Recherchen 8
Das Ewig-Bürgerliche widert mich an
Brecht-Aufsätze
von Jost Hermand
Paperback mit 384 Seiten, Format: 140 x 240 mm
ISBN 978-3-934344-09-9
Die Brecht-Tage, die im Jahr 2000 unter dem provozierenden Titel »Braun gleich rot?« im Literaturforum im Brecht-Haus in der Chausseestraße stattfanden, lösten wegen der äußerst gemischten Teilnehmergruppen recht scharfe Debatten aus. Vor allem im Hinblick auf Brechts Einstellung zu Stalin und zur Judenfrage kamen immer wieder Aggressionen hoch, deren Vorurteilsstruktur noch von den Klischees des Kalten Krieges bestimmt waren... Vielleicht ist Brecht doch kein »wirkungsloser Klassiker«, wie ihm auf Seiten hämisch lächelnder Konservativer seit langem nachgesagt wird.
Seine Werke sind unsere Wächter
Für Reinhold Grimm
Als Brecht 1956 in Ostberlin starb, erschienen zwar in der DDR viele erschütterte Nachrufe, die Westpresse nahm jedoch von diesem Ereignis kaum Notiz. Für sie war damit lediglich ein unliebsamer Sowjetzonendichter von der Bildfläche verschwunden, in dem einige der älteren Literaturkritiker weiterhin einen nihilistisch gesinnten Asphaltliteraten der Weimarer Republik sahen, der sich später aus opportunistischen Gründen ein marxistisch eingefärbtes Mäntelchen umgehängt habe, um seinen Lebensabend als ein von der SED beweihräucherter Staatsdichter in Ostberlin verbringen zu können. Über Brechts wahre Situation in diesem Teil Berlins war damals im Westen nur wenig bekannt, wie überhaupt in den frühen fünfziger Jahren über die Literatur der »DDR« im bundesrepublikanischen Feuilleton - außer einigen abkanzelnden Verleumdungen - kaum etwas zu lesen war.
Daher war auch mir, der ich zwischen 1950 und 1955 in Marburg Neugermanistik studierte, der Name »Brecht« völlig unbekannt. Wenn meine Kommilitonen und ich uns mit moderner Literatur beschäftigten, dann mit Franz Kafka, Robert Musil, Ernst Jünger, Gottfried Benn und vielleicht auch Thomas Mann, aber nicht mit sogenannter linker Literatur, die uns als ausgesprochen »niedrig« erschien. Autoren und Autorinnen wie Bertolt Brecht, Heinrich Mann, Anna Seghers, Lion Feuchtwanger und Arnold Zweig blieben daher weitgehend außerhalb unseres Gesichtskreises. Auch für Phänomene wie die Frankfurter Schule, das Exil, die Judenverfolgung, den rassischen Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion oder die Teilung Deutschlands, wie überhaupt für alles »Politische«, interessierten wir uns kaum. Selbst als ich im Sommer 1955 zum erstenmal nach Kriegsende wieder für drei Mo-nate nach Berlin - den Ort meiner Kindheit - zurückkehrte, um dort in der Bibliothek der Ostberliner Nationalgalerie ein bio-bibliographisches Verzeichnis für Richard Hamanns Deutsche Malerei vom Rokoko bis zum Expressionismus anzulegen, nahm ich von der DDR-Umgebung fast nichts wahr und vergrub mich völlig in meine Arbeit.
Erst als ich im März des nächsten Jahres - nach meiner Promotion in Marburg - auf Wunsch Hamanns nach Ostberlin übersiedelte und dort mein Naturalismus-Buch, den zweiten Band einer Kulturgeschichte des wilhelminischen Zeitalters, für den Akademie-Verlag zu schreiben begann, blieb es nicht aus, daß ich auch auf Brecht und sein Theater am Schiffbauerdamm aufmerksam wurde. Ihn selber bekam ich nicht mehr zu Gesicht. Er war zu diesem Zeitpunkt bereits kränklich und wurde nach seinem Tode, der am 14. August erfolgte, auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof beigesetzt. Doch dafür sah ich im Berliner Ensemble alle Stücke, die er noch selbst inszeniert hatte. Wenn ich mich recht erinnere, gehörten dazu Mutter Courage und ihre Kinder, Der kaukasische Kreidekreis, Furcht und Elend des Dritten Reiches, Die Mutter, Hirse für die Achte, Die Winterschlacht, Der Held der westlichen Welt, Pauken und Trompeten sowie Der Tag des grossen Gelehrten Wu. Ja, ich durfte sogar an einer von Helene Weigel und Erich Engel geleiteten Probe des Guten Menschen von Sezuan teilnehmen. Und ich war von diesen Aufführungen so beeindruckt, daß ich mir alles kaufte, was damals in Ostberlin von Brecht im Druck erhältlich war: ob nun die grauen Pappbände der Versuche oder die dunkelroten, von John Heartfield entworfenen Leinenbände der frühen Stücke.
