Magazin
Die deutsch-italienische Compagnia Barletti / Waas mit bilingualen Peter-Handke-Inszenierungen
von Thomas Irmer
Seit fast zehn Jahren treten sie zum Beginn von Peter Handkes frühem Sprechstück „Selbstbezichtigung“ nackt auf, verkörpern so das unschuldige, noch nicht von normierter Sprache zugerichtete Kindesalter. Dann legen sie schwarze Kleidung an, die diese Frau und diesen Mann förmlich erscheinen lässt. Die Sätze ihrer Theaterbeichte werden unerbittlicher, aber auch absurder. Und sie verbinden zwei Sprachen, das Deutsche und das Italienische, nicht nur im Wechsel, sondern im Beisammensein, gesprochen und im Schriftbild. Woraus, wie auch bei anderen Produktionen des Duos, eine besondere Dynamik und Schönheit entsteht.
Das deutsch-italienische Duo ist seit Langem auch ein Paar, aber seit sie mit dieser „Autodiffamazione“ – 2013 in Rom uraufgeführt – in Deutschland und Italien unterwegs sind, haben sie wohl auch die ästhetische Ausrichtung ihrer Theaterarbeit gefunden. Intensität der bilingualen Sprach- und Sprechkunst bei minimaler Ausstattung und fast Berührungsnähe zum Publikum zusammen mit einer Auffassung von Stücken der Literatur, die sie unbedingt zur Aufführung bringen wollen. Auf der Handke-Linie folgte 2017 „Kaspar“ (ebenfalls in Zweierbesetzung), 2021 in gemeinsamer Regie das Riesenwerk „Über die Dörfer“ (mit fünf dazu engagierten Schauspieler:innen) und im öffentlichen Raum ein weiteres Sprechstück, „Weissagung“ (mit einer ganzen Sprechchor-Truppe, u. a. beim Performing Arts Festival Berlin vor dem Roten Rathaus).
Außerdem Stücke von Herbert Achternbusch, Rainer Werner…mehr
aus der Zeitschrift: Theater der Zeit 12/2022
Stück
Ariane Koch im Gespräch mit Nathalie Eckstein
von Nathalie Eckstein und Ariane Koch
Das Anthropozän ist vorbei. Ariane Koch, wie begegnen wir nicht-menschlichen Wesen im Theater? Welches Potenzial steckt in dieser Begegnung?
Ich hatte eine Initialzündung bei einem Gespräch, das ich gesehen habe – mit Steve Brusatte, einem Paläontologen. Es gibt einen sogenannten Dinosaurier-Rassismus in der Art und Weise, wie wir auf Dinosaurier schauen. Wir kennen sie heute hauptsächlich aus Jurassic Park – das sind alles Exemplare, die zu einer bestimmten Zeit in Nordamerika gefunden und anschließend kommerzialisiert wurden. Brusatte hat darauf hingewiesen, dass in China auch jetzt noch jede Woche Fossilien neuer Arten entdeckt werden, also dass es bei Dinosauriern eine Minderheit gibt, die nicht beachtet wird, die man nicht kennt aus der westlichen Populärkultur. Das fand ich sehr spannend, dass sich einerseits der Blick auf die Spezies, die man aus den Ausgrabungen kennt, mit der Zeit sehr verändert, aber eben andererseits, dass die Dinosaurier als ein Spiegel fungieren für den Menschen und die Gesellschaft, in der er lebt. Aktuelle Machtverhältnisse unserer Welt werden sichtbar dadurch, wie wir auf die Dinosaurier zurückschauen. Theater ist wiederum ein sehr guter Ort, um aus dem Menschsein hinauszuschlüpfen, zumindest als Behauptung oder zeitweise. Und ich bin idealistisch genug, um zu sagen: Theater ist der richtige Ort, um via einer anderen Spezies über uns selbst nachzudenken.
