Die Bewohnbarmachung der Erde

Brechts Verhältnis zu Stadt und Natur

von

I
Bertolt Brechts Größe besteht vor allem darin, dass er sich als ein wahrhaft „katholischer“ Autor verstand, wie er es bewusst provozierend formulierte. Er fasste – je älter er wurde – in nahezu allen seinen Werken, Notaten und mündlichen Äußerungen, die uns überliefert sind, stets das Ganze, das heißt die universalen Aspekte sämtlicher politischen, ideologischen und sozioökonomischen Verhältnisse ins Auge, statt sich lediglich mit partikularen Fragen bestimmter individueller oder tagespolitischer Problemstellungen abzugeben. Ihm ging es nicht um das Vereinzelte, nur ihn Betreffende, sondern um einen grundsätzlichen, alle Menschen angehenden „Umgang mit den Welträtseln“, wie es im Untertitel von Werner Mittenzweis großer Brecht-Biographie von 1986 heißt.1
Man mag das angesichts der äußerst komplexen Weltlage, der sich Brecht gegenübersah, hybrid oder gar anmaßend nennen, ja, ihn als einen „plumpen“ Vereinfacher abtun, der besser getan hätte, sich mit einer differenzierten Analyse bestimmter Einzelprobleme der angeblich ins Pluralistische ausartenden modernen Industriegesellschaften zu begnügen und endlich einzusehen, dass es im Hinblick auf das Ende der älteren „Meistererzählungen“, die sich noch um eindimensionale Veränderungskonzepte bemüht hätten, schon längst keine „einfachen Lösungen“ mehr gebe. Doch im Gegensatz zu den unnötig verschachtelten Formulierungsbemühungen eines Theodor W. Adorno ist gerade das „Plumpe“ an Brechts Sehweise und Sprachgebung, wie es bei Walter Benjamin einmal heißt,2 das letztlich Bedeutsame an Brecht, der sich stets bemüht hat, alle anstehenden Probleme politischer, wirtschaftlicher, philosophischer und naturwissenschaftlicher Art so „radikal“ wie nur möglich auf die ihnen zugrunde liegenden und relativ einfach zu erklärenden Wurzeln zurückzuführen.
Selbstverständlich wurde Brecht diese Haltung nicht schon in der Wiege mitgegeben. Sich zu einer solchen Einstellung der Welt gegenüber durchzuringen, dazu bedurfte es vieler freiwillig eingegangener oder auch auferzwungener Erfahrungen sowie der sich daraus ergebenden Wandlungen. Aufgewachsen während der Spätzeit der wilhelminischen Ära, bemühte er sich nach dem Ersten Weltkrieg und der Novemberrevolution in der frühen Weimarer Republik erst einmal darum, sich als literarisches Genie und zugleich ungebärdig auftretender Bürgerschreck einen aufsehenerregenden Namen zu machen, bis ihn der heraufziehende Nazifaschismus, seine Hinwendung zu den Klassikern des Marxismus und die Exilierung nach 1933 zu der Einsicht bewegten, sich nicht weiterhin als ein Einzelner zu empfinden, sondern in allen politischen und sozialen Konflikten als gesamtgesellschaftlich denkender Zeitgenosse ideologisch Stellung zu beziehen. Wie bereits oft dargestellt, wählte er dafür zunehmend die Haltung eines Lernend-Belehrenden, der nicht nachließ, den Ursachen seiner Erfahrungen, die ihn aus der Bahn geworfen hatten, nachzugehen und sie zugleich anderen zu vermitteln.
Und zwar konzentrierte sich Brecht dabei nicht allein auf die jeweils anstehenden tagespolitischen Konfliktsituationen, so dringlich ihm diese auch erschienen, sondern behielt zugleich in utopischen Vorgriffen stets eine sinnvollere Weltordnung im Blick, in der – jenseits der kapitalistischen Ausbeutung der „Armen und Entrechteten“, einer hektisch übersteigerten Industrialisierung sowie der Verwüstung der Natur durch imperialistische Raubkriege – einmal alle Menschen im Rahmen sozialistischer Gemeinschaftsformen in friedlichen, von der Natur vorgegebenen Bedingungen leben könnten. Ja, Brecht hoffte, dass er in der Verwirklichung derartiger Verhältnisse nicht nur den Part eines literarischen Vollzugsfunktionärs irgendwelcher sich als sozialbewusst aufspielenden, aber weiterhin auf der Ausbeutung des Menschen und der Natur beruhenden Gesellschaften übernehmen könne, sondern dass man ihm dabei eine relative Autonomie gewähren würde, wie er das – noch immer im Exil lebend – in der Figur Arkadi Tscheidses seines als Utopie angelegten Dramas Der kaukasische Kreidekreis (1943–1945) darzustellen versuchte, welcher sich bemüht, durch die Aufführung eines seiner Stücke dem Volk die Lehren der Partei, aber auch der Partei die Weisheit des Volkes zu vermitteln.3 Diese Rolle zu spielen, war zwar Brecht in seinen letzten Jahren in der Sowjetischen Besatzungszone und dann in der frühen DDR nur teilweise vergönnt, dennoch hielt er an diesem universalen Grundkonzept bis zu seinem Tode im Jahr 1956 hartnäckig fest, nämlich für eine „Bewohnbarmachung der Erde“ einzutreten, in der alle Menschen nicht nur untereinander, sondern auch im Hinblick auf ihre naturgegebene Umwelt „friedliche“ Verhältnisse anstreben würden.
Doch genug der „goldenen Worte“. Versuchen wir lieber, diesen Entwicklungsgang vom Subjektiv-Ungezügelten zum Kommunitaristisch-Besonnenen anhand der dafür in Frage kommenden Äußerungen in Brechts Werken und den damit zusammenhängenden Notaten, Briefen und Interviewaussagen so konkret wie nur möglich nachzuzeichnen.