Als ein in der elitären Windstille der Marburger Universität groß gewordener Student erschienen mir diese Werke ästhetisch ebenso hochstehend wie die von mir bisher verehrten Werke Kafkas, Musils, Benns oder Thomas Manns. Ja, es war anfangs vor allem die literarische Qualität der Brechtschen Texte, die mich neben meiner Arbeit an dem Naturalismus-Buch - erst langsam und dann immer schneller - in den Sog eines sozialkritischen Bewußtseins zog. Ein solches Bewußtsein hatte ich bis dahin, als ich noch in Marburg im Geist eines anämischen Ästhetizismus eine Dissertation über DIE LITERARISCHE FORMENWELT DES BIEDERMEIER schreiben mußte, nicht einmal in Ansätzen besessen. Erst heute erkenne ich, daß mir weniger die Schriften von Karl Marx, Franz Mehring, Jürgen Kuczinski, Georg Lukács und Ernst Bloch, die ich zu diesem Zeitpunkt zu lesen begann, als die Dramen Brechts und ihre Aufführungen im Berliner Ensemble die Augen für die materiellen Voraussetzungen fast aller politischen, aber auch kulturellen Phänomene öffneten. Leider wurde dieser ideologische Erweckungsprozeß im Spätherbst 1957 durch einen Entscheid von Wilhelm Girnus, des damals allgewaltigen Staatssekretärs für Hochschulfragen der DDR, jäh unterbrochen, der zu diesem Zeitpunkt Richard Hamann aus seinem Amt als Ordinarius für Kunstgeschichte an der Humboldt-Universität entfernte, worauf ich wenige Tage später einen Brief von der SED-Bezirksverwaltung in Königswusterhausen erhielt, der in dem Satz gipfelte, daß ich »bitte gefälligst in den nächsten 48 Stunden das Territorium der DDR verlassen« solle.
So hart mich diese Entscheidung auch traf, sie verbitterte mich nicht grundsätzlich. Wieder nach Marburg zurückgekehrt, arbeitete ich dort - nach vorheriger Absprache mit dem Leiter des Akademie-Verlages, der mir unter der Hand jeden Monat etwas Westgeld zukommen ließ - sofort an den nächsten Bänden der Reihe Deutsche Kunst und Kultur von der Gründerzeit bis zum Expressionismus weiter. Ja, ich hielt 1957 als Siebenundzwanzigjähriger vor Marburger Studenten sogar einen teils informierend-einführenden, teils jugendlich-bekennerischen Vortrag unter dem Titel Bertolt Brecht oder Die unaufhaltsame Überwindung des Nihilismus, worauf mich Friedrich Sengle, mein ehemaliger Doktorvater und Biedermeier-Experte, der sich diese Veranstaltung »geschenkt« hatte, mit einem zynischen Lächeln fragte: »Wer ist denn dieser Herr Brecht?« Als ich mich in den folgenden Monaten in Westdeutschland um Assistenten- oder Referendarstellen bewarb, bekam ich wegen meines Abstechers in die DDR, den mir die adenauerhörige Germanistik schwer verübelte, nur Absagen. Mit jemandem, der kein Dissident war und weiterhin für den Ostberliner Akademie-Verlag Bücher schrieb, wollte niemand etwas zu tun haben.