Wenn wir schon bei der anderen Spezies sind: Die Begegnung zwischen der Gruppe von…mehr
aus der Zeitschrift: Theater der Zeit 12/2022
Magazin
Das tschechische Theater zeigt vielfältige Aufarbeitungsversuche der postsozialistischen Geschichte
von Nathalie Eckstein
Die bewegte Geschichte Tschechiens sieht man seinem Theater an. Und seinen Theatern. Das 30. Mezinárodní Festival in Plzeň findet an insgesamt sieben Spielstätten statt, darunter das Divadlo Josefa Kajetána Tyla, ein Neorenaissancebau der k.u.k.-Zeit, das Divadlo Alfa aus der (post-)sozialistischen Ära (saniert und mit einem Saal wie ein Kino) und die zweite Spielstätte des Divadlo Josefa Kajetána Tyla – modern und großzügig, 2014 eröffnet, das einzige Theatergebäude in Tschechien, das nach 1989 erbaut wurde. Die Geschichte kriecht aber auch durchs Theater. Um zu Yana Ross’ „Geschichten aus dem Wiener Wald“ vom Valstybinis Jaumino Teatras in der litauischen Hauptstadt Vilnius zu gelangen, geht man lange Flure der Hinterbühne des Divadlo Josefa Kajetána Tyla entlang. Während im Bühnenbild einer postsowjetischen Mehrzweckhalle, ins Litauen der neunziger Jahre verlegt, mal eine Beerdigung, mal eine Hochzeit stattfindet, drängen sich die Gräueltaten der Geschichte durch den provisorisch mit Klebeband geklebten, sich hoch wölbenden Boden. In der Überschreibung des Textes probieren die Figuren es mit litauischem Nation Building, haben aber angesichts der sie nach unten ziehenden Dynamik ihrer Gewaltbeziehungen keine Chance auf ein gelingendes Leben.
Auf ein mehr oder weniger gelungenes Leben in Auseinandersetzung mit der sozialistischen Geschichte blickt auch die Inszenierung „Zápas o Generála“, in der Regie von Ivan Krejči von der Komorní scéna Aréna in Ostrava. Es ist Tomáš…mehr
aus der Zeitschrift: Theater der Zeit 11/2022
Protagonisten
Ein Besuch in Kopenhagen bei Mille Maria Dalsgaard und Mareike Mikat, der künftigen Doppelspitze am neuen theater Halle
von Thomas Irmer
Hier würde man kein Theater vermuten. Ein paar Bahnstationen südlich vom Stadtzentrum Kopenhagens führt ein unscheinbarer Weg in eine Parkanlage zu einer Friedhofskapelle. Das Gebäude für Bestattungszeremonien war schon seit Jahrzehnten stillgelegt, als Mille Maria Dalsgaard hier vor rund zehn Jahren mit dem von ihr gegründeten Sydhavn Theater einzog. Ob es damals nicht ein gespenstischer Ort für Theater gewesen sei? „Nein, es war ein stiller Ort, der einst für bestimmte Rituale geschaffen wurde. Also sehr geeignet für Theater“, erinnert sich Dalsgaard an einem der letzten warmen Sommerabende bei einer Dernière-Party vor der Kapelle. Demnächst wird das Gebäude für die Bedürfnisse des Sydhavn Theaters umgebaut, das die Trauerhalle für Aufführungen und einen Eingangsraum als Foyer nutzt. Dann, ab Beginn der Spielzeit 2023/24, wird Mille Maria Dalsgaard schon Intendantin in Halle sein, zusammen mit Mareike Mikat als stellvertretender künstlerischer Leiterin. Mikat ist an diesem Wochenende nach Kopenhagen gekommen, denn es ist die Feier eines großen Jubiläums des dänischen Theaters, und das Sydhavn Theater begeht es ganz speziell in seiner unmittelbaren Nachbarschaft.
