Alle Beiträge von Wolfgang Engler
Exklusiver Vorabdruck
von Wolfgang Engler
Der Auftrag
Ein Theaterstück von Franz Xaver Kroetz, „Das Nest“, 1974 geschrieben, handelt von Kurt, einem Berufskraftfahrer, der mit seiner Frau Martha so einigermaßen über die Runden kommt. Nun erwarten sie ihr erstes Kind. Das macht Anschaffungen erforderlich, und sie wollen nicht geizen. Der Sprössling soll es gut haben vom ersten Tag an. Auf seinen Vater ist Verlass. Der hält sich aus allem heraus, denkt nur an die Arbeit, das wird schon. Der kleine Stefan kommt zur Welt und gedeiht. Und…mehr
aus der Zeitschrift: Theater der Zeit 9/2021
von Wolfgang Engler
aus dem Buch: Die andere Wahrheit
von Wolfgang Engler
Können Worte, was man Blicken zutraut: töten? Sie können gleich diesen den sozialen Tod eines Menschen herbeiführen, und wer den einmal gestorben ist, wird nur noch unter großer Kraftanstrengung zu sich selber finden.
Die deutsch-türkische Schriftstellerin Deniz Ohde hat eine Figur erschaffen, die alle Stationen dieses aus Worten gefertigten Dramas durchlebt, durchleidet.27 Sie versetzt sie in eine an einen Industriepark grenzende Siedlung nahe Frankfurt am Main. Dort malocht ihr Vater, der…mehr
aus dem Buch: Die andere Wahrheit
von Wolfgang Engler
Geteilte Erfahrungen schweißen zusammen. Man versteht sich ohne viel Worte und manchmal fällt man ins Erzählen und versteht sich wortreich. Wer eine Erfahrung nicht teilt, wird bei dem Versuch, von außen in sie hineinzugelangen, irgendwann an Grenzen stoßen. Aber ohne solche Versuche können wir weder Verständnis noch Empathie füreinander entwickeln. Deshalb sollte man diese Versuche nicht entmutigen. Aber genau das geschieht, und es geschieht zu oft, um darüber hinwegzusehen. Man nabelt…mehr
aus dem Buch: Die andere Wahrheit
von Wolfgang Engler
Dass Menschen nach uns kommen, morgen und in ferner Zukunft, bildet den zumeist unbewussten Bezugsrahmen für die Sinnhaftigkeit unseres persönlichen Daseins. Entfernen wir diesen Rahmen, wird vieles von dem, worauf wir unsere Energien, unseren Ehrgeiz richten, fraglich, weil seiner Anschlussfähigkeit beraubt. Wir, die meisten von uns, fürchten, was wir nicht abwenden können, den Tod, was unserer Tatkraft indessen keinen Abbruch tut. Hingegen fürchten wir nicht oder doch nicht genug, was wir…mehr
aus dem Buch: Die andere Wahrheit
von Wolfgang Engler
Es gab da einen zweiten Begriff, der in der Corona-Pandemie Furore machte und aufhorchen ließ: „evidenzbasierte Politik“. Er kündigte eine Neujustierung des Verhältnisses von Wissenschaft, Politik und gesellschaftlicher Konsensbildung an. Während der Weltfinanzkrise von 2008/09 war davon keine Rede. Seinerzeit stand die (ökonomische) Wissenschaft am Pranger. Sie hatte die Signale ignoriert, die den Crash ankündigten, die Überhitzung der Finanzmärkte mit ihren fahrlässig-optimistischen Prognosen…mehr
aus dem Buch: Die andere Wahrheit
von Wolfgang Engler
Im Begriff „Systemrelevanz“, so wie er in der Corona-Pandemie aufkam, kündigt sich die Auflösung der heiligen Trinität aus Moderne, Gesellschaft und Kapitalismus an, die doch noch kürzlich wie aus einem Guss geformt schien. Diesem epochalen Vorgang auf die Spur zu kommen, muss man sich nur in die Weltfinanzkrise von 2008/09 zurückversetzen. Da ging es, wie derzeit, um die Rettung des Systems, um Priorisierung: Was muss zuerst geschehen, was kann warten. Den Einsturz des finanzökonomischen…mehr
aus dem Buch: Die andere Wahrheit
von Wolfgang Engler
Rein auf ihre Problemlösungskompetenz gesehen macht die Hybridmoderne im Vergleich zu ihren beiden Vorläufern keine so schlechte Figur.
