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Theater unser
Wie die Passionsspiele Oberammergau den Ort verändern und die Welt bewegen
von Anne Fritsch
Paperback mit 200 Seiten, Format: 130 x 200 mm
ISBN 978-3-95749-394-1, Mit zahlreichen Abbildungen
Was ist da los in Oberammergau? Seit beinahe 400 Jahren führen die Menschen in dem oberbayerischen Alpendorf alle zehn Jahre die Passion Christi auf. Alle zusammen. Großeltern, Eltern, Kinder und Enkelkinder stehen gemeinsam auf der Bühne. Sie folgen einem Gelübde ihrer Vorfahren, das einst die Pest fernhalten sollte. Dieses Buch will ergründen, warum die Theaterbegeisterung der Dorfbewohner bis heute ungebrochen ist. Es blickt hinter die Kulissen und begleitet die Entstehung der Passionsspiele im Jahr 2022 mit ihren über 2000 Mitwirkenden. Die Autorin Anne Fritsch hat mit vielen von ihnen gesprochen: über ihre Motivation, über besondere Rituale wie etwa den Haar- und Barterlass und über das Leben mit Theater auch in Zeiten der Corona-Pandemie. Und darüber, warum Aufgeben keine Option ist.
Alle zehn Jahre hören die Menschen in einem Dorf in Oberbayern für eineinhalb Jahre auf, sich die Haare zu schneiden. Sie tun das, um die Kreuzigung Christi nachzuspielen. Das machen sie seit beinahe 400 Jahren. Was einigermaßen kauzig klingt, ist ein Ereignis von überregionalem Interesse und seit 2014 sogar „immaterielles Kulturerbe“: die Oberammergauer Passionsspiele. Fast eine halbe Million Menschen pilgern im Passionsjahr aus aller Welt ins Voralpenland, um sich dieses Spektakel anzuschauen. Und diese Spiele sind keineswegs eine in die Jahre gekommene Angelegenheit: Die Besetzung 2022 ist die jüngste in der Geschichte, die Motivation im Ort größer denn je.
Als ich das erste Mal hörte, dass es in einem Dorf namens Oberammergau ein Passionsspiel gibt, war ich elf Jahre alt. Es war 1990, das Jahr, in dem Christian Stückl zum ersten Mal Spielleiter war. Das wusste ich damals nicht. Ich saß mit meiner Familie in München im Biergarten. Am Chinesischen Turm im Englischen Garten. Eine Freundin meiner Eltern erzählte, sie werde im Sommer nach Oberammergau fahren, zu den Passionsspielen, die nur alle zehn Jahre stattfinden. Alle außer mir wussten, wovon da die Rede war. Ich habe nicht nachgefragt. Aber etwas ist hängengeblieben. Dieses „nur alle zehn Jahre“ und dieses „das ganze Dorf spielt mit“.
Bis ich die Passionsspiele selbst sehen sollte, vergingen noch zwanzig Jahre. Ich studierte. Theaterwissenschaft, Germanistik und Jüdische Geschichte, anschließend Kulturjournalismus. An die Passionsspiele dachte ich nicht mehr, die Spiele 2000 gingen von mir unbemerkt über die Bühne. 2010 dann arbeitete ich als 10 Theaterkritikerin, Christian Stückl war Intendant des Münchner Volkstheaters geworden. Mit ihm war Oberammergau wieder in meinen Dunstkreis gekommen, quasi der Berg zum Propheten, oder: die Spiele zur Kritikerin. Ich bekam eine Einladung zur Premiere. Es war Mai und es war kühl, als der Shuttle-Bus vom ZOB, dem Zentralen Omnibusbahnhof in München, abfuhr. Wir waren nicht eben elegant gekleidet, eher wie für eine Exkursion in die Berge, mit Skiunterwäsche, warmen Jacken und dicken Socken. Und genau das war es ja auch: eine Exkursion in die Berge. Auf der Garmischer Autobahn begann es zu schneien. Im Theater, das zwar im Zuschauerbereich überdacht, aber zur Bühne hin offen ist, war es bitterkalt. Am Eingang wurden rote Fleecedecken verteilt, die famos zu den Gewändern der Kardinäle passten, die neben uns im Zuschauerraum saßen.
