Thema: who’s next?

Song of Smoke

Der Zürcher Regisseur und Musiker Thom Luz erschafft vom Nullpunkt des Theaters aus Welten von gesteigerter Aufmerksamkeit

"You can't see or hold it – In der Regie von Thom Luz wird Judith Schalanskys "Atlas der abgelegenen Inseln" zu einer utopischen Gegenwelt, die Klänge und Zeitlichkeit bunkert. Foto Karl-Bernd Karwasz
"You can't see or hold it – In der Regie von Thom Luz wird Judith Schalanskys "Atlas der abgelegenen Inseln" zu einer utopischen Gegenwelt, die Klänge und Zeitlichkeit bunkert. Foto Karl-Bernd Karwasz

Thom Luz hat keine Lust auf Theater. Zumindest nicht an diesem Abend, an dem wir uns unweit des Schiffbaus in einer Kneipe treffen, die in einer ramponierten Industriehalle untergebracht ist und ein wenig wie ein Widerstandsnest wirkt – in dieser Ecke von Zürich, wo die letzten Brachen mit Luxuswohnungen und Renommierbauten überzogen werden. Die Kneipe lärmt gewaltig an diesem Freitag. Aber Luz ist das recht. Er macht als Regisseur gerade eine dieser rasanten Karrieren, die der gefräßige Theaterbetrieb sich wünscht – und ermöglicht: Im vergangenen Jahr wurden zwei Produktionen von Luz, „When I die“ und „Archiv des Unvollständigen“, für Mülheim und die Berliner Autorentheatertage ausgewählt; in der Umfrage von Theater heute wurde der 32-Jährige zum Nachwuchsregisseur des Jahres gewählt. Und nächste Saison wird er als einer von vier Hausregisseuren an das Theater Basel wechseln, das Andreas Beck gerade neu aufstellt. Jetzt also auch noch die Einladung zum Berliner Theatertreffen.

Der Erwartungsdruck ist gewaltig für einen jungen Regisseur wie Thom Luz, der zwischen freier Szene und Stadttheater Schritt für Schritt seine eigene Ästhetik entwickelt hat. Und dies auch in Zukunft tun will. Da kann er es sich nicht leisten, vom Betrieb gefressen zu werden. Insofern ist es verständlich, dass er an diesem Abend nicht zur Premiere der „Schönsten Sterbeszenen in der Geschichte der Oper“ mitkommen will, auch wenn ihm der Titel des neuen Alvis-Hermanis-Abends ausgesprochen gut gefällt. Luz braucht gerade Zeit für sich – und seine Ästhetik des Sinnlichen, an der er seit bald zehn Jahren arbeitet. Was Thom Luz auszeichnet, wurde erstmals richtig deutlich in „Tag der hellen Zukunft“ von 2010: Vom Nullpunkt des Theaters aus erschufen seine Schauspieler eine Welt der gesteigerten Aufmerksamkeit; durch Klangstrukturen, die sich verdichteten, und das Licht, das allmählich verdämmerte, sank man als Zuschauer in einen traumhaften Wachzustand. „Hier ist es schön, hier will ich bleiben.“ – Das ist das Gefühl, das Luz mit seinen Inszenierungen erschaffen will. Und er steht auch dazu, dass er mit seinen Arbeiten „den ganzen Raum erfassen und die Menschen mit dem berühren will“, was er macht. Die raumgreifende Romantik ist auch das ästhetische Programm der Band My Heart Belongs To Cecilia Winter, deren Leadsänger und Gitarrist der Zürcher ist – und die bei ihren glitzernden Auftritten selbst David Bowie blass aussehen lässt.

Thom Luz hat tatsächlich etwas sehr Einnehmendes, auch im Interview, das er mit Anekdoten und Oneliner-Jokes spickt. „If you find yourself in a hole, stop digging“, ist so ein Satz. Er ist ein begabter Entertainer des gemeinsamen Moments. Das bestätigen viele, die mit ihm gearbeitet haben. Und dieses Talent zeigt sich auch in unserem Gespräch. „Ich hab doch noch nicht alles erzählt!“, sagt er, als man nach einer Stunde Interview das Aufnahmegerät ausschalten will. „Ich bin zum Beispiel ein ziemlich schusssicherer Tenor!“

Ob es einen Bedarf an Tenören ohne Schussangst gibt, wissen wir beide nicht. Aber erzählt hat Luz eigentlich genug: von seiner Kindheit, in der er mit großer Muße „stundenlang“ die Regentropfen an einer Rinne zählen konnte; von seiner Nebelmaschine, mit der er in seinem Jugendzimmer experimentierte. Oder von seiner Ausbildung an der Schauspielschule in Zürich – wobei das ein „Missverständnis“ gewesen sei: „Begonnen habe ich die Schule mit der Hoffnung, dass ich mit den anderen Studierenden Projekte erarbeiten werde. Im dritten Ausbildungsjahr musste ich dann aber feststellen, dass fast alle ein Engagement an einem Stadttheater haben wollten.“ Nach einigen wenigen Projekten mit Kollegen aus der Schauspielschule ging Luz seinen eigenen Weg. So entstand 2007 mit „Patience Camp“ seine erste Inszenierung, die im Rahmen eines Nachwuchsfestivals herauskam – und 2009 zu den Theaterformen nach Hannover eingeladen wurde.