Am 23. September 1722 wurde zum ersten Mal ein Theaterstück in dänischer Sprache aufgeführt, Molières „Der Geizige“. Ein paar Tage später folgte das Debüt des dänisch-norwegischen Klassikers Ludvig Holberg, dessen Stücke die Kopenhagener Theater zum Jubiläum bieten. Aber die Geburtsstunde für dieses…mehr
aus der Zeitschrift: Theater der Zeit 11/2022
Thema
Erkundungen und Erkundigungen aus gegebenem Anlass in Weimar, Meiningen, Rudolstadt und Gera-Altenburg
von Michael Helbing
Alle reden vom Zuschauerschwund im Theater. Ja, den gibt‘s auf jeden Fall, sagen sie an den ostthüringischen Bühnen Gera-Altenburg. Nein, können wir nicht bestätigen, heißt es im südthüringischen Meiningen. Und dazwischen, auf halber Autobahnstrecke, geht ein Intendant jetzt wandern: Hasko Weber hat in Weimar mit dem Besucherservice gewettet, dass er auf dem Theaterfest zum Spielzeitauftakt mindestens fünf Zuschauer findet, die so gerne mit ihm den Thüringer Wald durchstreifen würden, dass sie ein Abonnement abschließen. Weil aber auch solche darauf Lust hatten, die bereits Abonnementen sind, sollte die „Wandergruppe Weber“ nun Ende Oktober an gleich zwei Tagen um den Inselsberg ziehen, mit jeweils zehn Beteiligten.
Das ist keine Massenbewegung, aber eine Reaktion auf diverse Zuschauerwanderungen an deutschen Theatern. Es beglaubigt, was Hasko Weber auf dem Theaterfest ins Publikum rief: „Wir tun alles dafür, dass Sie gerne kommen!“ Zwei Wochen später beglückte er mit dem Ensemble das Jubiläum eines Fitnessstudios: Die „Rambazambabar“ spielte auf, ein Kult gewordenes Liederabendformat des Hauses. Weber will mit dem Theater in der Stadt sichtbar bleiben oder, je nachdem, werden. Andernorts spräche man von Kundenbindung.
„Ja“, bestätigt er fürs Deutsche Nationaltheater, „wir haben über die zwei Coronajahre hinweg Abonnenten verloren, auch altersbedingt.“ Das klassische Festplatzabo sei seit Jahren rückläufig. Bei flexiblen Wahlabos hingegen, einer Art Gutscheinsystem,…mehr
aus der Zeitschrift: Theater der Zeit 11/2022
Spanien
von Stefanie Gerhold
Anfang März fährt Stefanie Gerhold für die Übersetzung des Stücks Himmelweg nach Madrid, um den Autor Juan Mayorga zu treffen. Außerdem zieht es sie ins Theater. Nach langem Stillstand sind die Madrider Bühnen neu erwacht.
Für Juan Mayorga läuft es gut. Vor kurzem hat er den Prinzessin-von-Asturien-Preis erhalten, seit 2019 gehört er der Real Academia Española an, und von diesem Jahr an leitet er das Teatro de la Abadía, das kleine Juwel unter den Madrider Bühnen. Vor allem aber werden seine Stücke viel gespielt – in Spanien. In Deutschland begegnen die Theater seine Stücke noch zögerlich, obwohl diesen Dramatiker, der eine Weile in Münster studiert hat, auch deutsche Themen beschäftigen.
Himmelweg handelt von einem KZ, das die Nazis als normale Stadt präpariert haben. Es geht um die Theaterhaftigkeit dieses Vorzeigelagers, mit dem der NS-Staat die internationale Öffentlichkeit beschwichtigen wollte. Himmelweg geht so unbefangen mit dem Thema um, wie ein deutsches Stück das nicht könnte. Einige Stellen befriedigen mich in meiner deutschen Fassung noch nicht, ich trage sie während meiner Tage in Madrid mit mir herum.
Im Teatro María Guerrero, einer Spielstätte des Centro Dramático National, ist die Truppe La Calórica zu Gast. Sie führen Las aves (Die Vögel) auf, frei nach Aristophanes. „Populismus oder Freiheit“ steht als Slogan auf dem Plakat, aber von postdramatischen Deklamationen keine Spur! In bunten Federkleidern, Strumpfhosen und Pumps fegen die Darsteller über die…mehr
aus der Zeitschrift: Theater der Zeit 10/2022
Magazin
Bühnen-Objekte Bert Neumanns im mecklenburgischen Klempenow
von Juliane Voigt
Was da wohl gelaufen wäre, mit der Burg als Bühne, Vorpommern als Kulisse, reines Prospekt-Theater aus Landschaftspanoramen. „Warten auf Godot“ vielleicht, denn viel passiert ja nicht so rings um Altentreptow, wobei es so still gar nicht ist, denn links und rechts der Burg rauschen die Autos vorbei. Auf einer Seite zieht die A20 eine Schneise durch die Landschaft, auf der anderen die legendäre B96, die Sehnsuchts-Transitstrecke der Berliner Richtung Ostsee. „Raststätte 1km.Bert Neumann Vol. 2“ heißt deshalb eine Ausstellung, die schon im Sommer, genau am 30. Juli, am 7. Todestag des Bühnen- und Kostümbildners Bert Neumann, eröffnet wurde und just zu Ende ging. Initiiert von der Bert Neumann Association, die seit 2018 als gemeinnützige Stiftung dessen Archiv verwaltet.