Also nahm ich im Sommer 1958 - in Form eines unfreiwilligen Exils, wie es meine Marburger Studienfreunde nannten - eine Stelle als Assistant Professor am German Department der University of Wisconsin in Madison an. Dort traf ich in Nachbardisziplinen wie Geschichte und Soziologie unerwarteterweise viele politische Gesinnungsfreunde, welche aus antifaschistisch-gesinnten Familien stammten, die man 1933 aus Deutschland vertrieben hatte und die mich sofort als einen der Ihren begrüßten. Und so wagte ich schon im Winter 1959/60 mit einer Gruppe deutschsprachiger Studenten in den Kammerspielen des großen Madisoner Universitätstheaters Brechts Mutter Courage und ihre Kinder einzustudieren. Dies war höchstwarscheinlich die erste deutschsprachige Inszenierung dieses Stücks in den Vereinigten Staaten, wenn nicht überhaupt die Erstaufführung dieses Dramas in den USA. Während mir diese Inszenierung von meinen national-konservativen Kollegen und Kolleginnen im German Department, die lieber ein Schiller-Stück auf der Bühne gesehen hätten, auf unverhohlene Weise verübelt wurde, sahen meine jüdisch-antifaschistisch gesinnten Kollegen - nach den niederdrückenden McCarthy-Jahren - in ihr einen ersten Durchbruch zu einem »kritischen Theater« und priesen sie dementsprechend. Und zwar war ich bei den Proben genau nach Brechts Modellbuch vorgegangen und hatte sogar einen echten Marketenderwagen bauen lassen. Ja, selbst das verstimmte Klavier, die Transparente und der Halbvorhang fehlten nicht, um dieses Stück so »authentisch« wie nur möglich darzubieten.
Doch diese Aufführung blieb eine Eintagsfliege. In den frühen sechziger Jahren stieß ich in meinem Department immer wieder auf Gegenwehr, wenn ich mich dort für irgendwelche linken oder linksliberalen Werke einzusetzen versuchte. Von Politik wollten die meisten meiner Kollegen, die noch völlig im Geist eines formalistischen New Criticism befangen waren, nichts hören. Das änderte sich erst, als plötzlich die Proteste gegen den Vietnam-Krieg einsetzten und sich mehr und mehr Studenten zu einer systemkritischen Haltung bekannten. Und damit schlug endlich die Stunde einer intensiveren Beschäftigung mit Brecht. Maßgeblich unterstützt wurde ich darin von Reinhold Grimm, den ich 1967 von Frankfurt nach Madison berief und der bereits um 1960 zwei Bücher über Brecht geschrieben hatte. Mit ihm gab ich bereits 1969 bei Suhrkamp einen 880 Seiten umfassenden Sammelband unter dem Titel Deutsche Revolutionsdramen heraus, der auch Die Massnahme, Die Mutter und Die Tage der Commune von Brecht enthielt. Auf Grimms Anregung entstand im gleichen Zeitpunkt auch die International Brecht Society, die sich anfangs vor allem in Milwaukee oder New York traf und in der zu Beginn neben Grimm und mir vor allem John Fuegi, Eric Bentley, Ulrich Weisstein, Walter Hinck und John Spalek aktiv waren.
Durch die wachsende politische Unruhe unter den amerikanischen Studenten nach 1968, die sich in ihrer kritischen Haltung zum Teil an den Autoren der Frankfurter Schule, besonders an Herbert Marcuse, orientierten, wurde es schließlich in Madison möglich, in Vorlesungen und Seminaren wesentlich intensiver als zuvor auf Brecht, ja sogar auf DDR-Dramatiker wie Heiner Müller und Volker Braun einzugehen. Zugleich begannen Grimm und ich - im Auftrag der International Brecht Society - die Herausgabe eines Brecht-Jahrbuchs zu planen, dem wir den Titel Brecht heute - Brecht today gaben und dessen erste drei Bände beim Frankfurter Athenäum-Verlag erschienen, der damals auch das von Grimm und mir gegründete Jahrbuch für deutsche Gegenwartsliteratur unter dem Titel Basis in sein Verlagsprogramm aufnahm. In den ersten drei Brecht-Jahrbüchern (1971-1973) brachten wir neben Aufsätzen der Gründer der International Brecht Society vor allem Beiträge bereits bekannter Brecht-Forscher und -forscherinnen wie Eric Bentley, John Willet, James K. Lyon, Michael Morley, Anthony Tatlow, Frank K. Borcherdt, Ernst Schumacher, Werner Mittenzwei, Mordecai Gorelic, Andrzej Wirth, Gisela Bahr und Herbert Knust, die entweder auf deutsch oder auf englisch erschienen. Da sich der Kreis der an Brecht Interessierten in diesem Zeitraum schnell ausweitete, bot uns Siegfried Unseld an, das Brecht-Jahrbuch ab 1974 im Suhrkamp-Verlag herauszubringen. Und diesem Angebot stimmten wir - um der größeren Verbreitung willen - selbstverständlich gern zu.
