rahmen von »Shadowland« zu präsentieren. Niclas Malmcrona, Direktor und Vorstandsmitglied der ASSITEJ Schweden, hat halb Europa auf der Suche nach Theaterproduktionen bereist, die das Thema Rassismus aufgreifen. Sein Fazit: Es gibt nicht viel. Und wenn ein Theater das Thema aufgreift, verstrickt es sich meist in dem Versuch, es richtig zu machen. Bei wenigen Produktionen fand er den Ansatz, nach guter Recherche die Zuschauer sinnlich statt mit erhobenem Zeigefinger zu erreichen und zu eigenem Nachdenken und Handeln anzuregen. 

Noch gibt es eher Stücke für Jugendliche als für Kinder, die sich mit den Mechanismen von Rassismus und Rechtsextremismus, mit Flucht und Zuwanderung beschäftigen. Neben Inszenierungen aus den USA, Norwegen, Schweden und Deutschland wurde in Seminaren und Workshops die »weiße Bühne« und struktureller Rassismus kritisch analysiert sowie Möglichkeiten oder sogar Aufgaben von Theater diskutiert, dem entgegenzuwirken.

Ein Theatermacher aus Schweden fragt, was er tun solle, wenn im nächsten Stück die Rolle des Täters schauspielerisch sehr gut zu seinem syrisch-schwedischen Kollegen passen würde. Ein Schweigen tritt im Saal ein, dann ein Murmeln. Die Moderatorin Marika Lagercrantz dankt für die Frage und Fransesca Quartey, Schwedens zweite schwarze Schauspielerin, die eine Schauspielschule besuchen durfte (wirklich!), und Intendantin des Västerbottens Theaters in Skellefteå, antwortet, es hänge davon ab, ob dieser Schauspieler in anderen Stücken auch andere Rollen zu spielen bekäme. Farnaz Arbabi, renommierte Regisseurin in Schweden und seit 2014 gemeinsam mit Gustav Deinoff künstlerische Leiterin des international bekannten Theaters Unga Klara in Stockholm, stellt die Frage, ob dieser Kollege, der einzige dunkelhäutige im Ensemble sei. Wenn alle, wie üblich in schwedischen Theatern, weiß seien und nur einer anders, verstärke diese Besetzung unweigerlich das Klischee des »südländischen Verbrechers«.

Im Februar 2016 treffen wir im Rahmen unseres Zukunftsworkshops beim »berliner kindertheaterpreis« 2016 Jamil und Johanna vom Projekt »KulTür auf!« des Jugendtheaterbüros Berlin. 

Als Partnerinstitution begann unsere Begegnung mit einer »KulTür auf!«-Lounge im Theater, der gut gefüllte Saal brodelte, in jeder Ecke der Bühne und des Zuschauerraums fanden Workshops zu Stereotypen, Bilderwelten und Weltbildern, Fremdbildern und Selbstdarstellung im Theater, in der Kunst und in der Gesellschaft statt, die mit einer großen Diskussion und einem Songbattle schlossen. Die Fragen:

Was bildet ihr uns ein?! Was machen Bilder in den Medien mit unserem Blick auf die Welt? Wer wird dargestellt? Und wer hat die Macht, andere darzustellen? Wer spielt den Verbrecher, wer die Kommissarin? Wie können wir herrschenden (Welt-)Bildern etwas entgegensetzen? Und was ist kulturelle Hegemonie?

Ein »Privilegienspiel«, das uns vor Augen führt, wie wir als Einzelne unsere persönlichen Privilegien einschätzen, zündet. Das folgende Gespräch nimmt schnell eine aggressive Wendung, als manche sich gegen eine Kategorisierung als Priviligierte wehren und aus der Diskussion um die Frage ausgeschlossen fühlen, wer eigentlich über Nicht-Weiße, Nicht-Privilegierte sprechen oder schreiben darf und wer sie darstellen soll.

»Wir wissen, wie es ist, nicht ernst genommen zu werden, keine Anerkennung zu erlangen, nicht akzeptiert zu werden, dafür, WER WIR SIND und was wir machen und häufig nur in Schubladen gesteckt zu werden.

WIR sind die, über die Ihr immer redet, WIR sind die Ausländer, WIR sind die Migranten, WIR sind die Hartz-IV-Empfänger, WIR sind die Jugendlichen ohne Ausbildungsplätze, WIR sind die kopftuchtragenden Muslima. WIR sind die Problemfälle, die Euch das Leben erschweren!

Wir lassen uns nicht länger bevormunden – nicht auf der Bühne, nicht auf der Straße und nirgendwo! KulTür auf! für unsere Arbeit, unsere Themen, für uns!«, heißt es im Manifest von »KulTür auf!«. 

Jeder im Workshop besteht auf seine verschiedenen identitätsbildenden Anteile. Keiner ist nur weiß. Oder nur dunkel. Jeder ist auch noch Frau und/oder homosexuell oder/und Vater, Schweizerin, Schwabe, Kroate, Kurdin oder Perserin. Als wir uns das gegenseitig um die Ohren gehauen haben und jeder auf sein Recht pochen durfte, in seiner Ganzheit betrachtet zu werden, haben alle hochrote Wangen. Gegenseitig geben wir uns zu verstehen, dass wir alle in diesem Raum eine Kulturlandschaft wünschen, die alle Geschlechter, Hautfarben und Herkünfte akzeptiert, repräsentiert und alle Perspektiven aufgreift– doch was muss sich alles ändern, damit Theater Orte werden, die von allen genutzt und mitgestaltet werden können?

