Komplexität ertragen
Fünf Theatertexte von einem nur scheinbar weit entfernten Kontinent
von Leyla-Claire Rabih und Frank Weigand
Seit einigen Jahren hat sich eine neue Generation von Theaterautoren aus den ehemaligen französischen und belgischen Kolonien südlich der Sahara auch in Europa durchgesetzt. Die meisten dieser Künstler begannen ihre Karriere als Schauspieler und schöpfen auch in ihrer Autorentätigkeit aus dem anarchischen Spiel mit Theatercodes, das häufig die Gewohnheiten eines westlichen Publikums erschüttert.
Intellektuell prägend für diese Generation sind zwei wichtige Vorbilder: der in Martinique geborene Politiker und Lyriker Aimé Césaire (1913 – 2008) und der kongolesische Lyriker, Dramatiker und Romancier Sony Labou Tansi (1947 – 1995). Césaire, der als Erster eine franko-afrikanische Identität verteidigte, verlieh ab den 1940er Jahren mit der »Négritude«- Bewegung einem neuen literarischen und politischen Selbstbewusstsein Ausdruck. Labou Tansi prangerte einerseits in grotesken Dramen die monströsen Auswüchse der postkolonialen Diktaturen an und erfand andererseits eine Sprache, die das »reine« Standardfranzösisch, das nach wie vor an den Schulen der ehemaligen Kolonien gelehrt wurde, durch die Verzerrung von Syntax und Vokabular »afrikanisierte«: »Es stimmt, dass die ersten afrikanischen Schriftsteller dazu neigten, die französischen Vorbilder zu imitieren, durch die sie selbst literarisch geprägt waren: aus Respekt für eine Sprache, die sie nur unzureichend beherrschten. Ich denke, man muss versuchen, in die Wörter hineinzublasen, wie man in ein Glas bläst, die Wörter und die Syntax durcheinanderzuwirbeln und seine eigene Sprache zu erschaffen. (...) Wie kann ich meine eigene Sprache im Inneren einer Sprache finden, die zwar eine fremde Sprache ist, doch gleichzeitig auch mir gehört? Wie kann ich durch sie meinen Traum, die Dimension meines Traums innerhalb irgendeiner bestehenden Realität erreichen?« (Interview 1995) Sowohl Césaire als auch Labou Tansi stellten die Frage nach Identität und die Auseinandersetzung mit politischen Machtverhältnissen ins Zentrum ihrer Arbeit. Kunst war für sie kein ästhetischer Selbstzweck, sondern Mittel im Kampf um Anerkennung und zur Untersuchung historischer Verwerfungen – vom Sklavenhandel bis hin zu den gewalttätigen Konflikten der Gegenwart. »Boxer la situation – Gegen die Verhältnisse anboxen« nennt auch Dieudonné Niangouna, der erste unserer Autoren, als Ziel und Voraussetzung seiner Theaterarbeit.
Diese 19. Ausgabe von SCÈNE ist dem Schaffen von fünf frankophonen Theatermachern gewidmet und den Fragen, die sie uns – dem europäischen bzw. deutschen Publikum – stellen: Wie nehmen wir als Leser und Zuschauer Texte wahr, die ein anderes Verständnis von Narration und Theatralität haben, unsere eurozentrische Perspektive Lügen strafen und vollkommen selbstverständlich mit sprachlicher, formaler und kultureller Vielfalt umgehen?
Die vorliegende Anthologie ist also in mehrfacher Hinsicht ein Wagnis. Einerseits bemüht sie sich, dem Leser Texte nahezubringen, die ihm zunächst einmal reflexartig weit entfernt erscheinen mögen. Andererseits ist auch die Übersetzung dieser Art zeitgenössischen Theaters ein komplexes Unterfangen: Wie übersetzt man eine Sprache, die sich an der Sprache der Kolonisatoren rächt, sie verzerrt, ironisiert oder mit Wendungen anderer Lokalsprachen durchsetzt? Und – was im aktuellen deutschen Kontext beinahe noch schwieriger ist – wie vermeidet man dabei rassistisch aufgeladene Klischees? Einfache Antworten kann es auf diese Fragen nicht geben ...
Das Faszinierende an den hier präsentierten Künstlern ist ihre Mobilität und die Leichtigkeit, mit der sie die scheinbaren Grenzen zwischen »Erster« und »Dritter Welt« überwinden. Fast alle leben sie zwischen Europa und ihrem Heimatland, profitieren zwar von den Vorteilen europäischer Kulturnetzwerke und Fördermöglichkeiten, ohne dabei jedoch die Produktion in der Heimat zu vergessen. Diese Position zwischen den Kontinenten beschreibt auch Dieudonné Niangounas Monolog »Nennt mich Muhammad Ali«.