Diese Premiere war eine ungemein feierliche Angelegenheit. Man spürte, dass dieses Dorf seit zehn Jahren darauf gewartet hatte, wieder die Geschichte vom Leiden Christi zu spielen. Ich hatte vorher nicht genau gewusst, was mich da erwartete, hatte mit einem Laienspiel im großen Format gerechnet. Womit ich nicht gerechnet hatte, waren (neben der unglaublichen Kälte) der Chor, das Orchester, die Ausstattung. Die Professionalität. Ich war überwältigt. Und ich, die ich zwar in der Grundschule den Religionsunterricht besucht hatte, aber einem eher religionsfernen oder religionsentfernten Haushalt entstamme, lernte eine ganze Menge über die letzten Tage im Leben von Jesus. Als dieser, gespielt von Frederik Mayet, am Ende eine gefühlte Ewigkeit halbnackt am Kreuz hing, während ich trotz des zweiten Paares Socken, das ich mir in der Pause im örtlichen Drogeriemarkt gekauft hatte, auf meinem Sitz zitterte vor Kälte, dachte ich, auch das gliche einem Wunder, wenn der keine Lungenentzündung bekäme.
Er war noch nicht vom Kreuz genommen, da war mir klar, dass ich mir dieses Spiel nicht noch einmal entgehen lassen würde, dass ich auch in zehn Jahren dabei sein wollte. Ich wollte herausfinden, was da los ist in Oberammergau. Warum sie alle so viel auf sich nehmen für dieses Theaterspiel. Was sie motiviert. Woher ihre Begeisterung kommt. Ist es die Religion oder das Theater, an das sie glauben und das sie zusammenhält? Woher kommt die Professionalität, mit der sie ihre Passion angehen? Was sind die Geschichten hinter den Spielen? Wie entstehen sie? Wie haben sie sich über die Jahrhunderte verändert? Wie den Ort?
Ungefähr ein Jahr vor der geplanten Premiere 2020 habe ich begonnen, die Vorbereitungen für die Spiele zu verfolgen, habe einen Blog für die Passionsspiele geschrieben, Proben besucht, mit vielen Menschen in Oberammergau gesprochen. Und je mehr sie mir erzählt haben, desto faszinierter war ich von all den Geschichten rund um diese jahrhundertealte Tradition. Davon, wie stark das gemeinsame Theaterspiel das Leben im Ort prägt. Wie die Menschen ihr Leben nach der Passion planen. Von der Relevanz, die sie hat. In diesen Tagen würde man sagen: Hier ist das Theater systemrelevant. Als im 17. Jahrhundert die Pest in Oberbayern und Oberammergau wütete, suchten die Dorfbewohner ihre Rettung im Theaterspielen. Sie gelobten, alle zehn Jahre das Leiden Christi aufzuführen, um von der tödlichen Krankheit verschont zu werden. Angeblich starb seitdem im Ort niemand mehr an der Pest. Und etwas von diesem Glauben daran, dass Theater die Welt retten kann, ist den Ammergauern bis heute geblieben.
Nun, da ich das schreibe, wurden die Passionsspiele 2020 abgesagt, verschoben auf 2022. Eine neuerliche Seuche hat die Proben zwei Monate vor der Premiere zum Erliegen gebracht: das Coronavirus. Denn Oberammergau, das ist das Gegenteil von Quarantäne, von sozialer Isolation: Oberammergau, das ist Theater, das aus dem Vollen schöpft. Wo es auf der Bühne alles gibt, und von allem jede Menge: Orchester, Chor, Alte, Junge, Kinder, Tiere … Ein Theater ohne Maß – und ohne Mindestabstand.