II
In Brechts Anfängen ist von seiner späteren Forderung einer friedlichen „Bewohnbarmachung der Erde“ noch nirgendwo die Rede. Als Sohn aus sogenanntem guten Hause legte er seinem subjektiv-instinkthaften Durchsetzungsdrang erst einmal keinerlei Zügel an. Mit „kaltem“ Intellekt und „heißem“ Herzen, wie er in seinen frühen Autobiographischen Aufzeichnungen beteuerte,4 erschien dem zwanzigjährigen Brecht nur das als wahrhaft lebenswert, was ihm – jenseits aller konventionellen Moral- und Berufsvorstellungen – eine möglichst genussvolle Absättigung seines persönlichen Lustverlangens versprach. Und das waren in erster Linie sexuelle Libidoempfindungen, orgienhafte Gelage mit Freunden, Ausflüge in die „freie Natur“ sowie literarische „Schocker“, mit denen er die Leisetreter und Ich-Leichen seiner bürgerlichen Umwelt so krass wie möglich vor den Kopf zu stoßen versuchte.
Wohl das beste Beispiel dafür ist sein Erstlingsdrama Baal (1918/19), dem Brecht anfangs den Titel „Baal frißt! Baal tanzt! Baal verklärt sich!!!“ gab. In ihm geht es um einen vagabundierenden Dichter, der sich angesichts der Sinnleere der Schöpfung alles, was ihm momentane Lustbereicherung verschafft, ob nun Alkoholika, Jungfrauen oder Damen der höheren Gesellschaft, ohne die geringsten moralischen Skrupel einverleibt. Unter „Natur“ wird also in diesem Drama nur das verstanden, was im Rahmen der lebensfeindlichen Konventionen seiner Umwelt als triebhaft-ungezügelt und damit lasterhaft gilt. Während sich die Spießer weiterhin an Gottes Gebote halten, heißt es einmal, ist Baals Himmel „voll von Bäumen und Leibern“.5 Daher zieht es ihn am Schluss in den „ewigen Wald“, wo er im Einssein mit der Natur nach all seinen wahllosen Triebbefriedigungen einsam verröchelt.
Die gleiche Stimmung herrscht in vielen Gedichten und Balladen Brechts aus diesen Jahren. Auch in ihnen geht es ständig um eine möglichst „natürliche“, das heißt betont antireligiöse, ja geradezu nihilistische Lusterfüllung. Statt dabei in die mystischen Gefühlswelten der neuromantischen Naturverklärung oder die naturverkultenden Heimatkunstkonzepte der Zeit um 1900 zurückzufallen, ist in ihnen fast durchgehend vom „Schwimmen in Flüssen und Seen“ oder vom „Klettern in Bäumen“ die Rede,6 was wie in seinem Baal-Drama lediglich als ein lustvolles Hingegebensein an momentane Gefühlsaufwallungen beschworen wird. Wie in seinen Gedichten über die Seeräuber oder andere Abenteurer dominiert in ihnen ein hemmungsloses Umhergetriebensein, das unter wahrhafter Lebenserfüllung – ohne Rücksicht auf irgendeine Mitmenschlichkeit – allein einen ungezügelten Egoismus zu verstehen scheint.

III
Eine gewisse Änderung in dieser Hinsicht macht sich erst in jenen Werken Brechts bemerkbar, die er nach 1920 verfasste, als er sich entschloss, das heimatliche Augsburg zu verlassen und sich in den Dschungel der Großstadtmetropole Berlin zu begeben, um sich als genialisch auftretender Bürgerschreck auf möglichst provozierende Weise in die dort herrschenden literarischen Konflikte und Konfrontationen einzumischen. Angesichts der ihn in dieser Millionencity überwältigenden Häuserschluchten sah er sich plötzlich – halb berauscht, halb abgestoßen – nicht mehr von Wäldern und Seen, sondern von Asphalt und Steinen umgeben. Die bis dahin vielbeschworene „Natur“ tritt daher in seinen danach geschriebenen Werken immer stärker in den Hintergrund. Was blieb, war jedoch – trotz der Unzahl von Menschen, die ihm in Berlin begegneten – das Gefühl, weiterhin ein Einzelner zu sein. Während er bisher wenigstens das Einssein mit der Natur zu verspüren glaubte, kam ihm jetzt selbst das abhanden. Überall schien in dieser Asphaltwüste nur die kälteste Selbstsucht zu herrschen, überall dominierte ein erbarmungsloses Gewinnstreben, überall hatte sich eine berechnende Unnatur breitgemacht, die kein Untertauchen in naturverbundenen Rauschzuständen mehr erlaubte.
Sein erstes Drama, in dem er diesen Schockeffekt zu verarbeiten suchte, war das Stück Im Dickicht der Städte (1921–1924), das im Zuge der damaligen Amerika-Orientierung in einer imaginierten Chicago-Welt spielt, wo als zwingende Notwendigkeit der Großstadtwirklichkeit lediglich das Prinzip des Kampfes aller gegen alle zu herrschen scheint. Verglichen mit dem hier dargestellten Milieu wirkt sein Baal fast wie ein letzter Schwanengesang auf die Reize der natürlichen Umwelt. Während dort noch das Schreiben mit dem „heißen Herzen“ den Ton angegeben hatte, hat sich hier das Schreiben mit dem „kalten Blick“ durchgesetzt.7 In Im Dickicht der Städte geht es im Kampf zweier Männer um ökonomische Vorherrschaft nicht mehr um ein anarchisches Umhergetriebensein, sondern nur noch um genau kalkulierte Taktiken.
Und Brecht passte sich in seinem Bestreben um literarische Anerkennung diesem rücksichtslosen Behaviorismus so gut es ging an. „In der Asphaltstadt bin ich daheim“, heißt es 1925 mit zynischer Attitüde in seinem Gedicht „Vom armen B. B.“: „Versehen mit jedem Sterbsakrament: / Mit Zeitungen. Und Tabak. Und Branntwein. / Mißtrauisch und faul und zufrieden am End.“8 Alles, was wir im „Dschungel der Großstädte erreichen können“, schrieb er kurz darauf in seinem „Lesebuch für Städtebewohner“ (1926/27), ist „ungestörte Bitterkeit“.9 Doch das war nur die halbe Wahrheit. Mitte der zwanziger Jahre ließ sich auch Brecht von der vielbeschworenen „relativen Stabilisierung der wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse“ der Weimarer Republik verführen, vorübergehend als ein Wortführer jener Neuen Sachlichkeit aufzutreten, die sich vor allem in Berlin als der letzte Schrei der neuen Großstadtmentalität verstand. Kurzum: Er kaufte sich ein Auto, nahm an Sportveranstaltungen teil, begann Kriminalromane zu lesen, ging ins Kino, interessierte sich für Jazz und was sonst noch an Errungenschaften der sogenannten „Moderne“ angepriesen wurde. Ja, selbst im Theater setzte er seine Hoffnungen auf das neue „Sportpublikum“, das vor allem am siegreichen „Finish“ der jeweils dargestellten Kämpfe interessiert sei, wie er am 26. Februar 1926 im Berliner Börsen-Courier erklärte.10
Doch das waren relativ kurzlebige Illusionen. Schon bald beschlichen ihn immer wieder Zweifel an seiner partiellen Übereinstimmung mit dem herrschenden „Zeitgeist“. So schrieb er in seinem „Lesebuch für Städtebewohner“ mit ironisierender Distanziertheit: „Und nicht schlecht ist die Welt / Sondern / Voll.“ Und: „Wir wissen nicht, was kommt, und haben nichts Besseres / Aber dich wollen wir nicht mehr.“11 Ebenso nachdenklich heißt es 1927 in seinen Autobiographischen Aufzeichnungen: „Ich habe mich schwer an die Städte gewöhnt.“12 Was ihn in diesem Zusammen hang besonders verstörte, waren die weitverbreiteten Lobeshymnen auf die fort schreitende Industrialisierung von Seiten jener „Sachlizisten“, wie sie damals hießen, die im Zeichen des allerorts gepriesenen Fordismus und Taylorismus selbst in den übelsten Auswüchsen der zunehmenden Technikverkultung nur Ausdrucksformen eines segenbringenden „Fortschritts“ sahen. Wohl die schärfste Attacke gegen diese zeitverhaftete Kurzsichtigkeit ist sein 1927 geschriebenes Gedicht „700 Intellektuelle beten einen Öltank an“, das sich gegen all jene wendet, die im Namen der „Elektrifizierung, der Ratio und der Statistik“ sogar die Anlage jener Ölfelder begrüßten, wo einstmals „Gras wuchs“, der „Wind wehte“ und „langsam mah lende Mühlen“ standen.13
Doch selbst in diesem Gedicht herrscht noch eher ein satirischer als ein kämpferischer Ton vor. Einen grundsätzlichen Abgesang auf die Neue Sachlichkeit stimmte Brecht erst an, als er sich 1928 in das Studium der marxistischen Klassiker vertiefte und ein Jahr später der New Yorker Börsenkrach vom 24. Oktober allen Hoffnungen auf einen unaufhörlichen Fortschritt und die sich daraus ergebende Wohlstandssteigerung ein jähes Ende bereitete.