In den folgenden Jahren veröffentlichten darum Grimm und ich im Brecht-Jahrbuch - neben germanistischen Aufsätzen - in gesonderten Rubriken auch Theaterberichte, Polemiken und Rezensionen, in denen nicht nur Komparatisten, Politologen und Theaterleute aus Westdeutschland, der DDR und den USA, sondern ebensogut aus England, Australien, Neu Seeland, Kanada, Südafrika, Nigeria, Jugoslawien, der Sowjetunion, Ungarn, Holland, Dänemark, der Schweiz und Italien über den neuesten Stand in Sachen »Brecht« aus ihren jeweiligen Erfahrungsbereichen berichteten. Auch ich brachte meine eigenen Arbeiten zu Brecht nach 1974 für eine Weile fast ausschließlich im Brecht-Jahrbuch heraus. Nachdem ich 1971 meinen Aufsatz Herr Puntila und sein Knecht Matti. Brechts Volksstück noch im ersten Band der Serie Brecht heute - Brecht today publiziert hatte, schrieb ich 1974 für unser neues Jahrbuch den durch Fredric Jameson angeregten Essay Utopisches bei Brecht sowie 1975 die längere Studie Zwischen Tuismus und Tümlichkeit. Brechts Konzept eines »klassischen« Stils. Für die Rubrik »Theaterberichte« verfaßte ich in den gleichen Jahren - im Gefühl, das Prinzip Hoffnung endlich auf meiner Seite zu haben - Texte wie Mit der »Mother« auf Tournee (1974), Die gute Frau von Mazomanie (1975), Brecht-Winter in Westberlin (1977) und Trommeln in der Boettcherstrasse (1979), denen Theatereindrücke aus Madison, aber auch aus Westberlin und Bremen zugrunde lagen, wo ich 1975/76 bzw. 1977/78 zwei Gastsemester bei den dortigen Germanisten zubrachte. Ja, ich ließ mich 1979 sogar zu einer scharfen Polemik gegen religiöse Mißdeutungen des Brechtschen ‘uvres hinreißen, die ich Unter Christenmenschen. Krupp, Pabst & Co nannte und die auch das erwünschte »Ärgernis« hervorrief. In meinen ebenfalls im Brecht-Jahrbuch dieses Zeitraums veröffentlichten Rezensionen - wie denen von Heinz Brüggemanns Brecht-Buch (1976) und dem von Wolfgang Fritz Haug herausgegebenen Sammelband Brechts Tui-Kritik (1978) - ging ich dagegen lediglich auf Werke ein, die mir für eine »linke« Brecht-Forschung besonders wichtig erschienen.
Während sich die westliche Brecht-Rezeption in Westdeutschland und den USA - unterstützt durch die 1967 veröffentlichte zwanzigbändige Taschenbuchausgabe seiner Gesammelten Werke sowie die vielen Einzelbände in der Edition Suhrkamp, deren Auflagen schnell in die Hunderttausende gingen - in den frühen siebziger Jahren zu einer wahren Modewelle steigerte, die weit über die von der Achtundsechziger Bewegung in Gang gesetzten ideologischen Umorientierungen hinausreichte, ebbte sie in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre nach dem Einbruch der Neuen Subjektivität, der poststrukturalistischen Strömungen, der feministischen Kritik an Brecht und dann der Begeisterung für alles »Postmoderne« wieder merklich ab. Daher wurde es schon kurz vor 1980 immer schwieriger, noch bedeutsame Beiträge für das Brecht-Jahrbuch oder Sprecher und Sprecherinnen für die weiterhin stattfindenden Treffen der International Brecht Society zu finden. Siegfried Unseld vom Suhrkamp-Verlag zog daraus schließlich die Konsequenzen und ließ Grimm und mich 1980 wissen, daß er das Brecht-Jahrbuch - angesichts der umsichgreifenden »Brecht-Müdigkeit« - leider einstellen müsse. Immer weniger westliche Germanisten und Germanistinnen ließen sich zu diesem Zeitpunkt - ob nun aus Furcht, damit ihren beruflichen Erfolgsaussichten zu schaden, oder aufgrund der Einsicht, daß sich wegen der wirtschaftlichen Prosperität in vielen westlichen Demokratien die Realisierungschancen für linke Konzepte zusehends verschlechterten - dafür gewinnen, weiterhin auf einen Autor einzugehen, der sich seit 1928/29 eindeutig zum Sozialismus bekannt hatte und nach seinen Jahren im Exil - im Sinne seines Wahlspruchs »Meine Werke sind meine Wächter« - 1948 in die Sowjetische Besatzungszone gegangen war, aus der ein Jahr später die DDR wurde.
