Protagonisten

Die Wirklichkeit lässt uns nicht in Ruhe

Barbara Mundel, Intendantin der Münchner Kammerspiele, im Gespräch mit Christoph Leibold

von und

1 Vincent Redetzki und Katharina Bach in „Nora“ in der Regie von Felicitas Brucker an den Münchner Kammerspielen. Foto Armin Smailovic
Vincent Redetzki und Katharina Bach in „Nora“ in der Regie von Felicitas Brucker an den Münchner Kammerspielen. Foto Armin Smailovic

Barbara Mundel, Sie sind im Herbst in Ihre dritte Münchner Saison gestartet. Aber wenn ich mir das Bild, das ich mir in den ersten beiden Jahren von den Kammerspielen gemacht habe, als Mosaik vorstelle, dann fehlen darin noch immer etliche Steine. Natürlich ist so ein Mosaik nie ganz fertig, aber Sie waren durch die Corona-Lockdowns und die Limitierung der Zuschauerzahlen in den vergangenen beiden Spielzeiten so eingeschränkt, dass mir die Lücken größer scheinen, als sie es nach zwei „normalen“ Spielzeiten wären. Wie gut angekommen fühlen Sie sich denn selbst in der Stadt mit dem, wofür Sie als Kammerspiele stehen wollen?

Diese Spielzeit ist tatsächlich die erste, die sich nach „Beginn“ angefühlt hat. Wir können vor vollem Haus spielen, haben Premierenfeiern, Publikumsgespräche, Einführungsveranstaltungen und spüren, dass sich die Zuschau­er:in­nen jetzt anders mit uns verbinden können. Und wir als Team natürlich auch. Zum ersten Mal werden inhaltliche Zusammenhänge sicht- und erfahrbar.

Zu den Mosaiksteinen, die für mich rund um die Lücken ein erfreuliches Bild erkennen lassen, gehören die Arbeiten, die Hausregisseur Jan-Christoph Gockel zusammen mit dem Puppenspieler Michael Pietsch entwickelt hat, etwa die Revue nach Alexander Kluge „Wer immer hofft, stirbt singend“. Oder die Inszenierungen von Felicitas Brucker. Etwa „Die Politiker“ von Wolfram Lotz. Da reißen einen drei großartige Spieler:innen fort in einem Text- und Gedankenstrom, dem man sich nur schwer entziehen kann. Was waren für Sie bislang Höhepunkte, von denen Sie sagen würden: Da sind wir den eigenen Ansprüchen besonders gut gerecht geworden?

Ich würde gern den Anfang unserer ersten Spielzeit dem Vergessen entreißen. Los ging es damals mit „Touch“ von Regisseur Falk Richter und Choreografin Anouk van Dijk, einem Stück über die (Un-)Möglichkeit von Nähe in Zeiten der Pandemie, mit „Habitat“ von Doris Uhlich sowie dem Ernst-Toller-Abend „Eine Jugend in Deutschland“ von Jan-Christoph Gockel. Und pandemiebedingt die tolle, sehr unterschätzte Arbeit von Pınar Karabulut „Der Sprung vom Elfenbeinturm“ nach Gisela Elsner. Da zeigten sich viele Ansätze, die uns wichtig sind. Da ist beispielsweise die Suche nach einer starken Verbindung zwischen Text und Körper, die Suche nach einem starken körper­lichen Ausdruck. Und auch die Suche nach einer starken Verbindung zwischen Poesie, Geschichten und Geschichte. Das setzt sich in dieser Spielzeit fort, zum Beispiel in dem Themenschwerpunkt „Erinnerung als Arbeit an der Gegenwart“. Eine andere Heran­gehensweise kann man zum Beispiel bei Ibsens „Nora“ erfahren …

… einem Stück, das gern als Emanzipationsdrama der Titelheldin gelesen wird, aber geschrieben ist von einem Mann.

Wir haben mit „ergänzenden“ Texten zeitgenössischer Autorinnen einen neuen Blick auf den alten Text geworfen, etwas tiefer geschürft, wo die Wurzeln des Patriarchats lagen und liegen.