Nach dem Bert-Neumann-Motto „Man nimmt eben das, was da ist“ haben sich Lenore Blievernicht und Thilo Fischer inspirieren lassen und aus dem, was da ist im künstlerischen Nachlass, eine Ausstellung konzipiert. Ausdrücklich keine Retrospektive sollte es sein, obwohl die fällig wäre. Aber das war auch gar nicht der Plan. Abgesehen davon, dass es die Bühnenbilder so gar nicht mehr gibt, gehören sie da hin, wofür Bert Neumann sie entworfen hat – ins Theater. Im Archiv der BNA befinden sich noch einzelne Objekte aus den Arbeiten, nicht nur aus der Volksbühne, sondern auch aus seinen Arbeiten in anderen Häusern. „Das Spannende daran ist, dass diese Objekte miteinander korrespondieren.“ So Blievernicht. Die…mehr
aus der Zeitschrift: Theater der Zeit 10/2022
40 jahre kampnagel
Amelie Deuflhard im Gespräch mit Peter Helling über Geschichte und Zukunft der Hamburger Kulturfabrik Kampnagel
von Amelie Deuflhard und Peter Helling
Gerade kommt Amelie Deuflhard von einem dreitägigen Workshop mit dem Architektenteam Anne Lacaton & Jean-Philippe Vassal. Die Pritzker-Preisträger:innen sollen Kampnagel in den nächsten Jahren umbauen und sanieren. Jetzt sitzt die Intendantin im Avant-Garten, dem Festivalgarten des Internationalen Sommerfestivals, unter den rostigen Kranen. Hinter ihr ragen die großen Hallen der ehemaligen Fabrik auf. Das Ganze hat auch nach 40 Jahren den Charme einer liebevoll heruntergekommenen Off-Spielstätte. Und den soll Kampnagel, inzwischen Hamburgs viertes Staatstheater, behalten, selbst die Graffitis sollen teilweise bewahrt werden. Die quietschenden Tribünen in den Hallen gehören aber bald der Vergangenheit an, verspricht Amelie Deuflhard lächelnd, die in diesem Jahr mit dem Theaterpreis Berlin ausgezeichnet wurde.
Amelie Deuflhard, können Sie uns verraten, was das international renommierte Architektenteam mit Kampnagel vorhat?
Um bei einer Instandsetzung und Modernisierung Kampnagels nicht die ursprüngliche Identität des Ortes zu verlieren, gilt es, die Erinnerung an die alte Fabrik und den Geist des Ortes zu bewahren, ohne in Nostalgie zu verfallen, sondern mit größtem Anspruch die bestehende Dynamik des Theaters zu unterstützen und seine Weiterentwicklung zu fördern. Lacaton & Vassal, das Pariser Architekturbüro, setzt auf umsichtige Sanierung der Fabrikhallen. Dabei werden Sichtlinien, Tageslicht und Transparenz wiederhergestellt. Lacaton & Vassal werden nutzer- und…mehr
aus der Zeitschrift: Theater der Zeit 10/2022
40 jahre kampnagel
40 Jahre Kampnagel und das Festival zum Jubiläum
von Peter Helling
Vor 40 Jahren war das hier Brachland, ein wilder Ort: Heute ist der Avant-Garten des Internationalen Sommerfestivals auf Kampnagel so etwas wie der heimliche Place to be im Festivalkalender: Fast jeder Korbstuhl ist besetzt, man fläzt biertrinkend auf unbequem gezimmertem Holzmobiliar, blickt sich in einem durchsichtigen Spiegel an oder betätigt einen riesigen Blasebalg, um einen schiefen Ton zu erzeugen. Große pinke Faltobjekte stehen herum wie überdimensionales Spielzeug: Entworfen haben diese gelungene Avantgarde-Spielwiese Jascha Kretschmann und Franz Thöricht. Der Festivalcharakter gehört zu Kampnagel wie die rostige Vergangenheit als Fabrik für Großmaschinen. Als „Nagel & Kaemp“ wurde sie 1865 gegründet, später drehten sich die Namen um, „Kampnagel“-Kräne stehen bis heute an vielen Hafenbecken der Welt. Im Zweiten Weltkrieg war es ein Rüstungsbetrieb, in dem Zwangsarbeiter und -arbeiterinnen schuften mussten. Bis 1981 gingen hier Gabelstapler vom Band. Und dann kam das Theater.