Noch spürbarer wurde die sogenannte Brecht-Müdigkeit in der Kohl-Reagan-Ära der achtziger Jahre, als ihn viele seiner bisherigen Anhänger - metaphorisch gesprochen - plötzlich als »toten Hund« bezeichneten oder seine Werke zum »alten Eisen« legten. Die Restgruppen der weiterhin an ihm Interessierten unter seinen westlichen Anhängern, die sich in der Folgezeit einer deutlichen Mißachtung ausgesetzt sahen und von den modisch avancierten Gruppen als »obsolet« bezeichnet wurden, hatten es daher von Jahr zu Jahr immer schwerer, überhaupt noch Publikationsmöglichkeiten für systemkritische Brecht-Studien zu finden oder Brecht-Tagungen mit eindeutig linksliberaler oder gar linker Akzentsetzung abzuhalten. Eine der wenigen Möglichkeiten dafür bot sich beim Westberliner Argument-Verlag, dessen Leiter, der unermüdlich tätige Wolfgang Fritz Haug, bereits 1976 - im Ankampf gegen die allmählich einsetzende Brecht-Müdigkeit unter den westlichen Intellektuellen - mit Unterstützung Ostberliner Brecht-Forscher wie Werner Mittenzwei und Dieter Schlenstedt einen Band zu Brechts Tui-Kritik herausgegeben hatte. Eine ähnliche Haltung vertrat der 1980 vom Argument-Verlag herausgegebene Band mit dem trotzig-widersetzlichen Titel Aktualisierung Brechts, in dem sich namhafte Brecht-Forscher wie Jan Knopf, Manfred Wekwerth, Rainer Steinweg und Volker Klotz weiterhin zu Brecht bekannten und zu dem ich meinen Beitrag Zur Aktualität von Brechts Bearbeitungstechnik beisteuerte.
Der gleiche Geist herrschte auf der Brecht-Tagung, die 1983 unter dem bekennerischen Titel Brecht und Marxismus im Ostberliner Brecht-Haus stattfand. Hier sprach ich über die Brecht-Figur in der Ästhetik des Widerstands von Peter Weiss, während Silvia Schlenstedt, Jan Knopf, Gudrun Klatt, Paolo Chiarini, Herbert Claas, Jürgen Kuczinski, Helmut Brandt, Ernst Schumacher und Jürgen Schebera den Beziehungsreichtum der marxistischen Theoriebildungen in Brechts Werken seit den späten zwanziger Jahren analysierten. Während ich an dieser Konferenz mit lebhaftem Engagement teilnahm, war mir die Einladung zu einer Konferenz der Ostberliner Akademie der Wissenschaften zu Ehren von Johannes R. Becher eher peinlich und ich sprach dort unter dem Titel Brechts und Bechers Ostfrontdramen mehr über Brechts Schweyk im Zweiten Weltkrieg als über jene Winterschlacht, die Brecht zwar auch im Berliner Ensemble inszeniert hatte, die aber dort wegen ihrer idealistischen Überspanntheit - euphemistisch gesprochen - eher ein sogenannter Achtungserfolg geblieben war. Um so lieber schrieb ich wenige Jahre später einen Beitrag über Brecht als Lehrer der »Unbürgerlichkeit«, der 1987 in einer vom Leipziger Reclam-Verlag herausgegebenen Festschrift für Werner Mittenzwei erschien. Diesen Essay halte ich bis heute für einen meiner wichtigsten Brecht-Aufsätze, da er die These vertritt, daß sich Brecht zeit seines Lebens bemüht habe, den Bürger in sich selbst zu unterdrücken, und daß gerade in diesem Bemühen die Vorbildlichkeit seiner politischen und künstlerischen Haltung für andere Intellektuelle mit bürgerlichem Herkommen bestehe.