IV
Die Konsequenzen, die Brecht daraus zog, sind allbekannt. Statt wie in der Dreigroschenoper von 1928 lediglich auf halb zynische, halb vergnüg liche Weise das verbrecherische Treiben einer lumpenproletarischen Gangsterclique darzustellen, entschloss er sich in seinen folgenden Werken zu einer wesentlich schärferen Gangart. Dafür sprechen vor allem kommunistisch inspirierte Stücke wie Die Maßnahme (1929/30) und Die Mutter (1931), in denen fast durchgehend das Agitatorische im Vordergrund steht, um damit den Kampf der KPD gegen die verheerenden Folgen des kapitalistischen Wirtschaftssystems sowie die Gefahr einer nazifaschistischen Machtübernahme zu unterstützen.
Aber auch das Bild vom entmenschenden Leben in den großen Städten, jetzt eindeutig ins Antikapitalistische gewendet, ließ Brecht nicht zur Ruhe kommen. So schrieb er nach dem Wall-Street-Crash von 1929 das weit ausholende Gedicht „Verschollener Ruhm der Riesenstadt New York“ über jene Stadt, die selbst ihm in seinen Anfängen – im Gegensatz zu dem als „langweilig“ empfundenen Deutschland – wegen ihrer „riesigen Bauwerke“, „nie endenden Straßen“, „breitbrüstigen Männer“, „Eisenbahn zügen, die rollenden Hotels gleichen“, ihren „Schallplatten“ und „filmischen“ Darstellungen als faszinierender Inbegriff alles Neuartigen erschienen war und sich jetzt durch die Machenschaften geldgieriger Bankherren in eine Trümmerstätte gescheiterter Hoffnungen verwandelt hatte.14
Und auch in anderen Schreckbildern der „großen Städte“ nahm Brecht in diesem Zeitraum immer wieder die USA aufs Korn, so in dem bereits 1927 konzipierten, aber erst 1930 endgültig abgeschlossenen opernhaften Stück Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny, in dem es nur um Suff und Sex, das heißt das sinnentleerte Treiben in einer an Las Vegas gemahnenden Vergnügungsmetropole geht, wo erotisch ausgehungerte Männer für jedes Quäntchen Lust ihre mühsam verdienten Dollarnoten hergeben müssen, und dann in dem marxistisch konzipierten Drama Die heilige Johanna der Schlachthöfe (1929–1931), bei dem es sich – auf der Grundlage des Romans The Jungle (1906) von Upton Sinclair – um eine Analyse der innigen Verquickung der Chicagoer Fleischindustrie mit den Bankenbaronen der Wall Street handelt, um so das ständige Auf und Ab der kapitalistischen Wirtschaftszyklen unter die Lupe nehmen zu können.
Ja, Brechts Abneigung gegen die Unmenschlichkeit der großen Städte nahm in diesen Jahren derart zu, dass er sich im Herbst 1932 – noch immer nicht an einen möglichen Sieg der Nazifaschisten glaubend – entschloss, im bayrischen Utting eine Landhausvilla zu erwerben, um dort mit seiner Familie endlich in einer friedlichen, naturgemäßen und seiner Herkunft entsprechenden Umgebung zu leben. Was ihn besonders beglückte, war, dass dieses Haus von einem weitläufigen Garten mit „vielen Sträuchern“, einer „riesigen Erle“, „schwarzen Fichten“, „Wiesen“ und „lang blühenden Blumen“ umgeben war, so dass man sich dort fast wie in einem „kleinen Wald“ fühlen konnte.15 Doch diese geradezu traumhaft erlebte Situation währte nur wenigen Wochen. Schon am 30. Januar 1933 ernannte Paul von Hindenburg, der amtierende Reichspräsident, jenen Adolf Hitler zum neuen Reichskanzler, von dem sich die hinter Hindenburg stehenden Kreise der Großindustriellen und Großagrarier noch am ehesten versprachen, dass er allen antikapitalistischen „Umtrieben“ von Seiten der Kommunisten endlich den Garaus machen würde. Und genau das trat in den folgenden Wochen ein.

