Angriff aufs Weltbild

Eine Nabelschau der Masters of the Universe mit Charly Heidenreich (16), Philipp Karau (37), Annika Prevrhal (14), Anton Prevrhal (16), Mark Schröppel (36) und Jasmin Taeschner (13)

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Foto: Frank Igel
Foto: Frank Igel

Einladen und Kennenlernen

Mark Schröppel _ Bevor wir mit MOTU anfingen, hatten Philipp und ich 2011/12 bereits zwei Kinderstücke gemacht: „Der Fischer und sein Mann“ für die Education-Abteilung der Duisburger Philharmoniker und „Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen“ auf Kampnagel. Wir hatten beide Male Kinder aus dem Publikum live auf der Bühne. Was mir damals gut gefallen hat, war diese besondere Energie, die diese Kinder erzeugt haben – und wie diese wahrgenommen wurde. Die Stücke waren teilweise grenzüberschreitend: Es wurde gemeinsam Krieg gespielt, Kinder lagen als Verletzte verkleidet auf der Bühne. Dadurch habe ich gelernt, dass man mit Kindern auf der Bühne viel mehr machen kann, als man eigentlich denkt. Wir haben ein brachliegendes Potenzial erkannt.

Philipp Karau _ Eine weitere Entdeckung war, dass die Art, wie wir Kindertheaterstücke gemacht haben, auch immer eine Ebene für Ältere miterzählt hat. Umgekehrt kam das, was uns an „Erwachsenentheater“ gut gefällt, auch bei den Jüngeren an. Wir haben gemerkt, dass der Weg von den „Erwachsenenstücken“, die wir vorher gemacht haben, zu sogenannten Kinderstücken gar nicht so weit war und dass man diese Unterscheidung gar nicht so stark machen muss. So ist der Wunsch gewachsen, für ein altersgemischtes Publikum zu produzieren. Gleichzeitig wollten wir dabei die Perspektiven der Kids stärker einbeziehen und haben nach jungen Kolleg*innen Ausschau gehalten, mit denen wir kooperieren können. Wir sind es gewohnt, alles selbst zu machen und im Kollektiv zu arbeiten. So sind wir schnell auf die Neue Schule Hamburg gestoßen. Wir dachten, dort wird Selbstorganisation und eigenverantwortliches Handeln großgeschrieben. Die Kinder dort kennen es, ohne einen festen Lehrplan selbst Projekte zu machen. Wir vermuteten also, dass es dort im weitesten Sinne Brüder und Schwester im Geiste gibt.

Charly Heidenreich _ Die Neue Schule Hamburg (NSH) ist eine demokratische Schule nach dem Prinzip der Sudbury Valley School, die 1968 in den USA gegründet wurde. Deren Konzept folgt der Annahme, dass der Mensch das lernt, was zum jeweiligen Zeitpunkt für ihn am wichtigsten ist. Es gibt keinen festen Stundenplan, keine Klassen und nur von Seiten der Schüler*innen initiierten Unterricht. Ich bin Autodidakt und eigne mir Dinge am liebsten eigenständig an, manchmal unter Zuhilfenahme verschiedener Medien. Alternativ besteht bei uns die Möglichkeit, sich jemanden zu suchen, der über ein bestimmtes Wissen verfügt. Das kann ein*e Mitarbeiter*in sein oder auch ein*e Schüler*in. Mit dieser Person kann man dann eine feste Verabredung treffen, zu der dann auch andere dazukommen können, und man befasst sich gemeinsam mit der Sache.

Entscheidungen, die an anderen Schulen durch die Schulleitung getroffen werden, trifft bei uns die wöchentlich tagende Schulversammlung – unsere Legislative und damit das wichtigste Gremium an der Schule überhaupt. Die Teilnahme ist freiwillig, und jeder hat eine gleichwertige Stimme, sowohl Mitarbeiter*innen als auch Schüler*innen. In der Schulversammlung werden alle die Schulgemeinschaft betreffenden Anliegen gemeinsam diskutiert und basisdemokratisch darüber abgestimmt, wie z. B. Regeln, die das tägliche Zusammenleben erleichtern, oder neue Anschaffungen. Das zweite wichtige Gremium ist das Lösungskomitee, die Judikative einer demokratischen Schule, das bei Regelverstößen oder bei nicht eigenständig lösbaren Konflikten tätig wird. Es ermöglicht den Mitgliedern der Schulgemeinschaft einen geschützten Raum zur Begegnung auf Augenhöhe. Andere organisatorische Aufgaben werden von weiteren Gremien und Teams übernommen. Wenn ich Mitglied in einem Gremium oder Team werden möchte, stelle ich mich in der Schulversammlung dafür zur Wahl. Sobald ich für diese Position gewählt wurde, muss ich an den entsprechenden Treffen verbindlich teilnehmen, um die Aufgaben, zu denen ich mich verpflichtet habe, gewissenhaft erledigen zu können. Wenn alles gut läuft, lernt man ganz nebenbei Schulangelegenheiten und auch sich selbst zu organisieren, Verantwortung zu übernehmen, anderen konstruktiv Feedback zu geben und selbst welches anzunehmen. An der NSH fängt das schon mit ganz jungen Menschen an. Der Altersunterschied zählt dabei nicht. Auch das Erlernen der üblichen Kulturtechniken, geschieht oftmals nebenbei, so habe ich z. B. Lesen, Schreiben und Rechnen gelernt, ohne darin jemals formalen Unterricht erhalten zu haben.