Fünf Jahre später kehrte Thom Luz zurück nach Hannover, um Judith Schalanskys „Atlas der abgelegenen Inseln“ im Treppenhaus der Cumberlandschen Galerie zu inszenieren, das mit seinen Fenstern und schmiedeeisernen Gittern an einen Luxusliner erinnert. Zumindest in Luz’ Inszenierung: Im Smoking und in Abendkleidern tritt uns das Ensemble aus hängenden Rauchschwaden entgegen; jemand schlägt eine Schiffsglocke; an Haken werden große Eisklötze aufgehängt, deren Schmelzwasser auf die Membran einer Trommel tropft. Dazu präsentieren uns die Schauspieler die Prosaminiaturen aus Schalanskys „Atlas“, etwa jene von der Pazifikinsel Pukapuka, wo die freie Liebe gelebt wird – und Eifersucht etwas Unbekanntes ist.

In Luz’ „Atlas“ ist die Treppenhausbühne so etwas wie eine utopische Gegenwelt, die Klänge und eine Zeitlichkeit in sich gebunkert hat, die es so anderswo nicht gibt. Aber für Luz geht es in seinem „Atlas“ um mehr als um eine flüchtige Kunstwelt. Für ihn ist Schalanskys „Atlas“ eine „Feier des Unerreichbaren“ – auch im Theaterraum: Aufgeteilt in Gruppen sitzen wir auf den Plattformen im Treppenhaus und können nie alles sehen, sondern nur ahnungsweise hören. „You can’t see or hold it / it’s exactly like love“, heißt es in einem Song von Lou Reed. Eigentlich könnte diese Zeile über allen musiktheatralischen Abenden von Thom Luz stehen. Auch über seinem „Atlas“.

„It’s exactly like love“. Das klingt verdammt kitschig. Aber wenn es sich bei Luz’ Abenden tatsächlich um ein Pendant der Liebe handelt, dann hat er keinen naiven Begriff davon. Im Gegenteil. Denn in seinen Arbeiten steht immer ein scheinbar unmögliches Vorhaben im Zentrum: In „Patience Camp“ ging es um die gescheiterte Durchquerung der Antarktis, in „Die verlorene Kunst, ein Geheimnis zu bewahren“ (2009) um einen unlösbaren Kriminalfall, in „Tag der hellen Zukunft“ (2010) um die Utopie des goldenen Zeitalters und in „There Must Be Some Kind of Way Out of Here“ (2011) um die Überwindung der nationalen Identität. „Man muss seine Ziele nicht erreichen, um anzukommen“, sagt Luz im Gespräch – und zitiert damit den britischen Polarforscher Ernest Henry Shackleton, der bei seiner Südpoleroberung scheiterte.

Gewiss, Thom Luz’ Theaterästhetik kennt Vorbilder. Und zwar gleich mehrere: Mit den genauen Setzungen verfolgt er einen Anspruch, den man von Robert Wilson kennt. Als flüchtige Gegenwelten erinnern sie an Philippe Quesne. Und naturgemäß gibt es über die Musik eine starke Verwandtschaft zum Umfeld von Christoph Marthaler. Etwa auch zu Ruedi Häusermann, dessen Arbeiten für Luz ein Erweckungserlebnis waren. Doch anders als Häusermann, der auf der Bühne den Kosmos seiner eigenen Kompositionen umkreist oder Wahrnehmungswelten für andere Künstler erschafft, geht es in Luz (Un-)Möglichkeitsabenden letztlich immer um das menschliche Begehren, das sich – so sind wir nun mal disponiert – immer auf das Unerreichbare konzentriert. Auch im „Atlas der abgelegenen Inseln“, vor dem man nicht nur verweilen möchte, wie es Luz gerne hätte. Nein, man will Teil dieser Welt werden.

Solche Verschmelzungsfantasien gab es schon in früheren Arbeiten. So etwa im „Werther“-Abend von 2012, den Luz am Theater Basel als Wortkonzert inszenierte – und in dem er eine Kanone aus Sperrholz auffahren ließ, die große Rauchringe ins Parkett schoss: Die Kringel schwebten über unseren Zuschauerköpfen, drehten sich und verflüchtigten sich über unseren Augen ins Nichts, als wolle Luz damit Brechts „Lied vom Rauch“ illustrieren: „Sieh den grauen Rauch (…), so / gehst du auch.“

Es sind solche Bilder der Vergänglichkeit, die man festhalten möchte – und mit denen Luz uns unser namenloses Begehren reflektieren lässt. Das gibt es auch im „Atlas“, in dem Luz erneut seine Nebel- und Rauchobsession auslebt – und in dem sich alles entzieht, so gegenwärtig es als Nebelbild und Klang auch immer sein mag. Bis auf den Moment, wenn am Ende eine Zuschauerin über die Stufen der Galerie geführt wird – und sich dabei ohne Bruch in das Bild von Luz’ Bühnenwelt einfügt. Es ist ein Moment, in dem plötzlich alles möglich scheint, auch dass wir in der Vergänglichkeit dieses Inselabends vollständig aufgehen könnten. Für immer. Auch wenn das vielleicht ein Irrtum ist. „It’s exactly like love.“ //

Quelle: https://classic.theaterderzeit.de/2015/05/32624/komplett/