Ansonsten waren die achtziger Jahre für mich eine relativ Brechtlose Zeit. Lediglich im Jahr 1988 boten sich noch einmal zwei Möglichkeiten, sich gegen das allgemeine politische Desengagement vieler Germanisten einzusetzen, die in allen Formen eines über das eigene Ich hinausgreifenden Engagements nur noch fatale »Meisterdiskurse« sahen, die zwangsläufig zum Archipel Gulag führten, wie mir in diesen Jahren im Hinblick auf meine als »utopisch« belächelten Anschauungen immer wieder versichert wurde. Und zwar veranstaltete in diesem Jahr die Pariser Sorbonne zu Ehren des 90. Geburtstags von Brecht eine Konferenz, auf der ich einen Vortrag Über die Tugend der Solidarität. Arnold Zweig und Bertolt Brecht hielt, der jedoch - wie auch die Vorträge von Walter Hinck und Jan Knopf - nur wenige Zuhörer anzog. Um so lebhafter ging es dagegen auf der Geburtstagsfeier unter dem Titel »Brecht mit neunzig Jahren« an der Ostberliner Akademie der Künste zu, auf der Werner Mittenzwei (Ostberlin), Klaus-Detlef Müller (Tübingen), Jan Knopf (Karlsruhe) und Werner Hecht (Ostberlin) Brechts Tochter Barbara Brecht-Schall die beiden ersten Bände der Grossen kommentierten Berliner und Frankfurter Ausgabe der Brechtschen Werke überreichen konnten, die sowohl beim Ostberliner Aufbau-Verlag als auch beim Frankfurter Suhrkamp-Verlag herauskam. Da sich die Vorträge mit dem Thema »Brecht und die Lebenskunst« beschäftigen sollten, hielt ich dort einen Vortrag unter dem Titel Vom schonenden Umgang mit schönen Dingen. Bertolt Brecht und die angewandten Künste, bei dem ich mich auf meinen Aufsatz Brecht und die bildenden Künste von 1978 sowie das Vorwort zu dem von mir 1983 herausgegebenen Materialienband Bertolt Brecht: Über die bildenden Künste stützen konnte. Da die dort gehaltenen Referate - wegen des Zusammenbruchs der DDR im November 1989 - nicht mehr in Form einer Ostberliner Publi-kation erscheinen konnten, kam dieser Vortrag ein Jahr später im inzwischen von meinem Kollegen Marc Silberman in Madison/ Wisconsin weitergeführten Brecht Yearbook heraus.
Die vielen Debatten, die in den frühen neunziger Jahren in den USA und im wiedervereinigten Deutschland über die ideologische Fragwürdigkeit Brechts geführt wurden und die ihren infamsten Ausdruck in dem Buch Brecht and Company. Sex, Politics, and the Making of the Modern Drama fanden, das der ehemalige Brecht-Bewunderer John Fuegi 1994 in New York publizierte und das schnell zu einer ideologischen Superwaffe aller Brecht-Renegaten wurde, verfolgte ich anfangs - im Sinne des Tucholskyschen Mottos »So tief kann man nicht schießen« - nur von Ferne. Auch an den Versuchen einiger ehemaliger Brecht-Freunde, plötzlich mit Hilfe poststrukturalistischer Spitzfindigkeiten oder gewaltsamer Dekonstruktionen den »anderen Brecht«, das heißt den nichtsozialistischen, subjektorientierten Brecht zu entdecken, nahm ich nicht teil. Allerdings sah ich schon nach wenigen Jahren ein, wie töricht eine solche Schmollhaltung ist und daß man sich gerade in einer widrigen Situation dem ominösen »Zeitgeist« besonders energisch widersetzen muß.
