Gespräch

Was macht das Theater, Gernot Grünewald?

von und

Foto: Inke Johannsen
                                                                                                    Foto: Inke Johannsen

Gernot Grünewald, in Ihrem Projekt „Selbstvergessen“ stehen Kinder und ­Jugendliche auf der Bühne, die an einer Art lebendigem Familienarchiv arbeiten: Sie erforschen die Biografien und Lebenserinnerungen ihrer nicht mehr erin­nerungs­­fähigen Großeltern. Wie kann man sich den Abend konkret vorstellen?

Wir arbeiten mit verschiedenen dokumentarischen Elementen. Die Jugendlichen haben, soweit das möglich war, Interviews mit ihren dement gewordenen Großeltern geführt. An den Ton­spuren spürt man, wie sich Vergessen im Sprach- und Erinnerungsvermögen abbildet. Kern des Projektes ist aber, wie sich Erinnern über persönliches ­Erleben, Familiengedächtnis oder Archive vollzieht. Außerdem arbeiten wir mit digitalen Scans, die das Thema Erinnern und Vergessen jenseits des Haptischen oder des persönlichen Reflektierens in den digitalen Raum übertragen.

Woran erinnern sich die Großeltern, sofern sie sich erinnern? Sind das vor allem die Kindheits- und Jugendjahre, also die Zeit, in der sich die jetzt auf der Bühne stehende Enkelgeneration selbst befindet?

Es ist eine Art Spiegelachse. Die Jugendlichen werden auf der Bühne zu Wiedergängern ihrer eigenen Großeltern. Wir erleben sie am biografischen Anfang ihres Lebens, der von den Großeltern am längsten erinnert wird. Demenz hat neben aller Tragik auch etwas sehr Faszinierendes: Man vergisst rückwärts, zunächst das, was vor fünf Minuten, dann das, was vor einem Monat oder einem Jahr passiert ist, bis man sich bei schweren Verläufen irgendwann selbst nicht mehr im Spiegel erkennt, weil man in seinem inneren Erleben 40 Jahre alt ist und sein alt gewordenes Ich nicht mehr kontextualisieren kann. Am Ende bleibt dann nur noch die Kindheit übrig. Das eigene Leben wird von hinten nach vorn wegradiert, bis am Ende nur noch leere Seiten da sind, auf denen nicht einmal mehr der eigene Name steht. Die Frage ist, wer oder was dann bleibt, wenn das Ich nicht mehr erinnert wird.

Sind demente Menschen also ein leer geräumtes Archiv? Oder ist da noch etwas?

Wohin sich das Ich-Empfinden eines Dementen entwickelt, ist von außen vermutlich schwer feststellbar. Wir können die Frage in dem Projekt nur philosophisch-abstrakt umkreisen und zugleich Geschichten aus der Warte der Jugendlichen erzählen, die bei diesem Prozess ihrer Großeltern dabei waren.

Hat es auch etwas Gnadenvolles, Befreiendes, sich auf diese Weise vergessen zu können – oder ist es ausschließlich ein Drama?

Für die Angehörigen ist es auf alle Fälle ein Drama. Es ist schmerzhaft mitzuerleben, von der eigenen Oma nicht wiedererkannt zu werden. Für die Dementen selbst habe ich es lange für eine Art Gnade gehalten. Tilman Jens, der Sohn von Walter Jens, beschreibt, wie sein Vater am Ende sehr glücklich in einem Stall saß und Lämmchen streichelte. In der weiteren Beschäftigung hat sich mein Bild geändert. Immerzu an unbekannten Orten zu sein, umgeben von Fremden, mit denen man sich nicht verständigen kann und die einen waschen und füttern wollen, stelle ich mir als einen gespenstischen Zustand vor.

Das eine ist die Person, die vergisst, das ­andere sind diejenigen, die sich an sie zu erinnern versuchen. Wie hilfreich sind da ­Erinnerungstools wie Fotos?

Solange sie einen Kontext haben, sind Objekte, Alben und alle Dinge, die ein Archiv beinhalten kann, sicherlich hilfreich. Aber die nächste oder übernächste Generation hat den konkreten Bezug dazu bereits ­verloren. Das Fotoalbum, das auf dem Dachboden liegt und irgendwann auf dem Sperrmüll landet, hat für die Nachgeborenen unter Umständen über das historische Interesse hinaus irgendwann keine Bedeutung mehr. Ohne Kontextwissen bleiben die Dinge stumm.

Sie haben sich entschieden, „Selbstver­gessen“ gerade nicht als Archivalie zu produzieren, also als digitale Konserve, die man immer wieder abrufen kann, sondern als live gestreamte Vorstellung, die nicht auf dem Server gespeichert wird. Warum?

Es war früh klar, dass die theatral-filmische Adaption eines solchen Themas nur als Livestream zu denken ist. Es geht bei dem Thema ja immer um den erinnerten oder vergessenen Augenblick. Wenn eine räumliche Kopräsenz, die das Theater ja ausmacht, nicht möglich ist, kann der Livestream immerhin eine zeitliche Kopräsenz ermöglichen. Das finde ich einen wichtigen Moment, dass sich Dinge immer nur jetzt vollziehen, dass man das nicht zurückspulen kann. Dieses Jetzt kann man erleben oder verpassen, man kann sich daran erinnern oder es vergessen, aber es ist eben nicht on demand. Es ist einmalig wie das Leben. //

Quelle: https://classic.theaterderzeit.de/2021/05/39934/komplett/