Heft 12/2022
Barbara Mundel
Stürzende Gegenwart
Broschur mit 80 Seiten, Format: 215 x 285 mm
ISSN 0040-5418
Der Rückzieher der Jury schlug hohe Wellen. Mit dem Europäischen Dramatiker:innenpreis sollte das Lebenswerk der britischen Dramatikerin Caryl Churchill im November ausgezeichnet werden. Das hatte das Staatstheater Stuttgart im April bekanntgegeben. Wochen vor der geplanten Verleihung entschied die Jury, den Preis nicht an die 84-Jährige zu vergeben. Der Grund: ihr Bekenntnis zur Bewegung „Boycott, Divestment and Sanctions“ – kurz: BDS –, die den Staat Israel wegen seiner Besatzungspolitik im Gaza-Streifen und Verbrechen gegen die Palästinenser isolieren will. Das sei den Juror:innen ebenso wenig bekannt gewesen wie ihr Stück „Seven Jewish Children“, das als „antisemitisch“ verstanden werden könnte. Haben die Fachjuror:innenen da nicht sauber recherchiert? Die Frage stellen sich viele. Reporter:innen der Internet-Plattform „Ruhrbarone“ haben den Fall aufgedeckt.
Die Aberkennung des Preises beschädigt die Autorin: Für ihr Lebenswerk sollte Caryl Churchill geehrt werden. Sie war seit den achtziger Jahren eine derLeitfiguren der feministischen Dramatik.. Ihr Stück „Top Girls“, das 1982 in London uraufgeführt wurde, gab Frauen eine Stimme. So hat sie das Selbstverständnis ihrer Generation geprägt. Sie ist eine der wichtigen Vertreterinnen des politischen Theaters in Großbritannien. Diese Bedeutung hob die Jury im Frühjahr hervor: „Mit ihren formal und inhaltlich anspruchsvollen Werk forderte Churchill Kritik und Publikum immer wieder heraus. Sie ist eine der größten lebenden Dramatikerinnen. Ihr Werk ist bekannt, aber nicht berühmt und wird nur noch selten gespielt. Zeit für eine Neubewertung und Neubetrachtung.“
Solche Neubetrachtung ist nun erschwert. Durch die Entscheidung, den Preis nicht zu vergeben, bleibt an der Dramatikerin der Vorwurf des Antisemitismus haften. Die Jury hat den drastischen Schritt auch damit begründet, dass „Seven Jewish Children“, ihr Kurzdrama von 2009, „antisemitisch wirken kann“ – die Begründung bleibt oberflächlich. Petra Olschowski, die als Staatssekretärin mit in der Jury saß und jetzt Baden-Württembergs Ministerin für Wissenschaft, Forschung und Kunst ist, ist, sagte: „Wir tragen in Deutschland eine besondere historische Verantwortung. Deshalb positionieren wir uns als Land klar gegen jede Form von Antisemitismus. Das ist für uns nicht verhandelbar. Umso mehr kann ein mit staatlichen Mitteln geförderter Preis unter den gegebenen Umständen nicht verliehen werden.“ Diesen Ballast des Nationalsozialismus trägt die britische Dramatikerin nicht. Ihre Kritik an Israel bezieht sich auf die aktuelle Politik. Rückenwind bekommt sie nun von zwei Stars der jungen israelischen Dramatik. Sivan Ben Yishai, die 2022 für ihr Stück „Wounds are Forever“ den Mülheimer Dramatiker:innenpreis gewann, und Noam Brusilovsky, ausgezeichnet mit dem Hörspielpreis der Kriegsblinden, plädieren unter dem Hashtag #StandingWithCarylChurchill für einen offenen Diskurs. „Urteilen Sie selbst“, schreiben die Autor:innen im Netz. Mit anderen Künstler:innen lesen sie aus dem knapp zehnminütigen Kurzdrama, das 2009 nach der militärischen Operation im Gaza-Streifen entstand. Es war nach dem Abendprogramm im Royal Court Theatre zu sehen, sorgte da schon für Kontroversen. Wie man mit Kindern über den Krieg spricht, beleuchtet Churchill in dem poetischen Text. „Damals kamen mehr als 300 Kinder durch Bombardements der israelischen Armee ums Leben“, schreiben Yishai und Brusilovsky. Die Autor:innen fühlen sich „einer achtsamen Lektüre“ verpflichtet: So rückte Churchill die seelischen Qualen der Jungen und Mädchen ins Blickfeld. Als Kind musste sie selbst mit ihren Eltern vor dem Zweiten Weltkrieg nach Kanada fliehen.