V
Doch jetzt: wohin? Statt wie viele von Brechts Gesinnungsfreunden nach Moskau, Prag, Paris oder Wien zu fliehen, entschied sich Brecht für ein Exil auf der dänischen Insel Fünen, um nicht wieder in den konfliktreichen Strudel der großen Städte zu geraten. Und zwar wählte er dort als seine Wohnstätte ein strohgedecktes Fischerhaus am Skovsbostrand nahe Svendborg, das von hohen, kräftig wirkenden Bäumen umgeben war. „So weit man blickt, ist alles grün“, schrieb er 1934 als „Herr der Strohhütte“ an den „Herrn der Wolkenkratzer“ George Grosz in New York.16 All das gemahnte ihn wenigstens von Ferne an sein „Haus mit dem großen Garten“, den „vielen Baumgruppen“ und „weißen Rhododendronbüschen“ in Utting, wie es in dem gleichzeitig geschriebenen Gedicht „Zeit meines Reichtums“ heißt.17
Auch im Hinblick auf sein neues Haus genoss also Brecht wiederum das Althergebrachte, das noch nicht von der kapitalistischen Massenproduktion Verhunzte. In Utting waren es die „getäfelten Hölzer zur Decke“, die „mächtigen eisernen Öfen“ mit ihren „Bildnissen arbeitender Bauern“, die „eichenen Bänke und Tische“ und die „starken Türen“ mit ihren „Erzklinken“ gewesen,18 in Skovsbostrand waren es das Strohdach und das Fachwerk der Außenwände. All das, das heißt auf Bäuerliches und damit vorkapitalistische Zustände Zurückgehende, machte Brecht immer skeptischer, in der zunehmenden Industrialisierung einen tiefgreifenden „Fortschritt“ zu der allerseits gepriesenen „Moderne“ zu sehen. Er arbeitete daher zur gleichen Zeit an einem Stück unter dem Titel „Das Ölfeld“, von dem sich leider nur wenige, in Gedichtform abgefasste Zeilen erhalten haben, in welchem er den zerstörenden Eingriff in die Natur von Seiten jener Konzernherren thematisieren wollte, die wegen der von ihnen angeordneten Bohrungen den Ziegenhirten ihre Wiesen und den Bauern ihre Äcker wegnehmen, ja selbst „hundert Jahre alte Wohnhäuser“ abreißen lassen.19
In den folgenden Jahren, die Brecht im dänischen Exil verbrachte, ist daher ständig von der ihn umgebenden Natur die Rede. Allerdings überkamen ihm dabei – angesichts des mörderischen Vorgehens der Nazifaschisten – oft Zweifel, ob „ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist / Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!“, wie es in dem bekannten Gedicht „An die Nachgeborenen“ heißt.20 Ja, in dem kurz darauf geschriebenen Gedicht „Schlechte Zeit für Lyrik“ fasste er diesen Konflikt in folgenden Zeilen zusammen: „In mir streiten sich / Die Begeisterung über den blühenden Apfelbaum / Und das Entsetzen über die Reden des Anstreichers. / Aber nur das zweite / Drängt mich zum Schreibtisch.“21
Doch trotz aller antikapitalistischen und antifaschistischen Werke, die Brecht in diesem Zeitraum schrieb, behielt er dabei – in seiner universalen Sehweise – stets auch das erst in Zukunft zu lösende Problem einer besseren Integration bewohnbarer menschlicher Ansiedlungen und unzerstörter Natur im Auge. Daher finden sich in seinen Gedichten der mittdreißiger Jahre, wie gesagt, immer wieder Zeilen, wo von Büschen, Hecken, Rasenflächen oder einem „knorrigen Birnbaum mit hangenden Zweigen“ die Rede ist,22 während er seine Stippvisiten nach Kopenhagen, London, Paris oder New York – außer der Reise nach Moskau – fast nirgends erwähnt.
Und auch als sich Brecht kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs genötigt sah, nach Schweden auszuweichen, war er froh, dort in Lidingö wieder ein Haus beziehen zu können, das – fern der Großstadt Stockholm – von einem „Tannenwald“ umgeben war.23 Ja, selbst als die politische Situation im Jahr 1940 immer brenzliger wurde und er mit seiner Familie nach Finnland übersiedelte, war er wiederum froh, dass ihm die dortige Dichterin Hella Wuolijoki auf ihrem Landsitz Marlebäk in Kausala zeitweilig ein Haus „zwischen schönen Birken“ zur Verfügung stellte.24 Wie in Skovsbostrand und Lidingö war Brecht auch hier von der ihn geradezu urtümlich anmutenden Landschaft hellauf begeistert. „Es ist verständlich“, notierte er sich am 8. Juli 1940 in sein Arbeitsjournal, „daß die Leute hierzulande ihre Landschaft lieben“:

Sie ist so sehr reich und zeigt großes Gemischt. Die fischreichen Gewässer und schönbäumigen Wälder mit ihrem Beeren- und Birkengeruch. […] Und welch eine Musik füllt diesen heiteren Himmel! Beinahe unaufhörlich geht Wind, und da er auf viele verschiedene Pflanzen trifft, Gräser, Korn, Gesträuche und Wälder, entsteht ein sanfter, an- und abschwellender Wohlklang, der kaum mehr wahrgenommen wird und dennoch immer da ist.25

Ebenso angetan war er von dem „über 100 Jahre alten Gutshaus“ mit seinem „Eisen und herrlichen Holz, der rötlichen Fichte des Nordens“, wie es in einem Notat aus der gleichen Zeit heißt.26
Doch auch hier galt es – angesichts der sich ständig verschärfenden Kriegsläufte – bald wieder Abschied zu nehmen und weiterzufliehen, um nicht von den Häschern der Nazifaschisten festgenommen zu werden. Und zwar entschied sich Brecht diesmal für die auf der anderen Seite des Planeten liegenden Vereinigten Staaten, um sich nicht noch einmal einer neuen Gefahr auszusetzen.