Das Deutsche SchauSpielHaus wurde renoviert, brauchte eine Interims-Spielstätte, und die fand es hier, auf Kampnagel, ab 1982. Im Oktober desselben Jahres konnten freie Gruppen ein erstes Festival veranstalten, „Besetzungsproben“ hieß es. Corny Littmann war der heimliche Leiter. Sein Tourneetheater Familie Schmidt trat sogar in der riesigen Halle K6 auf, füllte die Ränge. Später waren Peter Brook zu Gast, der italienische Clown Leo assi, und 1984 zog das SchauSpielHaus zurück an die…mehr
aus der Zeitschrift: Theater der Zeit 10/2022
Thema
Oliver Proske von NICO AND THE NAVIGATORS im Gespräch mit Thomas Irmer
von Thomas Irmer und Oliver Proske
Mit der von euch entwickelten Software erlebt man einen hybriden Raum, in dem sich künstliche Elemente mit einer realen Performance verbinden. Das Prinzip basiert auf den schon öfter auch im Theater eingesetzten Augmented-Reality-Brillen, erweitert aber das Spektrum. Um was handelt es sich genau?
Man könnte sagen, dass wir eine immaterielle Traumlandschaft erzeugen, in der sich bereits Geschehenes mit aktuellen Ereignissen überlagert: Reale Performer:innen werden dabei mit imaginären Bildern konfrontiert, was künftig sicher neue Möglichkeiten des Erzählens eröffnet – als Fortschreibung der Virtual Reality, bei der bislang ja vor allem eine filmische Illusion erzeugt wird. Bei der von uns verwendeten Technik wird daraus eine Live-Raum-Begegnung von tatsächlich vorhandenen Körpern mit bewegten virtuellen Elementen, die in ihrer Dreidimensionalität bislang nur in der Fantasie vorgestellt werden konnten.
Konkret sind es ja eine Art Gliederpuppen, die sich zusammen mit den realen Tänzern in eurer Produktion „Du musst Dein Leben rendern!“ bewegen.
Diese animierten Figuren sind zunächst von den beiden Darsteller:innen selbst mit ihren Bewegungen belebt worden, die durch Datenanzüge abgenommen wurden. Die Tänzerin und der Tänzer stehen also mit ihren eigenen Abbildern im Dialog, was aber nur das Publikum mit der Brille so wahrnimmt. Im Probenprozess müssen die Akteure daher die genau zu ihrem Gegenüber passenden Bewegungen einstudieren – synchronisiert wird die Choreografie ganz…mehr
aus der Zeitschrift: Theater der Zeit 9/2022
Nachruf
Eine Erinnerung an Hans-Thies Lehmann
von Tom Stromberg
Mein Exemplar seines Buches: Eselsohren, Klebezettel appliziert, schöne Sätze wie diesen markiert: „Mehr Gefahr droht der Tradition des geschriebenen Textes von musealer Konvention als von radikalen Formen des Umgangs mit ihm.“ Eine Menge angestrichener Textpassagen mit verschiedenen Stiften, also offenkundig zu verschiedenen Anlässen und Zeiten.
Postdramatisches Theater. Einfach so. Kein Untertitel, keine absichernden Einschränkungen – in der Wissenschaft eigentlich überlebenswichtig. Ein Buch, das neuere Theaterentwicklungen ernst nahm und sie der theoretischen Beschäftigung mit Theater.kunst zugänglich gemacht hat, sie für die Wissenschaft „adelt“. Ein Denkprozess weg von der Dominanz des Textes im Theater.
