Autoren plus Theater: Autorentheater

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Frank Wedekind LULU Regie: Calixto Bieito, Bühne: Rebecca Ringst, Kostüm: Ingo Krügler, Dramaturgie: Ingoh Brux, mit: Sabine Fürst  (Lulu), Thomas Meinhardt (Doktor Schön), Michael Fuchs (Schwarz), Jacques Malan (Dr. Goll), Taner Sahintürk (Alwa), Ralf Dittrich (Schigolch), Ragna Pitoll (Gräfin Geschwitz), Mats Reinhardt (Rodrigo Quast), Foto: Hans-Jörg Michel
Frank Wedekind LULU Regie: Calixto Bieito, Bühne: Rebecca Ringst, Kostüm: Ingo Krügler, Dramaturgie: Ingoh Brux, mit: Sabine Fürst (Lulu), Thomas Meinhardt (Doktor Schön), Michael Fuchs (Schwarz), Jacques Malan (Dr. Goll), Taner Sahintürk (Alwa), Ralf Dittrich (Schigolch), Ragna Pitoll (Gräfin Geschwitz), Mats Reinhardt (Rodrigo Quast), Foto: Hans-Jörg Michel

Als das Schauspiel des Nationaltheaters im Herbst 2006 neu startete, nahmen die Mannheimer den leicht regnerischen Herbstabend so gelassen zur Kenntnis wie die Nachricht, die bekannteste Internet-Suchmaschine Google schicke sich an, für 1,6 Milliarden Dollar das Videoportal Youtube zu kaufen. Wie die Welt sich durch das Internet in den folgenden Jahren verändern sollte, war so wenig absehbar wie die bevorstehenden ökonomischen und territorialen Krisen und Kriege. Theaterautorinnen und -autoren versuchten, auf die weltpolitischen Signale der Zeit zu reagieren, taten dies aber noch mit einer mehr der klassischen Dialogdramaturgie verpflichteten Schreibästhetik. Die Ausdifferenzierung dessen, was wir heute Textfläche nennen, steckte in den Kinderschuhen. Mannheims Oberbürgermeister Peter Kurz war zu dieser Zeit noch zuständig für Bildung, Kultur und Sport, Angela Merkel erst ein knappes Jahr Bundeskanzlerin und die Welt der Ansicht, mit George W. Bush den fragwürdigsten US-Präsidenten ertragen zu müssen.

Theresia Walser war zu diesem Zeitpunkt gerade von Mannheim nach Freiburg umgezogen und meinte auf die Frage, warum in den Jahren zuvor keines ihrer Stücke in der Quadratestadt uraufgeführt worden war: »Bisher gab es keinen Anlass, nach Mannheim eine Uraufführung zu geben. Das ändert sich jetzt mit der Schauspieldirektion von Burkhard C. Kosminski, den ich schon vorher kannte und dem ich gerne etwas von mir in die Hand gebe.« Es war ein großes Kompliment der Autorin in Richtung des Schauspieldirektors. Am ersten Oktoberwochenende war es dann so weit. Das neue Mannheimer Schauspiel eröffnete mit vier Uraufführungen an einem Abend. Auf dem Programm standen Sabine Harbekes »nachts ist es anders. ein reigen«, Wilhelm Genazinos »Fremde Kämpfe«, »Kaltes Land« des Schweizer Autors Reto Finger und eben Theresia Walsers »Ein bißchen Ruhe vor dem Sturm«. Der neue Schauspielchef hatte im Verlauf dieses Eröffnungsmarathons zwei Theatertexte zur Uraufführung gebracht, die unterschiedlicher nicht sein konnten: Hier Reto Fingers schollenschweres Volksstück, das in den Tiefen ländlicher Archaik gräbt und eine Familientragödie aus dem Berner Oberland zu Tage fördert, dort Theresia Walsers leichtfüßige Groteske, die auf den Boom an Hitler-Filmen reagiert und lustvoll die Gespreiztheiten des schauspielerischen Gewerbes vorführt.
Als der Eröffnungsmarathon vorbei war, fragte man sich, welches Motto besser zu diesem Neustart der quantitativen Superlative passte: Hermann Hesses Gedichtzeile »Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne« oder Joseph Beuys’ Überlebensmaxime »Ich ernähre mich durch Kraftvergeudung«. Ein bisschen passte wohl beides zur ersten Spielzeit, in der nicht weniger als 22 Premieren auf dem Programm standen, darunter neun Ur- und eine deutsche Erstaufführung. Eines allerdings war klar. Hier startete eine Schauspielmannschaft, die ernst machte mit dem, was Burkhard C. Kosminski in einem Interview so umschrieben hatte: »Das Mannheimer Nationaltheater steht seit Schiller und der Uraufführung der ›Räuber‹ für eine lange Tradition der Autorenpflege. Und wir haben uns natürlich gefragt, was wir wollen und was die aktuelle Situation der Stadt ist. Wir wollen Theater für die Stadt machen und haben genau deshalb viele Autoren zurückgeholt oder neu entdeckt, die eine Geschichte mit der Stadt haben. Wilhelm Genazino und Theresia Walser zum Beispiel haben hier gelebt, aber keines ihrer Stücke wurde bisher hier uraufgeführt.«
Betrachtet man die Uraufführungen der ersten Spielzeit, wird erkennbar, was der Begriff Autorentheater in der Mannheimer Ausprägung bedeutet und wie breit gefächert schon die Entdeckungen in diesen ersten Monaten waren. Neben damals noch nicht bekannten Autorinnen und Autoren wie Sabine Harbeke oder Reto Finger stand ein Arrivierter wie Wilhelm Genazino, der zwei Jahre zuvor den Georg-Büchner-Preis erhalten hatte. Bereits 1984 hatte er in seinem Roman »Fremde Kämpfe« die Unbehaustheit des modernen Menschen inmitten zunehmend unübersichtlicher Lebensverhältnisse und Arbeitsmärkte umkreist. Die Mannheimer Uraufführung war nicht nur ein Beispiel für eine gelungene Bühnenadaption, sondern hatte mit Simon Solberg einen Regisseur, der zu diesem Zeitpunkt am Anfang seiner Karriere stand und dessen überschäumende Regielust durch Genazinos Sprachmächtigkeit gebändigt wurde. Im März 2007 folgte mit der Uraufführung von »Kopf und Herz« eines jener Aha-Erlebnisse, die man sich im Theater häufiger wünscht. Der Monolog eines Fötus’ mit seiner Mutter stammte vom damals 69-jährigen und fast schon vergessenen Herbert Achternbusch. Inszeniert hatte einmal mehr Burkhard C. Kosminski.

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