VI
Als er am 21. Juli 1941 in San Pedro, dem Hafen von Los Angeles, landete, fand er das Gefühl, endlich von den 15 000 Kilometer entfernten europäischen Kriegsschauplätzen in Sicherheit zu sein, durchaus befreiend. Aber ansonsten begegnete er allem, worauf er hier stieß, von vornherein höchst skeptisch. Schließlich hatte ihn schon 1935 sein kurzer Besuch in New York maßlos enttäuscht. Doch Los Angeles wirkte auf Brecht noch abstoßender.27 Was ihn dort besonders befremdete, war das Künstliche des dort herrschenden Lebensstils, das heißt, auf einer weit ausgedehnten Sandfläche wohnen zu müssen, wo „alles Grüne nur durch Bewässerungsanlagen der Wüste abgerungen ist“.28 Zudem erschien ihm – aus Skandinavien kommend – das in Los Angeles herrschende Klima unerträglich heiß, ja geradezu tropisch. Nichts, aber auch nichts erinnerte ihn hier mehr an Europa. Er hatte fast das Gefühl, irgendwo in den Kolonien zu leben, wo man als Weißer nur hingehe, um „Geld zu machen“ und dann wieder nach Hause zu fahren.29
Ebenso verstört war er über den „würdelosen“ Charakter der dortigen Häuser, die alle so aussähen, als wären sie vorgestern aus billigstem Material zusammengezimmert worden. Nichts habe hier etwas Gediegenes, Alt bewohntes, Kunsthandwerkliches, beteuerte er immer wieder. Im Gegensatz zu den Häusern in Utting, am Skovsbostrand, in Lidingö und Marlebäk empfand er die kalifornischen „Puppenhäuschen“ mit ihren rosafarbigen, gelben oder türkisgrünen Innenwänden nicht nur als würdelos, sondern geradezu verkitscht.30 All diese „nuttigen Kleinbürgervillen“, heißt es in seinem Arbeitsjournal, die von zuhälterischen Maklern als „beautiful“ angepriesen würden, erschienen ihm weder schön noch brauchbar.31 Hier wirke alles so, erklärte er, „als ob man versucht habe, mit billiger Hübschheit den meisten Profit herauszuschlagen“. An sämtlichen Wänden, ja selbst an den Bäumen vor und hinter den Häusern, „die sich nur durch ständiges Sprengen am Leben erhalten ließen“, glaubte er irgendwelche „Preisschildchen“ zu erblicken. Wo gab es hier überhaupt Authentisches, wo war hier die „Natur“, fragte sich Brecht immer wieder. War diese Stadt nicht nur eine Durchgangsstation für Jobsuchende, die darauf hofften, in den verschiedenen Filmstudios Hollywoods einen „Fast Buck“ zu machen? In einer solchen Umgebung konnte sich Brecht nicht in den Garten setzen, um sich in das Lehrgedicht „De rerum natura“ von Lukrez zu vertiefen. Ein solcher Versuch wäre ihm – inmitten all dieser „deprimierenden Hübschheiten“ – wie eine weltabgewandte „Snoberie“ vorgekommen.32
Vor allem seine erste Nichtbleibe in der 25. Straße von Santa Monica mit ihren rosaroten Türen empfand er als etwas „unbeschreiblich Niedliches“, ja geradezu „Unedles“.33 Er bewunderte daher Jean Renoir, der in seinem Haus die kitschigen Stuckverzierungen einfach mit der Axt abgeschlagen habe, außerdem habe er sich möglichst „alte Möbel“ angeschafft, wodurch er endlich in halbwegs „kultivierter Umgebung“ lebe.34 Das Gleiche habe der Wiener Schauspieler Paul Henreid getan, dem es ebenfalls gelungen sei, „alte kalifornische Möbel“ zusammenzukaufen, an denen man ablesen könne, dass selbst Amerika früher einmal eine „Kulturnation“ gewesen sein müsse, wie es voller Verachtung auf die später eingetretene kapitalistische Verhunzung dieses Landes heißt.35
Brecht war daher froh, als er Anfang August 1942 in eines der „ältesten kalifornischen Holzhäuser“ in der 26. Straße umziehen konnte, das bereits „30 Jahre alt“ sei, wie er sich in seinem Arbeitsjournal ironisierend ausdrückte.36 Doch selbst in diesem Haus, wo er im angrenzenden Garten wieder seinen Lukrez lesen konnte, fühlte er sich nur „halbwegs wohl“.37 Schließlich war es auch hier unerträglich heiß. Und auch sonst hatte sich nicht viel verändert. Die Nachbarn wechselten „unaufhörlich“, da sie „anscheinend ohne viel nachzudenken ihre Arbeitsstellen“ aufgäben und in „leichter erreichbare Bezirke oder Städte“ umzögen. Gefühle wie „Heimat“ oder „Vaterhaus“ seien ihnen völlig fremd.38 Aus diesem Grund gebe es unter ihnen weder „Freundschaften“ noch „Feindschaften“, schrieb Brecht in seinen „Briefen an einen erwachsenen Amerikaner“.39 Jeder gehe in dieser Stadt an den anderen einfach lächelnd vorbei. In einem besonders deprimierten Moment notierte daher Brecht mit einem ironischen Achselzucken: „Hier kommt man sich vor wie Franz von Assisi im Aquarium, Lenin im Prater (oder Oktoberfest), eine Chrysantheme im Bergwerk oder eine Wurst im Treibhaus.“40
Das Einzige, was Brecht in dieser Stadt gefiel, waren lediglich einige Gärten, besonders die von Lion Feuchtwanger und Charles Laughton, wo man wenigstens für eine kurze Weile den unaufhörlichen Verkehrslärm der mit mickrigen Palmen umsäumten Boulevards und das Schäbige des sich gewaltsam ausbreitenden Kommerzbetriebs vergessen könne. Doch selbst sie erschienen ihm – genauer betrachtet – letztlich ebenso unnatürlich wie die gesamte Lebensweise in dieser durch hässliche „Bewässerungsanlagen der Wüste abgerungenen Welt“,41 in der ansonsten nur gesichtslose „Menschenströme“ in die Kontorgebäude der „Geschäftsviertel“ strömten und auf den Straßen herausgerissene „Zeitungsblätter“ umherwimmelten.42 Angesichts dieser Zustände fragte sich daher Brecht im Hinblick auf die „Große Unordnung“, wie er den Kapitalismus meist nannte, in seiner bitteren „Adresse eines sterbenden Dichters an die Jugend“, wann endlich die Zeit kommen werde, in der man anfangen könne, „Das Land zu bebauen, das wir verfallen ließen, und / Die wir verpesten, die Städte / Bewohnbar zu machen“.43
Doch auf diese Frage hatte er vorerst keine Antwort. Was er in Los Angeles sah, war zwar viel „Entwicklung“, aber nichts, was sich in Richtung auf etwas Andersartiges, Besseres, Naturgemäßeres „entwickele“, wie er sich in sein Arbeitsjournal notierte.44 Brecht war demzufolge froh, dass er als Marxist nach dem infamen Verhör des House Un-American Activities Comittee 1947 die USA endlich verlassen konnte. Dabei stellte sich jedoch wiederum die Frage: jetzt wohin? Er entschied sich vorerst für die Schweiz, um von dort aus die deutschen Verhältnisse besser sondieren zu können, statt sich angesichts des einsetzenden Kalten Kriegs zwischen den USA und der UdSSR sofort für eine der westlichen Besatzungszonen oder den von der Sowjetunion verwalteten Teil Ostdeutschlands entscheiden zu müssen.
Auch in der Schweiz entschloss sich Brecht, lieber in Feldmeilen auf dem Lande als in der Großstadt Zürich seine Zelte aufzuschlagen. Eines seiner ersten Notate aus dieser Zeit lautet daher im April 1948 fast wie erwartet: „Das erste europäische Frühjahr seit 8 Jahren. Die Farben der Pflanzenwelt, so viel frischer und so viel weniger krud als die der kalifornischen.“45 Was er dagegen an Neubauten sah, gefiel ihm auch hier keineswegs. Vor allem die neuen „städtischen Siedlungen“ mit ihren „Drei- und Vierzimmerwohnungen in riesigen Häuserblöcken“, die ihm wie „Gefängniszellen“ erschienen, deren winzige „Räumchen“ so aussähen, als sollten sie lediglich der „Wiederherstellung der Arbeitskraft“ dienen, lehnte er trotz des „bißchen Grüns dazwischen“ als „verbesserte Slums“ entschieden ab.46 Als sich daher Ende 1948 für ihn die Möglichkeit eröffnete, in Ostberlin seine vielen im Exil geschriebenen, aber unaufgeführten Stücke inszenieren zu können, hoffte er, dort sowohl eine politische als auch literarische Wirkungsstätte zu finden, in der er endlich daran mitwirken könne, seine bisher nur utopisch anvisierten Ansichten über eine „Bewohnbarmachung der Erde“ in die gesellschaftliche Praxis umzusetzen.