Kurz nach der Absage der Passion 2020 habe ich mit Christian Stückl telefoniert. Es war die Zeit des Lockdowns, als alle von einem Tag auf den anderen auf sich gestellt waren. Als alle möglichen Wörter auf einmal mit der Vorsilbe „Home-“ versehen wurden. Home-Office, Home-Schooling, Home-Entertainment. Als alles, was eigentlich draußen passiert, auf einmal zuhause stattfinden musste. Nur Home-Theater, das funktioniert eben nur bedingt (das wurde nach einer Weile Streaming-Euphorie deutlich spürbar). Und Home-Passionsspiele erst recht nicht. Der sonst nimmermüde und immer enthusiastische Regisseur klang bedrückt, traurig. Doch schon am Ende unseres Telefonats blickte er wieder nach vorn: Die Passion 2022 wird kein Nachholen der Passion 2020 sein. Wieder werden er und sein Team neu auf die Welt schauen, die sich gerade so stark verändert. Wohin wissen wir noch nicht. Die Gewissheit, dass es die Passionsspiele seit fast 400 Jahren gibt, dass sie die Reformation, die Spanische Grippe und zwei Weltkriege überlebt, allerlei Legitimationskrisen und noch mehr heftige Streitereien im Dorf durchgestanden haben, relativiert in diesen Tagen einiges. Es geht immer irgendwie weiter. Auch das ist eine Botschaft dieser Spiele, die aus einer heftigen Krise heraus entstanden sind und denen verschiedenste Krisen immer ein Motor für ihre Weiterentwicklung waren. Und so bedeutet das Schreiben dieses Buches in einer Zeit, in der die Welt stillsteht, auch Mut zu schöpfen. (Ostern 2020)
Kapitel | Seite |
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Kapitel | Seite |
Prologvon Anne Fritsch | Seite 9 |
Oberammergauvon Anne Fritsch | Seite 14 |
Theater im Kollektivvon Anne Fritsch | Seite 29 |
Schuld und Sühnevon Anne Fritsch | Seite 40 |
Mitspielen = Dazugehörenvon Anne Fritsch | Seite 59 |
Was lange gärtvon Anne Fritsch | Seite 72 |
Vom Ende als Anfangvon Anne Fritsch | Seite 87 |
Making-ofvon Anne Fritsch | Seite 105 |
Jesus Christ Superstarvon Anne Fritsch | Seite 140 |
Backstagevon Anne Fritsch | Seite 151 |
Die neue Seuchevon Anne Fritsch | Seite 166 |
Zeit für Utopienvon Anne Fritsch | Seite 179 |
Epilogvon Anne Fritsch | Seite 190 |
Dankvon Anne Fritsch | Seite 192 |
Quellen/Anmerkungenvon Anne Fritsch | Seite 194 |
„Der Band bietet eine Fülle unterhaltsamer und interessanter Backstage- Informationen über die Mitspieler und ihr Dorf. Wer wusste etwa, dass Passionsspielleiter Christian Stückl mal Pfarrer werden wollte? Hübsche Einstimmungslektüre vor der Passionspremiere Mitte Mai.“Münchner Merkur
„Das alles wirkt gar nicht kleingeistig, sondern interessant, sogar sympathisch, weil Anne Fritsch, die seit vielen Jahren profilierte freie Autorin der DEUTSCHEN BÜHNE ist, sich in ihrem Buch "Theater unser" weder über die außergewöhnlichen Vorgänge lustig macht, noch sich dieser fast 400 Jahre alten Festspielbesonderheit devot zu Füssen wirft. Die Autorin begegnet ihrem Gegenstand mit Empathie, leugnet nicht, von den Festspielen, vor allem auch vom Geschehen drumherum, fasziniert zu sein, bewahrt sich aber die notwendige Distanz. Und so gelingt es ihr, mit thematischer, nicht historischer Gliederung, sowohl 400 Jahre Festspielgeschichte zu verlebendigen, als auch für die aktuelle Situation im Dorf und auf dessen Bühne zu interessieren.“Die Deutsche Bühne
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Zur Autorin
Anne Fritsch
Weitere Beiträge von Anne Fritsch
Epilog
Während ich dieses Buch geschrieben habe, ist die Welt eine andere geworden. Sie hat eine…
Performing = belonging
Oberammergau has a good 5000 inhabitants. About half of them take part in the play: in…
Guilt and atonement
The more intense my engagement with the Passion Play, the more I realise that the…
Bubbling under
The disputes that erupted when Christian Stückl began reforming the play in 1990 did not…
Dank
Ein ganz großer Dank an Frederik Mayet, der nicht nur sofort an dieses Buch geglaubt hat,…
Bibliographie
Beiträge von Anne Fritsch finden Sie in folgenden Publikationen:
![Cover Heft 09/2022](https://assets.theaterderzeit.de/img/Magazine/2903/Titel_09_2022_RGB_72dpi_2D_small.jpg)
Heft 09/2022
BRACK IMPERieT
„Hedda Gabler“ von Vegard Vinge und Ida Müller in Oslo
![Cover Die Passion hinter dem Spiel](https://assets.theaterderzeit.de/img/Book/2901/BtP A4 - cover - 72dpi, RGB_skaliert_small.jpg)
![Cover Heft 06/2022](https://assets.theaterderzeit.de/img/Magazine/2899/Titel_06_2022_RGB_72dpi_2D_small.jpg)
Heft 06/2022
Frank Castorf
„Wallenstein“ in Dresden
Jeden Monat die wichtigsten Themen bei Theater der Zeit
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