Der Nackenschlag für den jungen, mit 75 000 Euro hoch dotierten Preis schmerzt. Intendant Burkhard C. Kosminski hat ihn mit der Landesregierung Baden-Württembergs ins Leben gerufen, „um die europäische Theaterszene zu vernetzen und den Dialog mit Künstler:innen zu ermöglichen.“ Ihm geht es darum, das europäische Theater in seiner Vielfalt in den Blick zu nehmen. Gerade in Zeiten von Krieg und Krise ist das wichtiger denn je. Mit dem Europa-Ensemble, das der Regisseur Oliver Frljić in Stuttgart aufgebaut hat, und mit vielen europäischen Theatermacher:innen setzen Kosminski und sein Team in Stuttgart da Maßstäbe. Erster Preisträger war 2020 der libanesisch-kanadische Schriftsteller und Pariser Intendant Wajdi Mouawad. Der 54-Jährige schlägt Brücken zwischen europäischer und arabischer Kultur. Kosminski wünscht sich, den Diskurs über die Nähe von Künstler:innen zum BDS offen zu führen. Von dem Preisgeld, das nicht ausgezahlt wird, kann er sich im Frühjahr ein europäisches Forum in Stuttgart vorstellen, in dem es um diese Frage geht. Die Debatten um BDS-Künstler:innen bei der Documenta und bei der Ruhrtriennale haben gezeigt, wie nötig es ist, sich da zu positionieren. Den Diskurs totschweigen, darf nicht die Lösung sein. //
Elisabeth Maier
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Editorial | Seite 1 |
Den Diskurs nicht totschweigenDie Aberkennung des Europäischen Dramatiker:innenpreis darf weder Caryl Churchill noch die wichtige Auszeichnung beschädigenvon Elisabeth Maier | |
Thema | |
„Lulleli“-Projekt Tormod Carlsen und Norsk Landskapsteater | Seite 4 |
Landschaft und ErhabenheitReflexionen zum „Lulleli“-Theater in Norwegenvon Knut Ove Arntzen und Carlsen Tormod | Seite 8 |
Die WaldverwandlungAuszug aus „Gaia-Theater“von Thomas Oberender | Seite 12 |
Protagonisten | |
Die Wirklichkeit lässt uns nicht in RuheBarbara Mundel, Intendantin der Münchner Kammerspiele, im Gespräch mit Christoph Leiboldvon Barbara Mundel und Christoph Leibold | Seite 13 |
Jean-Luc Godard 1930–2022Kein Nachruf – Splitter für ein Nein/Abervon Mark Lammert | Seite 16 |
Neustart | |
Arschlochfreie ZoneDer Neustart unter kollektiver Leitung am Theater Magdeburgvon Lara Wenzel | Seite 21 |
Warnungen aus der ZukunftDer Neustart am Stadttheater Gießen unter der Intendanz von Simone Sterrvon Hans-Jürgen Linke | Seite 24 |
Aktuelle Inszenierung | |
Der Ring als ZimmertheaterAn der Staatsoper Unter den Linden legt Dmitri Tcherniakov Wagners Chef d‘OEuvre trockenvon Friedrich Dieckmann | Seite 27 |
Mit Dante driftenIn Belgrad verschränkt Frank Castorf die „Göttliche Komödie“ mit einer frühen Erzählung von Peter Handkevon Thomas Irmer | Seite 32 |
Look Out | |
Damian Popp und die Gleichwertigkeit der MenschenDer 34-jährige Folkwang-Absolvent inszeniert in Moers, Rostock, Gera und Lüneburgvon Stefan Keim | Seite 34 |
„Ich mach’ das so. Und das Problem hast du!“Schauspieler Fabian Hagen bewegt sich in Weimar jenseits von Rollenklischeesvon Michael Helbing | Seite 35 |
neues aus dem verlagsprogramm | Seite 36 |
Von einer, die auszog, sich neu zu erfindenAuszug aus „WAR SCHÖN. KANN WEG …“ RECHERCHEN 162, Dezember 2022von Helena Waldmann | |
Stück | Seite 38 |
Dem Theater etwas zumutenAriane Koch im Gespräch mit Nathalie Ecksteinvon Ariane Koch und Nathalie Eckstein | |
Stückabdruck | Seite 40 |
Die toten Freunde (Dinosauriermonologe)Ein Singspiel mit dem Nachwort einer Birkevon Ariane Koch | |
Auftritt | |
Bamberg: Glotzt nicht so betroffen!ETA Hoffmann Theater: „Zerstörte Straßen (Bad Roads)“ von Natalia Vorozhbyt. Regie Wojtek Klemm, Ausstattung Romy Rexheuservon Michael Helbing | Seite 49 |
Berlin: Überzeugend, charmantTheater Rambazamba: „Einer flog übers Kuckucksnest“ von Dale Wasserman nach Ken Kesey. Regie, Bühne und Kostüme Leander Haußmannvon Erik Zielke | Seite 50 |