VIII
Dass er in Berlin eine weitgehend zerbombte Stadt wiederfand, störte Brecht anfangs keineswegs. Schließlich war ihm diese betriebsame Metropole schon vorher als ein Ort der „Großen Unordnung“ erschienen:

Die 15 Jahre des Exils über verspürte ich keinerlei Bedauern, nicht mehr in meiner Heimatstadt oder in Berlin sein zu können. [...] Dazu kommt, daß in meiner Vorstellung diese Städte immer das Mal der Zerstörbarkeit auf der Stirn getragen hatten, als hätte man geplant, auf dem freilich etwas kostspieligen Umweg über die Zerbombung eigens aufgestellter Städte zu den riesigen Schutthaufen zu kommen, die einem vorschwebten. Ich sehe große Städte, die heute noch stehen, mit demselben Kainsmal behaftet.47

Was Brecht anfangs besonders vermisste, war, dass es in dieser Stadt so wenig „Grünes“ gab. Er lobte daher die „Einwohner am Karlsplatz“, weil sie im Winter 1946/47, als viele Menschen froren und das „Holz rar war“, wenigstens eine der dortigen Pappeln nicht abgehackt hätten.48 Als man mit dem Bau der Stalinallee begann, bedauerte er sofort, dass dieser Boulevard „noch keine Bäume“ habe.49 Überhaupt hatte er sich diesen Baukomplex wesentlich „kiezartiger“ und nicht so monumentalisierend im Stil älterer Großstädte vorgestellt. „Ich habe gewußt, daß Städte gebaut wurden“, schrieb er enttäuscht, aber: „Ich bin nicht hingefahren. / Das gehört in die Statistik, dachte ich / Nicht in die Geschichte.“50 In einem dieser Neubauten zu wohnen, zog er darum nicht in Erwägung. Am liebsten hätte er sich in einem Landhaus in Pankow eingenistet, das sich – obwohl mitten in der Stadt gelegen – in einem Park „mit großen alten Bäumen“ befand.51 Obendrein hatte dieses Haus jene „edlen Maße“, wie er erklärte, die „Einfachheit zur Kultur“ machen.52 Aber in ihm war schon ein Kindergarten untergebracht und daher bezog Brecht schließlich zwei Stockwerke in dem Hinterhofgebäude der Chausseestraße 125, die er in seinem Sinne umgestalten ließ.
Dieses Quartier erschien ihm, der lieber zwischen alten Bäumen gewohnt hätte, zwar nicht ideal, aber es erlaubte ihm vom ersten Stockwerk aus wenigstens einen Ausblick auf das parkartige Gelände der alten Hugenottengrabstätten und den angrenzenden Dorotheenstädtischen Friedhof. Relativ zufrieden schrieb er daher mit detaillierter Genauigkeit an seinen Verleger Peter Suhrkamp, dass er jetzt in einem Hinterhaus wohne, das wie das Vorderhaus etwa 150 Jahre alt sein solle:

Die Zimmer sind hoch und so die Fenster, die angenehme Proportionen haben. […] Eigentlich alle Maße sind anständig, es ist wirklich ratsam, in Häusern und mit Möbeln zu wohnen, die zumindest 120 Jahre alt sind, also in früherer kapitalistischer Umgebung, bis man eine spätere sozialistische haben wird.53