Beim »Bibu«-Festival erinnert sich Marika Lagercrantz, Grande Dame des schwedischen Schauspiels, daran, wie die schwedische, aber auch die deutsche Gesellschaft erst gelernt habe, dass es keine Rasse gebe, und fragt nach der Verwendung von Sprache, wenn wir heute über Rassismus nachdenken. Farnaz Arbabi beschreibt, dass Schweden durch die Ära von Olof Palme erfahren haben: »Wir sind alle gleich!« Die Folge aber war, dass gar nicht über Rassismus gesprochen wurde. Da das aber nicht hieß, dass Rassismus nicht existierte, werden nun wieder Worte gebraucht, um den existierenden Rassismus benennen und dann bekämpfen zu können. Die deutsche Kulturwissenschaftlerin Azadeh Sharifi beschreibt die Wirkung von Theater: Wenn ein Kind oder ein Jugendlicher auf der Bühne jemanden mit dunkler Hautfarbe sieht, dann hat im Theater etwas Ungeheuerliches stattgefunden. Ich habe es gesehen, es existiert, ich darf darüber sprechen. Wenn nun Theater das Thema Rassismus (Sexismus, Homophobie o. ä.) aufgreife, bringe es das Thema auf den Tisch – in den Mittelpunkt des Bühnengeschehens. Und wenn es wert ist, auf einer Bühne gezeigt zu werden, dann ist es auch wert, im echten Leben stattzufinden.

Im Mai 2016 schreibt Ludwig Greven in seinem Kommentar zur aktuellen Kriminalitätsstatistik »Die Saat geht auf« in DIE ZEIT: »Pegida und AfD haben das politische Klima vergiftet.« Sicherheitsbehörden hätten viel zu lange die Gefahr von rechts unterschätzt und reflexhaft auf linke Gewalt verwiesen. Die sei zwar ebenfalls deutlich gestiegen, doch die Gefahr für die Republik komme ganz eindeutig von rechts. Er fordert: »Staat und Zivilgesellschaft müssen sich dem entgegenstellen.«

Ich erinnere mich an ein Gespräch mit Wolfgang Thierse zur Frage nach zivilem Ungehorsam, Revolutionen in Deutschland und dem Beginn unserer heutigen Demokratie mit einer blutigen Revolution 1848. Er habe für diese Demokratie gekämpft, friedlich, 1989. Und nun lebe er in einer. Seit einem guten Vierteljahrhundert. Er sei sehr froh darum und habe sich gleichzeitig noch immer nicht an sie gewöhnt. Demokratie ist ungeheuerlich anstrengend. Immer wieder. Demokratie ist langsam. Viele rufen nach einer Politik, die es richten solle. Doch zur Demokratie gehöre neben den offiziellen Organen und der Politik eben der zweite große Teil, der sie trage: die Zivilgesellschaft.

Im Herbst 2014 bildete sich nach der dramatischen Besetzung der leerstehenden Schule in der Ohlauerstraße durch Refugee-Aktivisten und der großen solidarischen Unterstützung der Berliner Bevölkerung ein Bündnis aus Geflüchteten, Aktivisten, Anwälten und Kulturinstitutionen. Über künstlerische Konkurrenzsituationen und unterschiedlichste Haltungen und Bedürfnisse hinweg wurde das Bündnis »My right is your right« geschaffen. Dass städtische und staatliche Kulturinstitutionen das Bündnis mit Refugees, Aktivisten, Kirchenvertretern und Juristen mitkreieren und stützen, verleiht dem Anliegen eine neue Kraft, bildet eine Brücke zur sogenannten Mitte der Gesellschaft, um die man sich auch ganz besonders von rechts außen bemüht. Sascha Lobo, Autor und Internetexperte, beschrieb im Spätsommer 2015 den defining moment, Deutschland befinde sich in einer Situation, in der sich klären werde, wohin sich unsere Gesellschaft entwickelt. Die aktuelle Kriminalitätsstatistik zeigt, dass sogenannte Hasskriminalitätgegen nicht-weiße Geflüchtete und vermeintliche »Ausländer« um 77 Prozent zugenommen habe, strafbare Hasspostings im Internet sogar um 176 Prozent. Die Saat geht auf.

Spiegeln sich solche Erkenntnisse in den Spielplänen der Theater? Welche Aufgabe sehen wir für Theater in einem Europa, das die Grenzen schließt, das zu diesem Zweck fragwürdige Allianzen eingeht? In einem Europa, in dem sich eine internationale Rechte bildet, manche Regierungen bereits demokratische Errungenschaften per Gesetz abbauen und in Deutschland Rechtsextreme das Zeitalter der »Rechtsintellektuellen« auszurufen versuchen. Die Zivilgesellschaft, nämlich wir, scheint ihre eigentlichen Aufgaben vergessen zu haben.

Reflektieren wir Rassismus und rassistische Strukturen in den darstellenden Künsten für Kinder und Jugendliche? Behandeln die darstellenden Künste für junge Menschen diese Themen? Bringen unsere Aufführungen Fragen auf oder regen sie gar zum Widerstand an? Austausch von Wissen, Kompetenz und Erfahrung über die Grenzen eines einzelnen Landes hinweg, wie es die schwedische ASSITEJ mit dem Programm »Shadowland« nun getan hat, kann der erste Schritt sein, um die künstlerische Arbeit zu stärken und sie zu ermutigen, Rassismus entgegenzuwirken.

Was, wenn die von den Rechtsextremen für sich vereinnahmte schweigende Mehrheit nicht mehr schweigen würde? Wenn wir laut widersprechen, gar formulieren würden, wie wir uns das Zusammenleben vorstellen. Wenn wir das ins Theater, auf die Bühne bringen würden. Wenn dabei ganz selbstverständlich Künstler aller Herkünfte diese Geschichten spielen würden?

Was, wenn der Junge aus dem Kindergarten – wenn nicht im Stadtbild, so doch wenigstens auf der Bühne – sich selbst wiederfinden würde?

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