Annika Prevrhal  _ Nachdem ihr beiden euch dem Einladen- und Kennenlernen-Komitee vorgestellt hattet, habt ihr eine Woche bei uns hospitiert und eure bisherigen Projekte vorgestellt. Das hat irgendwie ganz gut gepasst. Als es sich rumgesprochen hat, dass es jetzt die Möglichkeit für Theater auf Kampnagel gibt, gab es tatsächlich eine ganz schöne Aufregung. Alle so: „Wow! Schauspielern!“ Am Anfang waren wir eine riesige Runde, aber jedes Mal, wenn wir uns wieder getroffen haben, waren weniger Leute dabei.

Jasmin Taeschner _ Viele hatten die Vorstellung: Wir stellen uns auf die Bühne, und Philipp und Mark sagen, wo’s lang geht. Geben uns einen Text, verteilen die Rollen und sagen, was man tun soll. Und dann fanden viele das doch ziemlich komisch und hatten keine Lust drauf. Am Ende der Woche waren es dann nur noch zwischen zehn und zwölf Leuten, die bei „Lucky Strike“ mitgemacht haben.

PK _ Mark und ich haben Trailer und Fotos von früheren Arbeiten gezeigt und erklärt, wie wir Theater machen und was uns daran wichtig ist. Wir haben klargemacht, dass wir aus der Performance- Welt kommen und wir uns für klassisches Theater nur bedingt interessieren. Es sollte deutlich werden, dass wir nur das thematisieren, was uns auch selbst reizt. Es ging nicht darum, ein Workshop-Format oder eine Theater-AG zu bewerben. Gleichzeitig haben wir nach jungen Leuten geschaut, die ihre eigenen künstlerischen Impulse einbringen wollen und irgendwie auch Lust darauf haben, ihre Exzentrik mit uns auszuleben. Letztlich hatten wir den Eindruck, dass diejenigen dabei geblieben sind, die offen waren dafür, was Theater neben Schauspiel auch noch sein kann. In dieser Konstellation konnten wir dann ganz gut rumspinnen, kreativ gemeinsam Pferde stehlen. Über die Jahre sind wir schließlich auf einen MOTU-Kern von fünf bis sechs Kids und drei Erwachsenen zusammengeschrumpft.

CH _ Ich glaube, bei mir war es am Anfang vor allem so, dass ich mich sehr gesehen gefühlt habe. Zwischen uns gab es eine Grundsympathie. Ich war schon, als ich klein war, sehr anders, sehr exzentrisch. Ich hatte Ideen, die so woanders nicht reingepasst haben. Z. B. habe ich mir meine Hochsteckfrisuren nicht mit Haarspangen, sondern mit Wäscheklammern gemacht. Als ihr uns bei den ersten Gesprächen die verwüstete Bühne von „Solidarität ist die …“ gezeigt habt, hatte ich einfach ein gutes Gefühl, weil ich mir gedacht habe: Ihr seid Menschen, die genauso „verrückt“ sind wie ich.

MS _ Mit „Lucky Strike“ haben wir eigentlich bei Null angefangen. Wir haben uns daran orientiert, wie Philipp und ich SKART-Stücke angehen. Theater wie Erwachsene zu machen, das war ja auch das Wagnis, das Ziel! Wir wollten es für die Jüngeren auch nicht besonders spannend oder unterhaltsam gestalten. Nach dem Motto: Philipp und Mark denken sich was aus, bereiten das vor mittags vor, ihr kommt dann nachmittags dazu, und das Ganze findet ein bis zwei Mal die Woche als eine Art AG statt; dann stehen da die Kostüme und die Farbtöpfe, und ihr springt einfach rein und legt los. Dann wärt ihr ja nicht an der Konzeption beteiligt gewesen! Wir haben von Beginn an gesagt, dass wir nicht daran vorbeikommen würden, uns gemeinsam am Tisch zu besprechen und die Entwicklung des Stücks zusammen zu planen.

PK _ Es war unser Ansatz, den künstlerischen Erfahrungsvorsprung, den wir aufgrund unseres Alters hatten, möglichst transparent zugänglich zu machen und zur Disposition zu stellen. Wir haben euch eigentlich von Anfang an als unsere jüngeren Kolleg*innen behandelt und euch auf der künstlerischen Ebene ganz bewusst nicht gepampert. Daraus hat sich dann eine ganz eigene Struktur entwickelt.

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