Da jedoch dieses Haus an einer der verkehrsreichsten Straßen Ost berlins lag, erwarb Brecht 1952 zugleich ein kleines, mitten in der weitgehend naturbelassenen Gegend der Märkischen Schweiz gelegenes Landhaus am Schermützelsee in Buckow, von dem es in einem seiner Gedichte heißt, dass es „tief zwischen Tann und Silberpappel“ liege, beschirmt von einer Mauer und einen Garten: „So weise angelegt mit monatlichen Blumen / Daß er vom März bis zum Oktober blüht“.54 Und für dieses „alte, nicht unedel gebaute“ Haus sowie die Wohnung in der Chausseestraße fahndeten darauf er und Helene Weigel – höchst entschieden, nicht inmitten industrieller Massenprodukte leben zu müssen – monatelang nach alten Möbeln und vorindustriellen Gebrauchsgegenständen, denen im Bereich der Möbeltischlerei, der Eisenschmiedekunst oder der Keramik noch die Würde des ästhetisch Gediegenen anhafte.55
Man sollte diese Vorliebe für Kunsthandwerkliches keineswegs mit jenem bürgerlich-parvenühaften Prunkbedürfnis verwechseln, wie er sich in all jenen vollgestopften Wohnungen äußert, in denen nicht das Brauchbare und zugleich Schöne, also Kulturvolle, sondern das Überflüssige, Sinnlose, auf Verschleiß Bedachte, also Kulturlose, im Vordergrund steht.56 Wenn Brecht in diesen Jahren die Schönheit eines Tischs, einer Lampe, eines Bechers herausstrich, so tat er das nicht aus Eitelkeit oder Besitzerstolz. Er tat es, um im Umgang mit den Dingen des täglichen Gebrauchs einen Sinn für Ästhetik und zugleich ein schonendes, ja geradezu pflegliches Verhältnis zu diesen Dingen zu demonstrieren. Statt sich mit Gebrauchsgegenständen zu umgeben, die man nur benutzt, also auch wegschmeißen oder mutwillig zerstören kann, bevorzugte er lieber Dinge, die noch vorindustriell, das heißt vor- oder frühkapitalistisch, ja am liebsten bäuerlich-kunsthandwerklich anmuteten, also noch nicht jene Konsum- und Verbrauchermentalität aufwiesen, denen als einziger Fetisch die auf dem Prinzip der ständigen Innovationssucht beruhende Akzelerierung der ökonomischen Expansionsrate zugrunde liegt.
Überhaupt erschien Brecht in diesen Jahren das Bäuerliche – als Aus druck einer vorindustriellen Lebensweise, welche noch nicht den Entartungen der kapitalistischen Industrialisierung ausgesetzt war – immer wichtiger. Stolz darauf, dass er selber „von Bauern abstamme“, wie er schon vorher behauptet hatte,57 wollte er diese Haltung und die damit verbundene Einstellung zu einer stärkeren Naturverbundenheit und zugleich einem Sinn für kunsthandwerkliche Gediegenheit auch in der DDR propagieren. Wie im Hinblick auf seine Naturgedichte der Exiljahre sollte man das, wie gesagt, nicht mit einer neuromantischen Naturschwärmerei verwechseln. Brecht war weder ein bürgerlicher Naturtourist noch ein ökologisch gesinnter Grüner. Er wollte nicht im Walde still vor sich herwandeln, sondern sich lieber im Sinne der Konzeption einer naturgemäßen „Bewohnbarmachung der Erde“ an den Bäumen vor seinem Haus erfreuen.58
Demzufolge legte er bei seinen Bekenntnissen zur DDR, als einem „Staat der Arbeiter und Bauern“, den ideologischen Hauptakzent eher auf das Bäuerliche als auf das Proletarische. Dafür spricht unter anderem, wie intensiv er sich um eine Bearbeitung und Inszenierung von Erwin Strittmatters Bauerndrama Katzgraben (1953) bemühte,59 während er sein „Büsching“-Projekt, in dem es um den heroischen Einsatz des Maurers Hans Garbe beim Bau der Stalinallee gehen sollte, nach mehreren Ansätzen wieder aufgab. Und dafür spricht zugleich, wie energisch er sich 1952 – entgegen der kritischen Haltung einiger SED-Kulturfunktionäre – für eine Hochschätzung jener bäuerlichen Statuen Ernst Barlachs einsetzte, in denen dieser Künstler mit großer kunsthandwerklicher Fertigkeit den Gestalten dieser „so lange unterdrückten Klasse“ das „Monopol der Menschlichkeit“ verliehen habe.60
Was Brecht dabei besonders beeindruckte, war, wie gesagt, jene vorindustrielle Lebensweise, in der – trotz aller Unterdrückung – noch ein Sinn für Handwerklich-Gediegenes und zugleich Naturbezogenes geherrscht habe, der im Rahmen des heutigen Fabrikwesens mehr und mehr verlorengegangen sei. Aus den älteren Lebenszusammenhängen herausgerissen, spiele sich das Leben der gegenwärtigen Fabrikarbeiter, wie es in seinen Notizen zu „Arbeiter und bildende Kunst“ heißt, in einer völlig entnaturierten Welt ab, in der jeder Sinn für eine naturgemäße Lebens- und damit auch Herstellungsweise abhandengekommen sei.61
Doch Brecht wäre nicht Brecht, wenn er sich mit derartigen Lamentationen begnügt hätte. Er hielt auch oder gerade in der DDR an seiner Utopie fest, sich weiterhin für eine naturgemäßere „Bewohnbarmachung der Erde“ einzusetzen, in der man sich nachhaltig für eine Begrünung der Städte sowie eine kunsthandwerkliche Fertigung der täglichen Gebrauchsgüter bemühen würde, statt lediglich durch eine gesteigerte industrielle Massenproduktion die in der kapitalistischen Welt des Westens herrschende Konsumfreudigkeit einzuholen oder gar überbieten zu wollen. Nur das verstand er unter einem wahren Sozialismus, der sich – noch längst nicht verwirklicht – für eine bessere Integration von Mensch und Natur und eine damit verbundene sinnvollere Produktionsweise einsetzen würde.
Ob eine solche Haltung bereits auf das vorausweist, was heutzutage viele Menschen unter einem „ökologischen Bewusstsein“ verstehen, sei da hingestellt. Manches deutet schon in diese Richtung, aber weniger in einer Perspektive, welche die Schuld an der zunehmenden „Entnaturierung“ der uns umgebenden Mitwelt allein in der unaufhörlich fortschreitenden Industrialisierung, sondern – unter sozialistischer Perspektive – auch und vor allem in dem immer hektischer angekurbelten Konsumgetriebe der gegenwärtig herrschenden kapitalistisch arrangierten Market-driven Society sieht, in der sich die meisten Menschen nur noch „als Teilstück verschiedener Massen und als Zubehör des Marktgeschehens“ empfinden, wie es 2009 der Philosoph Gerd Irrlitz in seinem weit ausholenden Essay „Ästhetische Naturanschauung und philosophischer Naturbegriff bei Brecht“ formuliert hat.62 Und er schloss daraus im Hinblick auf die soziale Fragestellung, die sich aus all diesen Problemkomplexen und besonders aus Brechts Ablehnung der Anonymität des großstädtischen Lebens ergibt, mit dem dringlichen Statement:

