Keine Tabus?

Christoph Schroth inszeniert Faust I und II am Schweriner Staatstheater 1979

von

3.7 Altes und Neues

Wo er kann, wendet Schroth Goethes Text in „heitere Verfremdung“.990 In „Auerbachs Keller“ sehen wir eine depressive, sächselnde Karnevalsgesellschaft in einer klar im Jetzt angesiedelten Kneipe. „Die lustigen Zecher mit Pappnasen und dem Gebaren billigster Vergnüglichkeit führen die Szene zum ätzenden Spott hin“, ganz so wie es im Berliner Ensemble 1953 gemacht worden ist. Beginnt Mephisto die Szene in Schwerin mit „Wir kommen erst aus Spanien zurück“, so antworten alle Zecher mit einem sehnsüchtigen „Spanien!“ und Altmayer hebt leise und zaghaft an: „Es lebe die Freiheit“, bekommt jedoch schnellstens von Siebel den Mund verschlossen. Statt der Freiheit lässt er jetzt einen Luftballon über den Tisch flattern und die Weine Mephistos werden vom Kellner auf einem Schnapswägelchen reingefahren. Alle bedienen sich reichlich. Eine bissige Satire auf das „Spirituosenland“ DDR.991 Neben beißendem Spott über die Sehnsucht nach dem Süden und anderen mehr oder weniger originellen Ideen (Homunculus als Fernseher, die Hexenküche als Travestieshow) findet Schroth überzeugende neue Lösungen für die Liebe zwischen Gretchen und Faust, die so ehrlich und unpolitisch noch auf keiner großen DDR-Bühne zuvor zu sehen waren. Gretchen wird hier weder zur keifenden Kleinbürgerin abgestempelt, noch zu einer „Revolutionärin der Liebe“ verklärt. So sagt sie ihr „er liebt mich, er liebt mich nicht“ beim Wäscheklammernzählen auf. „Wie Faust und Gretchen beim Wäscheaufhängen (in der Gartenszene) zusammenfinden, wie sich ihre Hände berühren, wie sie sich von anderem redend, zu ihrer entstehenden Liebe rückhaltlos bekennen, ist eine große Leistung. […] Die Margarethe der Bärbel Röhl wird in diesen Szenen zum Ereignis der Aufführung.“992

Auch Faust-Darsteller Horst Kotterba gelingt an der Wäscheleine eine überzeugende und natürliche Darstellung jugendlicher Verliebtheit, ganz anders als man sie auf den DDR-Bühnen bisher kennt. Bei „Meine Ruh ist hin“ wälzt Gretchen sich in ihrem Bett, klammert sich an die Bettpfosten. Die Urfaust-Zeile „Mein Schoß! Mein Schoß!“ wird auch bei Schroth wieder hereingenommen. Auch das Religionsgespräch findet schließlich direkt in diesem Bett statt. Ungemein deutlich inszeniert Schroth auch die tierische, satanische Seite des Begehrens in der Orgie der Walpurgisnacht, in der er alle Figuren der Gretchenwelt (Lieschen, Valentin, Marthe usw.) wieder auftreten und miteinander kopulieren lässt und die pornografischen Paralipomena Goethes begleitend zum Einsatz bringt: „Vasall, Du bist erprobt, / Hierdurch beleih ich Dich mit Millionen Seelen, / Und wer des Teufels Arsch so gut wie Du gelobt, / Dem soll es nie an Schmeichelphrasen fehlen.“

3.8 Faust als Experimentierraum

Die Bühne – „überhaupt nicht die Assoziation eines Studierzimmers, sondern eher einer Fabrikhalle“993 – zeigt einen Theaterraum mit Wänden aus Wellblech und Glühlampen, die von der Decke hängen. Das Laboratorium Faust ist die Bühne selbst. Mitten im Studierzimmer liegt eine halbsezierte Leiche auf einer Bahre. „Das Stück wird von der Faust-Figur her erzählt. Also ist das Studierzimmer der Ausgangspunkt für alle weiteren Stationen der Handlung und zugleich als zentraler Schauplatz Bezugssystem für alle durch Vorhang und Fabel fixierten Positionen des Stücks.“994

Die Bühne zeigt sich auch später in der Aufführung durchgehend im Arbeitszustand. Faust wird vorgeführt als ein Leerraum, ein „Spiel-Raum“995, der in geschickten Verwandlungen immer neue Szenerien ermöglicht. „Vorzüge: Die Konstruktion erwies sich als funktionell, Umbauten gingen rasch und ziemlich geräuscharm vor sich, so daß schnell gespielt werden konnte, die Handlung sich rasch abwickelte.“996

Die nahtlosen Übergänge zwischen den szenischen Einheiten Goethes sind das entscheidende inszenatorische Moment, dass dieser Aufführung ihren Rhythmus und ihre Spannung und letztlich den damit einhergehenden Unterhaltungswert verschafft. Diese Effekte hatte auch Dresen schon eingesetzt. Die Videoaufzeichnung gibt von Schroths Verfahrensweise beredtes Zeugnis.997 Er potenziert etwa die Radikalität in der Abfolge der Ereignisse der Gretchentragödie, indem er die Handlung aus der „Hexenküche“ ohne Umbau oder Verzögerung auf die „Straße“ springen lässt. Faust fällt dem schönen Fräulein gleichsam in die Arme. Direkt nach der Liebesszene zwischen Gretchen und Faust tauchen gleich vier Lieschen hinter den beiden auf, inspizieren grinsend das Liebesnest, während sie hämisch ihre Texte sprechen. Kaum sind die Lieschens verschwunden, betritt sofort Valentin, kostümiert als moderner Soldat, die Szene. Der junge Faust führt den Kampf gegen Gretchens Bruder noch halbnackt, er ist gerade erst aus dem zerwühlten Bett aufgestanden. Nachdem Valentin tot ist, fällt Gretchen neben ihren Decken auf die Knie und betet ihr „Ach neige“. In dieser Geschwindigkeit, in dieser Schlüssigkeit, in dieser Energie hat man diese Sequenz noch nicht gesehen.998

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