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Aktivismus mit Aussichten

Am Teatr Współczesny in Szczecin sorgt eine neue Truppe für Aufsehen in Polen

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„Edukacja Seksualna“ am Teatr Współczesny in Szczecin. Foto Piotr Nykowski
„Edukacja Seksualna“ am Teatr Współczesny in Szczecin. Foto Piotr Nykowski

„Edukacja Seksualna“ heißt das Stück von Michał Buszewicz, das in Polen ein per Gesetz neuerdings verbotenes Schulfach adressiert. Denn die Sexualerziehung wurde von der natio­nalkonservativen PiS-Regierung an Schulen abgeschafft, fast im gleichen Atemzug, in dem sie das Abtreibungsrecht praktisch bis auf ganz wenige Ausnahmen aufhob. Eine offenbar panische Angst vor der Darstellung von Sexualbeziehungen in differenzierteren Geschlechterverhältnissen trieb die in diesem Punkt antiliberale Kaczynski-Partei in die weitere Spaltung der Gesellschaft, mit der katholischen Kirche im Hintergrund und dazu traditionsfremden Ideen überhaupt.

Die Inszenierung in der Regie des ­Autors ist eine lockere Szenenfolge ohne jeglich explizite Darstellungen, als Revue des „Entschämens“ dieses Themas. Das Besondere ist vielleicht gar nicht so sehr die päda­gogische Aufklärung von Jugendlichen, sondern dass Sex auch für Erwachsene ein schwieriges soziales Problem bleiben kann, jenseits von Beziehungshändel und Pornoeinsamkeit. Fast immer zeigt es Dialoge mit Ende unbekannt – oder eben zum Weiterführen auffordernd. Angeboten wird das Stück für Schüler:innen ab 15 und ist vom Bürgermeister von Szczecin eigens abgesegnet. Der gehört der PO (Bürgerplattform) an und unterläuft damit die Volkserziehung der Regierenden in Warschau. Es ist der in Polens Kultur nicht untypische Konflikt zwischen der Landesregierung und den in vielen großen Städten auch für die Kultur verantwortlichen liberalen Stadtoberen, die ihre Theater nicht unbedingt an der Kaczynski-Linie ausgerichtet sehen möchten. „Edukacja Seksualna“ hat nun für besonders viel Wirbel gesorgt, denn es betrifft ein Gesetz, das vom Theater mit großem Zuspruch des Publikums hinterfragt wird. Szczecin an der Oder, keine zwei Stunden von Berlin, versteht sich zudem als ‚Stadt der Freiheit‘ nicht nur als Eigenwerbung, sondern tatsächlich auch im Selbstverständnis.

Besonders ist auch, wie es zu der neuen Intendanz am Teatr Współczesny (Theater der Zeitgenossen) kam. Anna Augustynowicz, als renommierte Regisseurin eine Erneuerin der Repertoires in Polen und stets offen für neue künstlerische Positionen, leitete das Theater über dreißig Jahre lang und bekam zum Abschied das wohl einzigartige Privileg, ihre Nachfolge selbst zu bestimmen. Sie entschied sich für Jakub Skrzywanek als künstlerischen Direktor, wie die Position des Intendanten in Polen offiziell heißt. Skrzywanek (Jahrgang 1992) gehört zu den aktivistischen Theaterkünstlern, deren Berufsstart schon in die konservative Wende des Landes fiel, und hat mit dem dokumentarischen Stück „Tod von Johannes Paul II.“ am Teatr Polski in Poznań über den körperlichen Verfall des Heiligen Papstes heftige Kontroversen ausgelöst, die er als junger Theatermacher im heutigen Polen weiterhin nicht scheut und nun zum Motor für mehr Potenzial machen will. „Edukacja Seksualna“, obwohl weder von ihm geschrieben noch inszeniert, aber von ihm beauftragt und in der Öffentlichkeit wirkmächtig betreut, ist praktisch sein Antritt in Szczecin – mit großem Echo vor Ort und ins ganze Land hinein. Er würde damit an die polnische Theaterrevolution der Jahre um 2000 anknüpfen, als Grzegorz Jarzyna, Maja Kleczewska, Jan Klata, Krzystof Warlikowkski u. a. als Regisseur:innen das polnische Theater mit Ausstrahlung in die ganze Welt erneuerten und mit bahnbrechenden Inszenierungen zu internationalen Regiestars wurden, die dem Theater mit großer Kunst gesellschaftliche Relevanz von höchsten Graden verliehen. Genau das könnte nun wieder in Szczecin ein Ausgangspunkt sein, mit aktivistischem ­Theater, das gerade im Mai mit „Spartakus“, einem Stück gegen Homophobie, Premiere hatte, vor allem aber als soziales Experiment für neue ästhetische Wege des Theaters in dieser Zeit. //

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