Heute ist es fast Gemeingut politischer Rhetorik, zu sagen, dass wir das menschliche Leben bedrohen, wenn wir die Natur weiter so strangulieren. Brecht urteilte in entgegengesetzter Richtung. Weil wir die menschlichen Verhältnisse mit unmenschlicher Kälte gebildet haben, darum zerstören wir auch die uns lebensfähig machende Natur.63

1 Vgl. Mittenzwei, Werner: Das Leben des Bertolt Brecht oder Der Umgang mit den Welträtseln, 2 Bde., Berlin 1986.
2 Vgl. Richter, Gerhard: „Plumpes Denken. Ein Brechtscher Begriff neu gedacht“, in: ders.:
Ästhetik des Ereignisses. Sprache – Geschichte – Medium, München 2005, S. 155–166, hier S. 155.
3 Vgl. meinen Aufsatz: „‚Der kaukasische Kreidekreis‘. Brechts utopischer Ort zwischen Partei und Volk“, in: Hermand, Jost: Die Toten schweigen nicht. Brecht-Aufsätze, Frankfurt a. M. 2010, S. 119–124.
4 Brecht, Bertolt: Tagebücher 1920–1922. Autobiographische Aufzeichnungen 1920–1954,
hrsg. von Herta Ramthun, Frankfurt a. M. 1975, S. 38.
5 Brecht, Bertolt: Gesammelte Werke in acht Bänden, Bd. 1, hrsg. von Elisabeth Hauptmann, Frankfurt a. M. 1967, S. 35 (im Folgenden mit Sigle GW plus Band und Seitenzahl angegeben).
6 GW 4, S. 209.
7 Vgl. Arendt, Christine: Natur und Liebe in der frühen Lyrik Brechts, Frankfurt a. M. 2001, S. 12.
8 GW 4, S. 261.
9 Ebd., S. 282.
10 Vgl. Koopmann, Helmut: „Großstadtdschungel und Raubtierwelt. Brecht geht freudig
nach Berlin“, in: Hillesheim, Jürgen (Hrsg.): „Man muß versuchen, sich einzurichten in
Deutschland!“ Brecht in den Zwanzigern, Würzburg 2015, S. 85–110.
11 GW 4, S. 269.
12 Brecht: Tagebücher, S. 213.
13 GW 4, S. 316 f.
14 Ebd., S. 475 ff.
15 Brecht: Tagebücher, S. 218.
16 Brecht, Bertolt: Briefe, Bd. 1, hrsg. von Günter Glaeser, Frankfurt a. M. 1981, S. 207.
17 GW 4, S. 418.
18 Ebd.
19 Ebd., S. 530.
20 Ebd., S. 723.
21 Ebd., S. 744.
22 Ebd., S. 579.
23 Brecht, Bertolt: Arbeitsjournal, Bd. 1, hrsg. von Werner Hecht, Frankfurt a. M. 1973, S. 54 [15. Juli 1939].
24 Ebd., S. 129 [5. Juli 1940].
25 Ebd., S. 132 [8. Juli 1940].
26 Ebd., S. 129 [5. Juli 1940].
27 Vgl. meinen Aufsatz: „Brecht in Hollywood“, in: Hermand: Die Toten schweigen nicht, S. 107–118.
28 Brecht: Arbeitsjournal, Bd. 1, S. 293 [9. August 1941].
29 Ebd., S. 303 [22. Oktober 1941].
30 Vgl. Mittenzwei: Das Leben des Bertolt Brecht, Bd. 2, S. 22 ff.
31 Brecht: Arbeitsjournal, Bd. 1, S. 469 [18. Juni 1942].
32 Ebd., S. 494 [16. Juli 1942].
33 Ebd.
34 Ebd., S. 480 [29. Juni 1942].
35 Brecht: Arbeitsjournal, Bd. 2, S. 509 [12. August 1942].
36 Ebd.
37 Ebd., S. 511 [14. August 1942].
38 GW 8, S. 851.
39 Ebd.
40 Brecht: Arbeitsjournal, Bd. 1, S. 392 [23. März 1942].
41 Ebd., S. 293 [9. August 1941].
42 GW 4, S. 878.
43 Ebd., S. 942.
44 Brecht: Arbeitsjournal, Bd. 1, S. 361 [19. Januar 1942].
45 Brecht: Arbeitsjournal, Bd. 2, S. 826 [12. April 1948].
46 Ebd., S. 833 [11. Juni 1948].
47 GW 8, S. 867.
48 GW 4, S. 975.
49 Ebd., S. 1003.
50 Ebd., S. 1010.
51 Zit. nach: Mittenzwei: Das Leben des Bertolt Brecht, Bd. 2, S. 560.
52 Ebd., S. 558.
53 Ebd., S. 560.
54 GW 4, S. 1009.
55 Vgl. Brecht: Arbeitsjournal, Bd. 2, S. 996 [26. November 1952].
56 Vgl. auch meinen Aufsatz: „Vom schonenden Umgang mit schönen Dingen. Einer von Brechts Vorschlägen zu Lebenskunst“, in: Hermand, Jost: „Das Ewig-Bürgerliche widert
mich an“. Brecht-Aufsätze, Berlin 2001, S. 274–285.
57 GW 4, S. 755.
58 Vgl. Müller, André/Semmer, Gerd (Hrsg.): Geschichten von Herrn B., Frankfurt a. M. 1967, S. 101.
59 Vgl. meinen Aufsatz: „Erwin Strittmatters Bauernkomödie ‚Katzgraben‘“, in: Hermand, Jost: Unerfüllte Hoffnungen. Rückblicke auf die Literatur der DDR, Oxford 2012,
S. 41–56.
60 GW 8, S. 516.
61 Vgl. ebd., S. 519 f.
62 Irrlitz, Gerd: „Ästhetische Naturanschauung und philosophischer Naturbegriff bei
Brecht“, in: Kleinschmidt, Sebastian (Hrsg.): Das Angesicht der Erde. Brechts Ästhetik der
Natur. Brecht-Tage 2008, Berlin 2009, S. 28–86, hier S. 79.
63 Ebd., S. 80.

Quelle: https://classic.theaterderzeit.de/buch/die_aufhaltsame_wirkungslosigkeit_eines_klassikers/36091/komplett/