Eine erste Gelegenheit dazu bot 1996 eine Tagung der Internationalen Brecht-Gesellschaft in Augsburg, wo ich mit einigen anderen Brecht-Forschern und -Forscherinnen der neuerdings weitverbreiteten These entgegentrat, daß Brecht lediglich ein geld-und geschlechtsgieriger Einzelgänger gewesen sei, der andere Menschen, vor allem Frauen, nur zu seinen Zwecken ausgebeutet habe. Daher sprach ich dort zum Thema Das Gemeinsame im Trennenden. Brecht und Felsenstein, um selbst an einem solchen »Fall«, wo es auf den ersten Blick keinerlei politische oder ästhetische Gemeinsamkeiten zu geben scheint, auf die innere Verbundenheit all derer hinzuweisen, die sich für den Aufbau des Sozialismus eingesetzt hatten. Außerdem trat ich mit Ernst Schumacher massiv gegen den auf dieser Tagung anwesenden Fuegi auf, der mit zynisch-lächelnder Miene erklärte, daß er die angeblichen »Unrichtigkeiten« in seinem Brecht-Buch, die man ihm angekreidet habe, völlig belanglos finde, und die wenigen tatsächlichen »Fehler« in einer zweiten oder dritten Auflage mit leichter Hand verbessern werde. Als ich darauf erwiderte, daß diese Unrichtigkeiten und Fehler so gravierend seien, daß er letztlich ganze Kapitel streichen müsse, und ihn auch Erst Schumacher verbal anrempelte, verließ er mit dem Moderator Helmut Koopmann kurzerhand den Saal, worauf die wütenden Augsburger, die an dem »Nestbeschmutzer« Fuegi endlich ihr Mütchen kühlen wollten, wutschnaubend zu trampeln begannen.
Zu einer neuen Betriebsamkeit in Sachen Brecht kam es erst im Jahr 1998, als der 100. Geburtstag von Brecht ins Haus stand. Neben dem üblichen Medienrummel, wie man ihn ein Jahr zuvor in Sachen Heine und ein Jahr später in Sachen Goethe erlebte, gab es jedoch in diesem Jahr in Berlin und anderswo auch ernsthafte Bemühungen, die Werke Brechts als ein Vermächtnis hinzustellen, das man nicht leichtfertig verramschen oder diffamieren solle. Im Zuge von Bemühungen dieser Art hielt ich den Einleitungsvortrag über Brecht und Eislers Deutsche Symphonie auf einer von Albrecht Riethmüller veranstalteten Tagung »Brecht und seine Komponisten«, die im Konzerthaus auf dem Ostberliner Gendarmenmarkt stattfand. Da auf dieser Konferenz fast ausschließlich »Wessis« sprachen, nahm von den Ostberliner Brecht-Forschern fast niemand an ihr teil. Als ich dagegen in der von Frank Hörnigk arrangierten Ringvorlesung an der Humboldt-Universität einen Vortrag unter dem Titel Der »arme b. b.« Brecht nach 1989 hielt, in dem ich einen säuberlichen Trennungsstrich zwischen den Brecht-Renegaten und den Brecht-Verehrern zog, erschien fast keiner von den Westberliner Brecht-Forschern - so antagonistisch standen sich die ideologischen Lager in dem seit zehn Jahren wiedervereinten Berlin noch immer gegenüber.
Während bei diesen beiden Veranstaltungen - aufgrund der politischen Homogenität der dort Versammelten - eine weitgehende Harmonie herrschte, löste der Brecht-Dialog, der im Jahr 2000 unter dem provozierenden Titel »Braun gleich rot?« im Brecht-Haus in der Ostberliner Chausseestraße stattfand und auf dem ich einen Vortrag zum Thema Ein wildgewordener Kleinbürger? Hitler-Parodien bei Chaplin und Brecht hielt, wegen seiner äußerst gemischten Teilnehmergruppen recht scharfe, ja persönlich verletzende Debatten aus. Vor allem im Hinblick auf Brechts Einstellung zu Stalin und zur Judenfrage kamen immer wieder Aggressionen hoch, deren Vorurteilsstruktur noch von den Klischees des Kalten Krieges bestimmt waren. Man mag solche »Entgleisungen« bedauern. Andererseits sind sie ein Symptom, daß sich der Streit um Brecht noch längst nicht gelegt hat. Vielleicht ist er doch kein »wirkungsloser Klassiker«, wie ihm auf seiten hämisch lächelnder Konservativer seit langem nachgesagt wird. Hoffen wir statt dessen, daß seine Werke noch immer jene »Salve Zukunft« enthalten, wie es in einem der letzten Brecht-Aufsätze von Klaus Völker heißt, die eine Beschäftigung mit ihnen überhaupt erst sinnvoll macht. Mögen auch ihre Inhalte zum Teil zwangsläufig veraltet sein, was nicht veraltet ist und nie veralten wird, ist die ihnen zugrunde liegende Gesinnung, nämlich - selbst unter erschwerten Umständen - nie den Mut zu verlieren, der jeweils akuten politischen und kulturellen Depravierung mit einer Haltung entgegenzutreten, die sich der Idee der sozialen Gerechtigkeit verpflichtet fühlt. Ansonsten hätten sie ihre Funktion eingebüßt, »unsere Wächter« zu sein, das heißt uns vor Rückfällen in ein entpolitisiertes oder gar reaktionäres Verhältnis zu den gesellschaftlichen Fragen unserer Zeit zu bewahren.