Barbara Mundel. Foto Florian Peljak
Barbara Mundel. Foto Florian Peljak

Ihr Vertrag wurde im Sommer vorzeitig bis 2027/28 verlängert, am Ende Ihres zweiten Münchner Jahres bereits. Meist geschieht das erst nach drei Jahren Intendanz. Das könnte Ausdruck großer Wertschätzung Ihrer Arbeit seitens der Stadt sein. Oder aber es drückt sich lediglich eine Art Corona-Bonus darin aus, sprich zusätzliche Zeit, die man Ihnen zugestanden hat, als Kompensation für die Zeit, die Ihnen verloren gegangen ist.

Verloren? Ich würde eher von schmerzhaften Erfahrungen sprechen. Ich gebe mir selbst keinen Corona-Bonus. Aber es stimmt schon: Ich hätte es total seltsam gefunden, dieses Haus für nur fünf Jahre zu gestalten. Der Start war schwierig, um gemeinsam mit dem Publikum herauszufinden, wo wir stehen – dafür hatten wir in der Tat zu wenig Kontakt. Wir konnten viele Pläne und Ideen noch gar nicht umsetzen. Ich habe mir wirklich lange überlegt, ob es gut und richtig ist, meinen Vertrag zu verlängern. Den Ausschlag für meine Entscheidung, hier in München zu verlängern, gab letztendlich der Glaube an Menschen, die hier zusammenkommen, das Team und unsere gemeinsamen Ideen.

Sie haben als Losung für Ihre Intendanz ausgegeben: „Die Wirklichkeit nicht in Ruhe lassen“. Nun ist es aber umgekehrt so, dass die Wirklichkeit Sie nicht in Ruhe lässt. Die Pandemie ist noch nicht vorbei, da kommen Energiekrise und Inflation oben drauf. Alles wird teurer, gleichzeitig nehmen Sie weniger ein, weil das Publikum geschrumpft ist. Es gab schon Zeiten, in denen es leichter war, Theater zu machen. Andererseits ist diese Zeit – ohne ­zynisch klingen zu wollen – auch dankbar für das Theater. Drängende Themen jedenfalls gäbe es genug.

Es gab auch vorher schon genug Themen. Wir haben nicht erst seit Februar Krieg in Europa. Da bin ich wieder bei der Verbindung von Geschichte und Gegenwart, die wir leider in einer Art Geschichtsvergessenheit und Ignoranz oft ausblenden. Denken Sie an die Kriege im ehemaligen Jugoslawien und in Syrien. Und auch der Krieg in der Ukraine hat schon 2014 begonnen. Nur scheint es, dass all diese Dinge – Krieg, Klimawandel, digitale Diktatur und Erstarken des Nationalismus – jetzt erst so richtig in unser Bewusstsein drängen. Warum eigentlich? Bequemlichkeit, Eurozentrismus, ­Materialismus? Es wird spannend, welche Antwort wir als Gesellschaft in Bezug auf Kunst und Kultur geben. Sagen wir: Genau deshalb brauchen wir die Kunst und müssen Kulturinstitutionen stärken! Oder passiert das Gegenteil und es setzt sich die Haltung durch, dass es nett war, solange wir es uns leisten konnten – und jetzt kann die Kunst weg. Wie sich die öffentliche Debatte dazu entwickelt, ist nicht ausgemacht. Wir sollten sie aber engagiert und im Bewusstsein, dass etwas auf dem Spiel steht, führen.

Ihre Auslastung lag zuletzt bei 58 Prozent. Das liegt sicher nicht am Programm allein, sondern – wir haben’s ja schon angesprochen – an der Pandemie. Es mehren sich aber Stimmen, die sagen, Theater wie die Münchner Kammerspiele würden sich zu sehr darauf konzentrieren, ein recht schmales, wokes, in sämtlichen intellektuellen Diskursen gestähltes Zuschauersegment zu bespielen, dabei aber das Gros des Publikums aus den Augen verlieren – was sich nun deutlicher zeige denn je. Kurzum: Die Theater müssten wieder breitenwirksamer werden. Zum Beispiel, indem sie mehr auf Klassiker setzten, sozusagen als vertrauensbildende Maßnahme. Wie stehen Sie dazu?