Seite 38 (Verlag der Autoren, Frankfurt a. M. 1999) lese ich immer wieder. Da geht es um das Wagnis experimentellen Theaters, um die Förderung, die Künstler brauchen, damit sie Kunst am Theater machen und nicht sonst wo. Um die Theater, die Risiken eingegangen sind und deshalb Dank verdienen. Diese Aufmunterung tut gut; ab und zu. Manchmal brauchen auch die Unterstützer Unterstützung.
„Die Intention dieser Studie geht nicht auf umfassende Inventarisierung“, so Lehmann, der mit dem Buschmesser eine Bresche schlägt durch den Realitätsdschungel Theater. „Aufgabe der Theorie ist es, das Gewordene auf Begriffe zu bringen, nicht es als Norm zu postulieren.“ Begriffstäter. Aber einer, der das Theater liebt, das Schauen, das Fragen, einer, der sich für eine Erfahrung…mehr
aus der Zeitschrift: Theater der Zeit 9/2022
Aktuelle Inszenierung
Beim Epidauros-Festival triumphiert „Agamemnon“ von Ulrich Rasche
von Christoph Leibold
Wenn das mal kein Statement ist: „Kunst ist die Antwort auf alles!“, erklärt Katerina Evangelatos. Was den Menschen ausmache, das sei ja nicht allein die Einsicht, angesichts des Klimawandels auf Flugreisen zu verzichten, so die künstlerische Leiterin des Athens Epidaurus Festivals. Menschsein habe auch mit der Fähigkeit zu tun, eine Fuge von Bach, ein Gemälde von Rembrandt oder ein Drama von Aischylos wertzuschätzen. Kunst zu den Menschen zu bringen, ist für Evangelatos daher eine Aufgabe von so essenzieller Bedeutung, dass sie auch künftig nicht auf internationalen Austausch verzichten will. Trotz der mutmaßlich fragwürdigen Ökobilanz von Großgastspielen.
Andreas Beck, Intendant des Münchner Residenztheaters, der die „Agamemnon“-Auswärtspremiere seines Hauses in Epidauros eingefädelt hat, sieht die Sache ähnlich. Er argumentiert mit Blick auf den Krieg in der Ukraine: „Menschen brauchen gerade in diesen Zeiten Perspektiven. Je ärmer wir werden an Perspektiven, desto dramatischer wird die ganze Situation.“ Mit anderen Worten: Für Beck wie für Evangelatos überwiegt der gesellschaftliche Nutzen solcher aufwendigen Abstecher den ökologischen Schaden.
Trotzdem, das Dilemma bleibt: Kulturaustausch und Klimaschutz sind zwei hehre Ziele, die sich nicht wirklich vertragen. Entschärfen lässt sich dieser Zielkonflikt nur durch Maßnahmen wie dem modernen Klimasünden-Ablasshandel, sprich: Spenden an entsprechende Umweltorganisationen, deren Projekte den CO2-Ausstoß kompensieren, den…mehr
aus der Zeitschrift: Theater der Zeit 9/2022
Eine Einführung in den Zeitgenössischen Zirkus
von Franziska Trapp
Ich erlaube es mir, diesen Artikel mit einer Frage zu beginnen[i]: Was sind Ihre ersten Assoziationen, wenn Sie das Wort ‚Zirkus‘ hören? Trotz mangelnder magischer Fähigkeiten wage ich die Telepathie: Ein Zelt, ein Clown, ein Löwe mit weit aufgerissenem Maul, eine Trapezkünstlerin. Nun möchte ich Ihnen eine zweite Frage stellen: Waren Sie in diesem Jahr bereits im Zirkus? Auch für den Fall, dass Sie dies verneinen, hatten Sie sicher gerade eine klare Vorstellung davon, was Zirkus ist – so zumindest erging es den Passant:innen, Studierenden, Theaterbesucher:innen und Wissenschaftler:innen, mit denen ich in den letzten Jahren dieses kurze Gedankenspiel durchgeführt habe. Mehr noch: Viele von ihnen waren noch nie im Zirkus. Die Motiv-Assoziationen wie das Zelt, der Clown, das (wilde) Tier, und die Trapezkünstlerin, so ist anzunehmen, entstammen also nicht den Erfahrungen mit dem empirischen Genre, sondern vielmehr dessen Rezeption. Redensarten wie „Mach keinen Zirkus“[ii] oder im englischen Sprachraum „Not my Circus, not my Monkeys“ sind längst Teil unserer Alltagssprache; in Zeiten von Trump kritisierte die New York Times den „Foreign Policy Circus“[iii]; Ferrero kooperiert in einer deutschlandweiten Marketing-Kampagne mit Roncalli; Madonna widmet dem Zirkus einen eigenen Song; Spielzeug, Kinderbücher und -kleidung sind gespickt mit Zirkusemblemen. Kurz: Zirkus ist gegenwärtig omnipräsent. Was aber die Rezeption des Zirkus in beispielsweise der Literatur, der Pop-Kultur, Musik…mehr