Kapitel | Seite |
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Kapitel | Seite |
Bertolt Brecht oderDie unaufhaltsame Überwindung des Nihilismus (1957)von Jost Hermand | Seite 18 |
HERR PUNTILA UND SEIN KNECHT MATTIBrechts Volksstück (1971)von Jost Hermand | Seite 43 |
Heinz Brüggemanns VERSUCHE ÜBER DAS VERHÄLTNIS VON KUNSTPRODUKTION, MARXISMUS UND LITERARISCHER PRODUKTION IN DEN THEORETISCHEN SCHRIFTEN BERTOLT BRECHTS (1974)von Jost Hermand | Seite 65 |
Utopisches bei Brecht (1974)von Jost Hermand | Seite 69 |
Mit der MOTHER auf Tournee (1974)von Jost Hermand | Seite 94 |
Die gute Frau von Mazomanie (1975)von Jost Hermand | Seite 98 |
Zwischen Tuismus und TümlichkeitBrechts Konzept eines »klassischen« Stils (1975)von Jost Hermand | Seite 105 |
Brecht-Winter in Westberlin (1977)von Jost Hermand | Seite 130 |
Bertolt Brecht und die bildenden Künste (1978)von Jost Hermand | Seite 138 |
Brechts Tui-Kritik. Ein ARGUMENT-Sonderband (1978)von Jost Hermand | Seite 167 |
Bertolt Brecht: HOLLYWOOD-ELEGIEN (1978)von Jost Hermand | Seite 172 |
Trommeln in der Boettcherstraße (1979)von Jost Hermand | Seite 177 |
Unter Christenmenschen. Krupp, Papst & Co (1979)von Jost Hermand | Seite 183 |
Bertolt Brecht: AN DEN SCHWANKENDENEine neue Lesart (1979)von Jost Hermand | Seite 193 |
»Das Theater ist nicht die Dienerin des Dichters, sondern der Gesellschaft.«Zur Aktualität von Brechts Bearbeitungstechnik (1980)von Jost Hermand | Seite 196 |
Der Über-VaterBrecht in der ÄSTHETIK DES WIDERSTANDS (1983)von Jost Hermand | Seite 221 |
Schweyk oder Hörderlein?Brechts und Bechers Ostfrontdramen (1983)von Jost Hermand | Seite 234 |
Brecht als Lehrer der »Unbürgerlichkeit« (1987)von Jost Hermand | Seite 243 |
Über die Tugend der SolidaritätArnold Zweig und Bertolt Brecht (1989)von Jost Hermand | Seite 258 |
Vom schonenden Umgang mit schönen DingenEiner von Brechts Vorschlägen zur Lebenskunst (1990)von Jost Hermand | Seite 274 |
Heine und BrechtÜber die Vergleichbarkeit des Unvergleichlichen (1991)von Jost Hermand | Seite 286 |
Das Gemeinsame im TrennendenBrecht und Felsenstein (1996)von Jost Hermand | Seite 301 |
Aufs Körperliche reduziertDer »arme b. b.« nach 1989 (2000)von Jost Hermand | Seite 312 |
»Manchmal lagen Welten zwischen uns!«Brecht und Eislers Deutsche Symphonie (2000)von Jost Hermand | Seite 331 |
Ein wildgewordener Kleinbürger?Hitler-Parodien bei Chaplin und Brecht (2000)von Jost Hermand | Seite 351 |
Anmerkungen | Seite 364 |
Bildnachweise | Seite 382 |
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Unter Christenmenschen. Krupp, Papst & Co (1979)
HERR PUNTILA UND SEIN KNECHT MATTI
Brechts Volksstück (1971)
Ein wildgewordener Kleinbürger?
Hitler-Parodien bei Brecht und Chaplin
Brechts Tui-Kritik. Ein ARGUMENT-Sonderband (1978)
Bibliographie
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Recherchen 8
Jost Hermand
Das Ewig-Bürgerliche widert mich an
Brecht-Aufsätze
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