Gespräch

Was macht das Theater, Ene-Liis Semper?

von und

Ene-Liis Semper, im Moment sind Sie mit den Feierlichkeiten zum 100. Jahrestag der Gründung eines unabhängigen Estlands beschäftigt, der am 24. Februar gefeiert wird. In welcher Atmosphäre wird dieses Ereignis begangen?
Estland ist klein, und seine Geschichte ist häufig als eine „Geschichte der Brüche“ beschrieben worden. Es gab nie eine große und lang währende Stabilität, und im 20. Jahrhundert war das Land fünfzig Jahre lang besetzt. Da ist dieser 100. Jahrestag wirklich eine bemerkenswerte Sache. Estland kann man außerdem als eine existenzialistische Kultur beschreiben – wenn Camus glaubte, dass das Leben absurd sei, dann ist es ebenso absurd, dass Estland überhaupt existiert. Schließlich ist es eines der kleinsten Länder der Welt.

Ene-Liis Semper, © privat.
Ene-Liis Semper, © privat.

Das klingt etwas distanziert?
Ich muss zugeben, dass ich dem Staat gegenüber nicht besonders patriotische Empfindungen hege, aber was das Land betrifft, so bedeutet es mir außerordentlich viel. Ich bin davon überzeugt, dass wir noch einiges Wertvolle bewahrt haben, das im Westen bereits verloren gegangen ist. Jemand hat die Esten einmal mit den Indianern verglichen, weil wir mit einer ähnlichen Einstellung die Natur verehren, aber auch irrationale Dinge wie Tod, Geburt und Unendlichkeit. Darauf wollen wir unser Publikum aufmerksam machen und haben deshalb einen 45-minütigen Film mit viel Musik gedreht, der am 24. Februar, dem Unabhängigkeitstag, Premiere hat.

Was ist eigentlich aus der Partei „Vereinigtes Estland“ geworden, zu deren Gründung Sie 2010 aufgerufen hatten, was für viel Aufregung im Politikbetrieb sorgte, bevor das Ganze als Aktion des Theaters NO99 enthüllt wurde? Lassen sich Langzeiteffekte feststellen?
Es ging dabei nicht darum, Politiker anzugreifen, sondern eher um eine Kritik an den Wählern, einschließlich unserer selbst. Daher sind die Langzeiteffekte nicht so einfach zu bemessen. Wahrscheinlich hat es aber doch in den Herzen und Hirnen der Wähler etwas bewegt. Auch in Estland hat sich die politische Landschaft verändert, und als wir mit unserer Fake-Partei absichtlich populistische Strategien bloßstellten, haben die Leute natürlich auch gesehen, wie solche Manipulationen funktionieren. Ein greifbares Ergebnis war sicherlich, dass die nächsten Wahlen erst einmal ohne Populisten stattfanden.

Erstaunlich!
Ja, aber dann krochen die populistischen Parteien wieder aus ihren Winkeln, und nicht wenige sind der Ansicht, dass sie auch von uns und „Vereinigtes Estland“ gelernt haben. So ist es manchmal mit der Kunst: Man verfolgt eine Absicht, aber dann kommt es am Ende doch anders. Allerdings bin ich mir sicher, dass wir unser ursprüngliches Ziel, die Leute für die politischen Verhältnisse zu sensibilisieren, tatsächlich erreicht haben. In einem solch kleinen Land war es wirklich möglich, mit dieser Aktion buchstäblich jeden und somit die ganze Gesellschaft anzusprechen. Wir wollten niemandem vorschreiben, was er oder sie zu denken hat, sondern wollten aktive Teilnahme ermöglichen. Wer mehr dazu erfahren will, sollte auf unserer Website www.no99.ee den Dokumentarfilm „Ash and Money“, auch mit englischen Untertiteln verfügbar, anschauen.

Als Sie im Jahr 2005 Ihr Theater starteten, war die Idee des Namens NO99, insgesamt einhundert Produktionen bis null herunterzuzählen. Jetzt nähern Sie sich den letzten zwanzig.
Die Idee des Countdowns bestand darin, unsere gemeinsame Zeit zu bewerten und gleichsam zu quantifizieren. Jeder weiß, dass künstlerische Zusammenarbeit auch zeitlich ihre Grenzen hat, und das half uns, jede Produktion mit einer Konzentration zu behandeln, als wäre es die letzte.

Und was kommt nach dem Ende des Countdowns?
Es wäre unklug, darüber jetzt schon zu spekulieren. In den vergangenen zwölf Jahren haben wir so verschiedene Produktionen gemacht, dass wir uns damit immer wieder selbst überrascht haben. Dieser Countdown hat immer die Frage zur Folge, was als Nächstes kommt. Wir wussten nicht, was wir machen würden, aber wir wussten immer, dass es etwas Neues geben wird. Warum? Weil Theater ein lebendiger Prozess und zu viel Planung schädlich ist. Jede Produktion sollte nicht nur für sich stehen, sondern auch im Kontext der anderen Inszenierungen wichtig sein. Aber können wir denn diese nächsten Produktionen und vielleicht die allerletzte Inszenierung schon kennen? Der Countdown war kein Branding, sondern hat uns befähigt, das Besondere einer jeden Arbeit zu sehen, sodass wir uns noch besser darauf konzentrieren konnten. Wir haben jedenfalls nie nach solchen Mustern gedacht wie „Lass uns mal im Frühjahr eine Komödie machen und danach was für junge Leute“ oder so. Würde man so zählen wie wir, wenn man immer schon wüsste, was als Nächstes kommt? //

Quelle: https://classic.theaterderzeit.de/2018/02/35995/komplett/