aus dem Buch: Circus in flux
An introduction to the contemporary circus
von Franziska Trapp
Allow me to begin this article with a question[i]: What are your first associations when you hear the word “circus”? I don’t have magical abilities, but let me try and read your mind anyway: a tent, a clown, a lion with its mouth wide open, a trapeze artist. Now I would like to pose a second question: have you been to the circus this year? Even if you replied “no”, you probably had a clear idea of what circus is – certainly that was the case with the passers-by, students, theatregoers and academics with whom I’ve been conducting this brief mental exercise in recent years. What’s more, many of them have never been to the circus. Associations with motifs such as the tent, the clown, the (wild) animal and the trapeze artist, it can be assumed, do not arise from experience with the empirical genre, but rather from its reception. Idioms such as “stop clowning around” and “not my circus, not my monkeys” have long been part of our everyday language; in the Trump era, the New York Times criticised the “foreign policy circus”[ii]; Ferrero entered into a cooperation with German circus troupe Roncalli for a national marketing campaign; Madonna dedicated one of her songs to the circus; toys, children’s books and clothing are adorned with circus emblems. In short, the circus is omnipresent right now.
But the common element in the reception of the circus in literature, pop culture, music and advertising is the recourse to the “heyday of […] arena performance in the late 19th and early…mehr
aus dem Buch: Circus in flux
Magazin
Am Teatr Współczesny in Szczecin sorgt eine neue Truppe für Aufsehen in Polen
von Thomas Irmer
„Edukacja Seksualna“ heißt das Stück von Michał Buszewicz, das in Polen ein per Gesetz neuerdings verbotenes Schulfach adressiert. Denn die Sexualerziehung wurde von der nationalkonservativen PiS-Regierung an Schulen abgeschafft, fast im gleichen Atemzug, in dem sie das Abtreibungsrecht praktisch bis auf ganz wenige Ausnahmen aufhob. Eine offenbar panische Angst vor der Darstellung von Sexualbeziehungen in differenzierteren Geschlechterverhältnissen trieb die in diesem Punkt antiliberale Kaczynski-Partei in die weitere Spaltung der Gesellschaft, mit der katholischen Kirche im Hintergrund und dazu traditionsfremden Ideen überhaupt.
Die Inszenierung in der Regie des Autors ist eine lockere Szenenfolge ohne jeglich explizite Darstellungen, als Revue des „Entschämens“ dieses Themas. Das Besondere ist vielleicht gar nicht so sehr die pädagogische Aufklärung von Jugendlichen, sondern dass Sex auch für Erwachsene ein schwieriges soziales Problem bleiben kann, jenseits von Beziehungshändel und Pornoeinsamkeit. Fast immer zeigt es Dialoge mit Ende unbekannt – oder eben zum Weiterführen auffordernd. Angeboten wird das Stück für Schüler:innen ab 15 und ist vom Bürgermeister von Szczecin eigens abgesegnet. Der gehört der PO (Bürgerplattform) an und unterläuft damit die Volkserziehung der Regierenden in Warschau. Es ist der in Polens Kultur nicht untypische Konflikt zwischen der Landesregierung und den in vielen großen Städten auch für die Kultur verantwortlichen liberalen…mehr
aus der Zeitschrift: Theater der Zeit 6/2022