Recherchen 95
Verspielt
Schriften und Gespräche zu Theater und Gesellschaft
von Wolfgang Engler
Paperback mit 200 Seiten, Format: 140 x 240 mm
ISBN 978-3-942449-38-0, Originalpreis: € 18,00
Was ist dem Einzelnen in einem Dasein, das unaufhaltsam in die Funktionale rutscht, noch ernstlich zumutbar, sei's in der Lebensprosa, sei's in der Fantasie? Wie können sich angesichts ebenso allgegenwärtiger wie einleuchtender Sachzwänge auch nur Reste menschlicher Autonomie im sozialen Großbetrieb behaupten? Wären da nicht die existentielle Gebrochenheit des Menschen, Erfahrungen von Verwundbarkeit und Schmerz und ungelebten Möglichkeiten, fänden Selbstbesinnung und Selbstbehauptung keinen Anhaltspunkt. Man muss in unseren Zeiten schon ein geübter Somatologe sein, um sich vom verbreiteten Krebsgang der Mimesis - jeder zeigt auf den anderen, alle gemeinsam auf das „System" als letztem Handlungsgrund - nicht entmutigen zu lassen. Wir zappeln im Netz; in einem Netz, das wir weder aus freien Stücken geknüpft haben noch gänzlich durchschauen; aber noch zappeln wir und haben also Grund zur Hoffnung. Überschüssige Bewegungen, Äußerungen, die jeglichem Kalkül, jeder Optimierung spotten - lässt sich eine reizvollere und zugleich lohnendere Beschäftigung für Schriftsteller, Theatermacher und Soziologen denken?
„Verspielt" versammelt anlässlich des 60. Geburtstages von Wolfgang Engler am 8. Mai 2012 seine wichtigsten Schriften und Gespräche zu Theater und Gesellschaft.
Wolfgang Engler ist Kultursoziologe und Rektor der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch" in Berlin. Er ist Autor zahlreicher Bücher zu gesellschaftlichen Transformationsprozessen, zuletzt „Unerhörte Freiheit" und „Lüge als Prinzip" (Aufbau Verlag 2007 und 2009).
Was sucht, was findet ein Soziologe an einer Schauspielhochschule, diese Frage wird mir oft gestellt. Er findet Studierende sowie Kollegen, die sich mit der Darstellung menschlichen Verhaltens, der Darstellbarkeit seiner oft verwickelten Hintergründe auseinandersetzen, Artverwandte also, gebe ich zur Antwort – dieselbe forschende Haltung, anderer Zugang, andere Methoden. Der darstellende Künstler begreift einzelmenschliches Fühlen, Sinnen, Trachten, Handeln, indem er diese Bekundungen der Conditio humana unter Einsatz seiner ganzen Person gestaltet, gestalten lernt. Der Soziologe geht von denselben Phänomenen aus, begreift sie jedoch unpersönlicher, abstrakter, als Effekte namenloser Prozesse und Strukturen. Sein Wissen mag dem Schauspieler, dem Regisseur, dem Choreografen bei der Bewältigung ihrer Gestaltungsaufgaben zustattenkommen, Singularität und Regelmäßigkeit bilden ein streitbares Paar. Soziologen wiederum ist anzuraten, sich auf die Polemik der Einzelheiten gegen die Regel, der sie (vermeintlich) unterstehen, einzulassen, und wo würde ihnen besserer Anschauungsunterricht geboten als in Schauspielschulen und Theatern! Ich selbst habe diesen unentgeltlichen Unterricht über all die Jahre genossen, er schärft den Blick für das Ereignis, hält das Denken lebendig, es bleibt auf Überraschungen gefasst, und dafür danke ich allen, bei denen ich in diese Schule gehen durfte.
Die in diesem Band versammelten Stücke sind Resultate dieser mal lauten, mal inneren Polemik, thematisch wie formal. Soziologische, philosophische Probleme werden im Kontext von literarischen Texten, Theaterstücken, Inszenierungen oder Ausbildungsfragen erörtert und umgekehrt. Bild und Begriff, Beobachtung, Beschreibung und Verallgemeinerung wechseln oftmals ohne scharfe Zäsuren miteinander ab; die Hoffnung auf eine wechselseitige Befruchtung der Abstraktionsniveaus und Perspektiven überstimmte stilistische Reinheitserwägungen.