Die Marktmoderne bekommt die funktionellen Einheiten des Vergesellschaftungsprozesses nicht wirksam genug zu fassen. Die gehören Privaten und die verbitten sich politische Einmischungen, die die Eigentumsgrenze überschreiten. Überhaupt schwächt das dieser Gesellschaftsform innewohnende Rationalitätsprinzip, Rechenhaftigkeit in allen Lebenslagen, die…mehr
aus dem Buch: Die andere Wahrheit
von Wolfgang Engler
Zur selben Zeit, als der administrative Sozialismus in Ost-Mitteleuropa endgültig erstarrte, in den 1980er Jahren, öffnete sich das Reich der Mitte für Reformen. Kaum waren sie in Gang gekommen, drang der Nachwuchs, drangen Studenten, junge Leute, öffentlich und in großer Zahl auf Veränderungen, die über die Wirtschaft hinausgingen. Die Führung zögerte eine Weile, die Proteste gewaltsam zu unterdrücken, entschied sich dann aber dafür und ließ Panzer rollen. Das war das Erwartbare, siehe Prag…mehr
aus dem Buch: Die andere Wahrheit
von Wolfgang Engler
Es hat nicht an Versuchen gefehlt, den administrativen Sozialismus aus der Moderne auszuschließen. Sie gingen naturgemäß von jenen aus, die diese zuvor in den liberalen Kapitalismus eingeschlossen hatten. Dieser Platzmangel in der Moderne ist künstlich, hausgemacht. Wohl standen die Gesellschaften des ehemaligen Ostens denen des Westens an funktionaler Differenzierung sichtlich nach, weil deren Architektur infolge der Verstaatlichung des Privateigentums eine alles überwölbende…mehr
aus dem Buch: Die andere Wahrheit
von Wolfgang Engler
Privateigentum, Konkurrenz, Profitmotiv: Das ist die Troika kapitalistischer Vergesellschaftung, der die Verselbständigung der Funktionen und Glieder naturnotwendig eingeschrieben ist.
Das Privateigentum zieht eine Grenze zwischen dem, worüber man verfügt und worüber man nicht verfügt. Die Unverfügbarkeit über fremdes Privateigentum eröffnet einen Raum, in dem die Privaten ihre Kräfte miteinander messen, den Raum der Konkurrenz. In ihr besteht, wer profitabel wirtschaftet, seine Kosten deckt,…mehr
aus dem Buch: Die andere Wahrheit
von Wolfgang Engler
Die Unterscheidung von Selbst- und Fremdinteresse ist eine zulässige, sinnvolle, sachlich gebotene Unterscheidung. Gesellschaftliche Individuen bleiben wesensmäßig voneinander getrennt, auch wenn sie miteinander verbunden sind. Der Andere existiert unabhängig von mir, ist eine Realität für sich. Seine und meine Interessen können konvergieren, müssen das aber nicht. Darüber, wie es sich konkret verhält, liegt ein Schleier der Ungewissheit; zu unterstellen, dass dieser sich auf Anhieb in…mehr
aus dem Buch: Die andere Wahrheit
von Wolfgang Engler
Kurt hat für ein derart abgehobenes, spitzfindiges Leid kein Sensorium. Er trägt sein eigenes Bündel, seit er sich in die Augen sah und erkannte, als einen, der für ein paar Mark mehr zu allem bereit war, ein Dealer ohne Gewissen.
Aber handelte er, mehr noch sein Chef, der wusste, was er tat, verlangte, nicht nach dem Drehbuch der modernen Welt, von Soziologen verfasst? Als Gesellschaftswesen, Ferdinand Tönnies’ klassischer Unterscheidung von „Gesellschaft“ und „Gemeinschaft“ ganz…mehr
aus dem Buch: Die andere Wahrheit
von Wolfgang Engler
Kurt, nach seiner schmerzhaften Erfahrung, hat ein Gespür für diese Differenz. „Private Vorteile, öffentliche Laster“ lautet sein Fazit, seine neue, andere Wahrheit in Umkehrung des Untertitels von Bernard Mandevilles berühmter Bienenfabel aus dem Jahr 1714, als der Kapitalismus noch eine Utopie war: „Privat Vices, Publick Benefits“. Er streckt seine Fühler zur Gewerkschaft aus. Die Gewerkschaft, na ja. Deren Funktionäre verteidigten seit je und hartnäckig Industrien, Arbeitsplätze, deren…mehr
aus dem Buch: Die andere Wahrheit
von Wolfgang Engler
Kroetz’ Versuchsanordnung versammelt alle Elemente, um eine Geschichte zu erzählen, die lange vor Kurt begann und die noch immer währt. Es ist die Geschichte einer großen Verkehrung, einer großen Ungerechtigkeit und einer leisen Hoffnung.
Da ist der Fuhrunternehmer, der seinen Schnitt machen will, machen muss, ist er doch nicht allein auf seinem Feld. Konkurrenten sitzen ihm im Nacken. Um möglichst gut abzuschneiden, entsorgt er Abfälle seiner Firma zu geringen Kosten in die Umwelt: hundert…mehr
aus dem Buch: Die andere Wahrheit
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