Bremen: Stalin am TelefonTheater Bremen: „Leben und Schicksal“ nach dem Roman von Wassili Grossman. Bearbeitung und Regie Armin Petras, Bühne Peta Schickart, Kostüme Cinzia Fossativon Peter Helling | Seite 51 |
Chur: Leben in RutschgefahrTheater Chur: „Peiden“ von Rafael Sanchez und Roman Weishaupt. Regie Rafael Sanchez, Bühne Duri Bischoff, Kostüm Dominique Steinegger, Video Robin Nideckervon Bettina Kugler | Seite 52 |
Essen: Homer ist, wenn man trotzdem lachtGrillo Theater: „Lärm. Blindes Sehen. Blinde sehen!“ von Elfriede Jelinek. Regie Hermann Schmidt-Rahmer, Bühne Thilo Reuther, Kostüme Michael Sieberock-Serafimowitschvon Stefan Keim | Seite 53 |
Karlsruhe: Der verblichene Glanz des GeistesBadisches Staatstheater: „Anna Iwanowa“ nach Anton Tschechow. Deutsch von Thomas Brasch in einer Fassung von Anna Bergmann. Bühne Volker Hintermeier, Kostüme Lane Schäfervon Elisabeth Maier | Seite 54 |
Liechtenstein: Mit Bärfuss und DylanTheater am Kirchplatz: „Dantons Tod – Der Auftrag“ von Georg Büchner / Heiner Müller. Regie Oliver Vorwerk, Ausstattung Alexander Grünervon Bernd Doppler | Seite 55 |
Mühlheim an der Ruhr: Im großen FormatTheater an der Ruhr / Ringlok-Schuppen / Mühlheimer Theatertage: „Ein Mensch wie ihr“ nach „Fatzer“ von Bertolt Brecht. Regie Philipp Preuss und Christine Umpfenbach, Choreografie Rafaele Giovanolavon Sarah Heppekausen | Seite 56 |
Potsdam: Politisches TheaterTeatr Pokoleniy / Die Zimmerwädler / Raum 4von Thomas Irmer | Seite 58 |
Stuttgart: Sterben war gesternSchauspiel Stuttgart: „Der Triumph der Waldrebe in Europa“ von Clemens J. Setz (UA). Regie Nick Hartnagel, Bühne Yassu Yabara, Kostüme Tine Beckervon Otto Paul Burkhardt | Seite 59 |
Magazin | |
Ödipus mit UmfrageDer Showcase des georgischen Theaters am Rande vom Krieg in Tbilissivon Thomas Irmer | Seite 63 |
Vielstimmigkeit in Zeiten von Krieg und KriseDas Widerstandsfestival „Remmi Demmi“ in Heidelberg – Zehn Uraufführungen zwischen Happening und politischer Tiefenschärfevon Elisabeth Maier | Seite 65 |
Pioniere des Zeitgenössischen ZirkusDas ATOLL Festival in Karlsruhe als Motor der Szenevon Tom Mustroph | Seite 66 |
Im Duett der SprachenDie deutsch-italienische Compagnia Barletti / Waas mit bilingualen Peter-Handke-Inszenierungenvon Thomas Irmer | Seite 67 |
Schreiben statt RedenDas vielschichtige Filmporträt „Elfriede Jelinek – Die Sprache von der Leine lassen“ kommt der Autorin erstaunlich nahvon Claus Löser | Seite 68 |
Das war erst der AnfangDas Theater- und Städtenetzwerk „Kein Schlussstrich!“ will weitermachenvon Michael Helbing | Seite 69 |
Neue Orte, neue FormenDas Kosovo Theatre Showcase zeigt gewachsene Produktivität und Diversitätvon Tom Mustroph | Seite 70 |
„Schließlich habt ihr die Theaterlandschaft revolutioniert!“Die Flensburger Theaterwerkstatt Pilkentafel sucht nach Möglichkeiten, ihr „Vermögen zu vererben“von Henning Fülle | Seite 71 |
Meister der IgelNachruf auf Wolfgang Bordel, Deutschlands dienstältester Intendantvon Juliane Voigt | Seite 72 |
Der VerbindungsburscheZum Tod des Regisseurs und Schauspielers Carl-Hermann Rissevon Hans-Dieter Schütt | Seite 73 |
Kunst gegen alle WiderständeNele Hertling erzählt ihr Leben und Wirken innerhalb einer großen Dokumentation: Ins Offene. Nele Hertling – Neue Räume für die Kunst Hg. Johannes Odenthal. Spector Books Leipzigvon Thomas Irmer | Seite 74 |
Aktuell | |
Meldungen | Seite 76 |
Premieren und FestivalsDezember 2022 | Seite 78 |
Autorinnen und Autoren Dezember 2022 / Vorschau | Seite 79 |
Gespräch | Seite 80 |
Was macht das Theater, Yana Salakhova?von Tom Mustroph und Yana Salakhova |
Knut Ove Arntzen
Otto Paul Burkhardt
Friedrich Dieckmann
Bernd Doppler
Nathalie Eckstein
Henning Fülle
Michael Helbing
Peter Helling
Sarah Heppekausen
Thomas Irmer
Stefan Keim
Ariane Koch
Bettina Kugler
Mark Lammert
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Barbara Mundel
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