Harald Müller danke ich für sein Angebot, eine Auswahl meiner Aufsätze, Essays und Gespräche zu veröffentlichen. Ich bin die Texte für diesen Zweck noch einmal durchgegangen und fand hier und da Anlass zu Korrekturen und Ergänzungen; die einleitende Abhandlung entstand neu. Dank schulde ich Nicole Gronemeyer für die enge Zusammenarbeit bei der Auswahl und Anordnung der Materialien sowie insbesondere für ihr sorgfältiges Lektorat.
Wolfgang Engler - Berlin, Februar 2012
Kapitel | Seite |
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Kapitel | Seite |
Conditio Humana | |
Scripted Reality (Spielen wir alle Theater?)von Wolfgang Engler | Seite 10 |
Tugenden der Machtvon Wolfgang Engler | Seite 35 |
Der menschliche Rest oder Was vermag der Charakter gegen die Mächte der Welt?von Wolfgang Engler | Seite 55 |
Vertrauen und Lügevon Wolfgang Engler | Seite 64 |
Sekunde durch Hirnvon Wolfgang Engler | Seite 72 |
Weltverhältnis und künstlerische Form | |
Kontrastarm, selbstverliebt, unverzichtbarVier Fragen an das Stadttheater der Zukunftvon Wolfgang Engler | Seite 76 |
Erfahrungsschwund, Somatik, MimesisAnmerkungen zur Regieausbildungvon Wolfgang Engler | Seite 82 |
Schlachtfeld und Bühne oder Wie kriegstauglich ist das Theater?von Wolfgang Engler | Seite 87 |
Deutsche Masken und GesichterWolfgang Engler im Gespräch mit Hugo Velardevon Wolfgang Engler und Hugo Velarde | Seite 95 |
Über Humor in Kunst und Soziologievon Wolfgang Engler | Seite 102 |
Uwe Johnson: Gesten des Erzählensvon Wolfgang Engler | Seite 119 |
Über Leben im Umbruch | |
Atemlos im Kreisverkehr1989 – Versuch einer Einordnungvon Wolfgang Engler | Seite 140 |
Eine radikale Alternative im KapitalismusWolfgang Engler im Gespräch mit Holger Teschkevon Wolfgang Engler und Holger Teschke | Seite 148 |
Lehrgänge der Wutvon Wolfgang Engler | Seite 155 |
Wer spricht? – Vergebliche Avantgarden und trotzige GrößenWolfgang Engler und Heinz Bude im Gespräch mit Andreas Willischvon Wolfgang Engler, Heinz Bude und Andreas Willisch | Seite 160 |
Wer sich beherrscht, der wird beherrschtWolfgang Engler im Gespräch mit Holger Teschkevon Wolfgang Engler und Holger Teschke | Seite 170 |
Hilft nur Gewalt, wo Gewalt herrscht?Wolfgang Engler im Gespräch mit Holger Teschkevon Wolfgang Engler und Holger Teschke | Seite 182 |
Vita | Seite 191 |
Textnachweise | Seite 192 |
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Wolfgang Engler
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Sport als Ideologie
Es geht (wieder) um den Realismus
Die Zersplitterung des Sozialen und ihre Überwindung
Leibhaftiges Denken
Betrachten wir den (fiktiven) Akt der Bewusstwerdung einmal aus der Nähe. Wir haben es…
Bibliographie
Beiträge von Wolfgang Engler finden Sie in folgenden Publikationen:
Heft 09/2021
Es ist ein Kreuz
Ein Schwerpunkt zur Bundestagswahl mit Luna Ali, Annekatrin Klepsch und Aladin El-Mafaalani
Heft 11/2019
Test the East
30 Jahre Mauerfall
Jeden Monat die wichtigsten Themen bei Theater der Zeit
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