Ich finde, das ist eine verrückte, manchmal sogar reaktionäre Diskussion. Die Herausforderungen unserer Gegenwart sind doch so groß, dass wir doch eher sagen müssten: Wir brauchen neue Fantasien, neue Angänge! Wir brauchen doch nicht die alten ­Rezepte. Wir brauchen ein mutiges Theater, das uns aus der ­Komfortzone lockt und verhindert, dass wir uns mit unseren Ängsten daheim einigeln und auf dem Sofa Netflix gucken. Wir brauchen Räume des gemeinsamen Erlebens. So zu tun, als ob es da altbewährte Antworten auf neue Herausforderungen gäbe – das greift zu kurz! Genauso ist es eine verkürzende Polemik, zu behaupten, es handle sich um Theater für eine kleine Klientel, weil wir uns mit Genderfragen oder mit der Debatte um Postkolonialismus beschäf­ti­gen. Das geht jeden was an! Und ich verstehe die Häme nicht, mit der in manchen Feuilletons jetzt behauptet wird, dass dem Theater in der aktuellen Krisenlage eine publikumsfeindliche Spiel­plan­politik auf die Füße falle.

Sie sind die erste Frau an der Spitze der Münchner Kammerspiele. Würden Sie sagen, dass Sie dem Haus ein feministisches Profil gegeben haben?

Sagen wir mal so: Uns treibt die Suche danach um, was das sein könnte. Ich würde es aber noch weiter fassen. Es geht uns generell darum, Stimmen hörbar zu machen, die nicht immer hörbar ­waren. Nehmen wir als Beispiel noch mal „Nora“. Da suchen wir natürlich die zeit­genössische feministische Perspektive, daneben aber hat unter anderem Ivna Žic – eine der drei Dramatikerinnen, um deren ­Texte wir das Stück erweitert haben – auch den Kindern von Nora und Torvald Helmer eine Stimme gegeben, die bei Ibsen stumm bleiben.

Sie sind angetreten mit dem Anspruch, auch im Haus alle Stimmen zu hören und die Hierarchien flach zu halten. Wie zufrieden sind Sie diesbezüglich mit sich?

Es war wegen Corona nicht nur schwer, in der Stadt anzukommen, sondern auch für das Haus schwierig. Nur ein kleines Beispiel: Für unseren ersten Open Space im Sommer 2021 mit allen Mit­ar­bei­tenden des Hauses mussten wir den Circus-Krone-Bau anmieten, damit wir alle ausreichend Abstand halten konnten. Verrückt, nicht wahr? Gegenseitiges Vertrauen benötigt Zeit, um wachsen zu können, und das geht nicht im Homeoffice und im Zoom.

Ich habe Sie mit ein paar Themen konfrontiert, die von außen ans Theater herangetragen werden. Aber wie ist denn Ihre ­Innensicht? Treiben Sie womöglich noch ganz andere Fragen um?

In der Tat gibt es da viele: Wie geht Ensemblearbeit heute? Wie geht internationales Arbeiten? Aber auch: Der Einschnitt der Pandemie hat eine Krise von Kunst und Politik sichtbar werden lassen. Darüber müssen wir nachdenken. Außerdem: Der große Personalmangel in vielen Bereichen. Welche Strategien entwickeln wir? Und immer wieder: Wie werden wir ein Ort für die gesamte Gesellschaft? Und: Ich höre manchmal, dass wir zu kompliziert und abgehoben seien. Ich versuche, das ernst zu nehmen und zu überprüfen.

Es ist sicher nicht leicht, mit Blick auf die aktuelle Lage halbwegs guten Mutes zu bleiben. Woraus schöpfen Sie Kraft?

Trotz aller Schwierigkeiten finde ich, dass wir uns gerade richtig aufrappeln und spannende Projekte entwickelt haben. Nicht nur „Nora / Die Freiheit einer Frau“, sondern auch „Hungry Ghosts“ und „Les statues rêvent aussi. Vision einer Rückkehr“ und wei­teres kraftvolles, sinnliches und kluges Theater. Die Münchner Kammerspiele sind ein tolles Haus mit tollen Menschen in allen Abteilungen. Daraus lässt sich enorm Kraft schöpfen und es lassen sich große künstlerische Risiken und Abenteuer eingehen, zu denen wir die Zuschauer:innen einladen möchten. //

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