Geheimnistheater

von

Jeder ein Spion: das geheime Leben der Einzelnen
Eine Schlüsseldimension von Top Secret International betrifft die Subjektivität und den Körper der Zuschauerin. Nachdem die im Foyer der Glyptothek ausgehändigten Kopfhörer aufgesetzt sind und das dazu verabreichte, seltsam klobige Notizbuch gezückt ist, begebe ich mich auf meinen eigenen Weg auf und über die Museumsbühne. Im Laufe der Aufführung sind verschiedene Rollen einzunehmen und zu spielen. Das Hinein- und Hinauskatapultieren aus diesen kurzen Rollenspielen konfrontiert mich gleich mehrfach mit meiner eigenen Position zu Fragen des Geheimen. „Jeder Mensch ist ein Spion in einer gewissen Hinsicht”, sagt Kosta, seines Zeichens Sicherheitsexperte und Konfliktforscher, zu Beginn des Stücks. Er kündigt damit einen die Inszenierung – und damit jeden Teilnehmer – begleitenden Fragekomplex an: Eignet man sich zum Spion? Könnte und würde man mitmachen? Spioniert man nicht ohnehin schon, im Alltag? Die Ja/Nein-Fragen, die die computergenerierte Stimme stellt und deren Antworten zum Teil den Weg durch den Parcours bestimmen, testen – und provozieren Reflexionen über – die eigene Bereitschaft, am Geschäft mit dem Geheimen zu partizipieren. So muss ich über Gesten und Bewegungen signalisieren, ob ich Informationen über andere besäße und speicherte, die diese erpressbar machten; ob ich bereit sei, jemanden für Informationen zu bezahlen, die diese Person eigentlich nicht weitergeben dürfe; ob ich der Meinung sei, dass Menschen vor bestimmten Inhalten durch Zensur geschützt werden sollten.
Das Geheimnis ist konstitutiv für die Entstehung von Privatheit. Als soziale Form hat das Geheimnis Effekte der Isolation und Individualisierung, schrieb Simmel (1992). Es handelt sich daher zunächst um ein individuell gelagertes Phänomen, das jedoch nur auf der Basis sozialer Beziehungen zu anderen denkbar ist. Das Geheimnis ist gewissermaßen eine Verbindungstechnik, die über Verhüllung funktioniert. Wie viel behält man für sich, und wann, und wem gegenüber? Gibt es Verborgenes, Privates, das man vor den Augen, Ohren und Algorithmen anderer schützen möchte? „Schützt dich der Geheimdienst“, fragt mich die kalte, elektronisch generierte Stimme, „oder musst du dich vor ihm schützen?“ Mehrfach werde ich zum Observieren von anderen aufgefordert. Was kann ich entdecken oder enthüllen hinter den Bewegungen, Aktivitäten und Ausdrücken anderer? Jede Beziehung zwischen Menschen, so Simmel, lasse sich dadurch charakterisieren, „wieviel Geheimnis in ihr oder um sie ist“ (S. 410). Kleine Übungen locken mich aus der Betrachter- und Zuhörerrolle in die eines aktiven Observierens und Aufzeichnens. Ich probe bewusst unauffälliges Bewegen und werde zu einem Dokumentenaustausch mit einem Fremden angeregt, der keine Aufmerksamkeit erregen soll.
Die teils verkrampfte Körperlichkeit des Beobachtens, Bewegens und des Simulierens verweist auf die affektive Kraft des Geheimnisses. Simmel betonte, dass das Geheimnis ein Kräftefeld organisiert. Es äußert sich in Affekten von Ausnahmestellung und Macht genauso wie als „verführerische[r] Anreiz“ (Simmel 1992: 409) bzw. „Anziehungskraft des Abgrunds“, die sich als „Lust“ im Augenblick der Enthüllung äußern kann (S. 410): als Begehren nach dem Verrat. Die Installation von Top Secret International spannt ein solches Kräftefeld auf. Sie produziert Gefühle der Unsicherheit und der Unheimlichkeit (Beyes u. Steyaert 2013), nicht zuletzt über den Gedanken an das eigene Beobachtetwerden oder im Moment der Übergabe eines Zettels, auf dem ich meine größte Angst notieren sollte, an einen Fremden. Die Inszenierung provoziert aber auch ambivalente Gefühle geteilter Macht und Stärke. Man erfährt ja Geheimnisse, glaubt man, und wird für einen Moment zum Komplizen und Geheimnisträger; man wird eingeweiht in Abläufe sonst unsichtbarer Arkanpolitik und ihrer Staatsgeheimnisse und fühlt die Verlockung des Verrats. Am Ende erhält jeder Teilnehmer eine Beurteilung der persönlichen Eignung für die Arbeit im Geheimdienst (zusammen mit einer Art Werbeflyer vom BND, das den Titel „Einzigartig vielseitig geheim” trägt). Meine Einstufung war ziemlich gut. (Vermutlich war sie das bei allen.) Und wäre es in diesem Moment nicht enttäuschend gewesen, wenn es anders gewesen wäre? Das Stück spielt auf affektiver und reflexiver Ebene mit Simmels Einsicht, dass das Geheimnis konstitutiv für die eigene Subjektivität ist.

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