Spanien

Das große Welttheater

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Das Plakat der Produktion „El Golem“ von Juan Mayorga in der Regie von Alfredo Sanzol. Foto Centro Dramático Nacional Madrid
Das Plakat der Produktion „El Golem“ von Juan Mayorga in der Regie von Alfredo Sanzol. Foto Centro Dramático Nacional Madrid

Anfang März fährt Stefanie Gerhold für die Übersetzung des Stücks Himmelweg nach Madrid, um den Autor Juan Mayorga zu treffen. Außerdem zieht es sie ins Theater. Nach langem Stillstand sind die Madrider Bühnen neu erwacht.

Für Juan Mayorga läuft es gut. Vor kurzem hat er den Prinzessin-von-Asturien-Preis erhalten, seit 2019 gehört er der Real Academia Española an, und von diesem Jahr an leitet er das Teatro de la Abadía, das kleine Juwel unter den Madrider Bühnen. Vor allem aber werden seine Stücke viel gespielt – in Spanien. In Deutschland begegnen die Theater seine Stücke noch zögerlich, obwohl diesen Dramatiker, der eine Weile in Münster studiert hat, auch deutsche Themen beschäftigen. 

Himmelweg handelt von einem KZ, das die Nazis als normale Stadt präpariert haben. Es geht um die Theaterhaftigkeit dieses Vorzeigelagers, mit dem der NS-Staat die internationale Öffentlichkeit beschwichtigen wollte. Himmelweg geht so unbefangen mit dem Thema um, wie ein deutsches Stück das nicht könnte. Einige Stellen befriedigen mich in meiner deutschen Fassung noch nicht, ich trage sie während meiner Tage in Madrid mit mir herum.

Im Teatro María Guerrero, einer Spielstätte des Centro Dramático National, ist die Truppe La Calórica zu Gast. Sie führen Las aves (Die Vögel) auf, frei nach Aristophanes. „Populismus oder Freiheit“ steht als Slogan auf dem Plakat, aber von postdramatischen Deklamationen keine Spur! In bunten Federkleidern, Strumpfhosen und Pumps fegen die Darsteller über die Bühne. Natürlich, wir sind in Spanien, da lässt man sich den Doppelsinn von pájaro nicht entgehen, was „Vogel“ heißt, und auch „Tunte“. Doch bei aller Lust am Herumalbern, das Stück ist kein Klamauk. Mit minimalen Mitteln verleihen die Darsteller ihm einen doppelten Boden. Sie öffnen in der bunten Oberfläche kleine Risse, wie nebenbei, dass man es kaum merkt. Es ist, als würden für einen Augenblick aus den Rollen die Menschen herausschauen und mit ihnen der Ernst der aufgeworfenen Fragen.

Mit seiner hell angestrahlten Fassade ähnelt das Teatro María Guerrero dem Deutschen Theater in Berlin. Würde dieses Aristophanes-Pastiche in Berlin ankommen, fände es in Deutschland ein annähernd begeistertes Publikum? Der Kapitalismus im schwarzen Hoodie, der vom Wohlstand für alle labert, und die Alte im Rollstuhl, die als Allegorie der Demokratie den Stadtgründer nötigt, ihr die Möse zu lecken – das würde man bei uns auf einem Kölner Karnevalswagen erwarten, aber auf einer Theaterbühne?

Das große Welttheater

An der Plaza Santa Ana, im mittelalterlichen Kern von Madrid, liegt das Teatro Español. Das Haus wurde im Jahr 1583 gegründet und ist die älteste durchgehend bespielte Bühne der Welt. Hier wurden die Stücke von Calderón de la Barca und von Lope de Vega uraufgeführt. Mit ihnen beginnt das goldene Zeitalter, das siglo de oro, in dem Tirso de Molina den Don Juan erfindet und Lope de Vega die Mantel-und-Degen-Komödie. Calderón entwickelt aus dem barocken Konzept des teatrum mundi immer kompliziertere Handlungen, welche die Kategorien von Realität und Fiktion aushebeln. In Stücken wie La vida es sueño (Das Leben ein Traum) findet das spanische Theater seine Antwort auf die Spannung zwischen Individuum und Repräsentation, zwischen Subjekt und Rolle in einer Gesellschaft, die durch und durch geregelt ist von christlicher Ideologie und Habsburger Hofzeremoniell.

Wirklichkeit und Fiktion, Wahrheit und Verstellung, aus diesen Paarungen schöpft das spanische Theater bis heute. Ein auch in Deutschland bekanntes Beispiel ist die Thriller-Komödie El método Grönholm(Die Grönholm-Methode) von Jordi Galceran. Hier finden eine Frau und drei Männer in der letzten Bewerbungsrunde um einen Managerposten zusammen. Schnell kommt heraus, dass mindestens einer der Vier kein Bewerber, sondern eine Art teilnehmender Beobachter aus der Personalabteilung ist. Wer ist wer, wer gehört zur Firma und spielt nur den Bewerber und wer bewirbt sich hier wirklich?

Ein weiteres Beispiel ist El chico de la última fila (Der Junge in der Tür) von Juan Mayorga. Ein Schüler dringt unter dem Vorwand, einem Mitschüler Nachhilfe geben zu wollen, in eine Familie ein, um über sie zu schreiben, und das ganze Stück über bleibt es offen, ob die Szenen jeweils das Geschriebene oder das Erlebte darstellen. Der Mensch, der seine Rolle spielt, die Erfahrung der Welt als Schein, dieses barocke Modell der Weltaneignung ist theaterhaft per se und der spanischen Dramenkunst eingeschrieben.

In Deutschland hat das Theater eine ganz andere Geschichte. Seine große Zeit beginnt zweihundert Jahre später in der Aufklärung. Lessing und Schiller entwickeln das bürgerliche Trauerspiel und die Idee vom Theater als Ort der moralischen Erziehung. Damit findet das Theater seinen Platz in der deutschen Gesellschaft, der sich seither nicht wesentlich geändert hat. Vereinfacht gesagt, das deutsche Publikum erwartet vom Theater Erbauung – das spanische erwartet Spiel.

Verstellung und Repräsentation, auf diese beiden Themen läuft auch Himmelweg hinaus, in dem ein Delegierter des Internationalen Roten Kreuzes das KZ besucht und die Insassen ihm vorspielen, dass dies eine normale Stadt sei. Auf der Bühne sieht man, wie die Insassen die Szenen für den Besucher proben. Die Geschichte mag deutsch sein, die Art der Aneignung ist durch und durch spanisch.

Wörter und Körper 

Juan Mayorgas jüngstes Stück El Golem (Der Golem) spielt in einem Krankenhaus. Der Golem aus dem Mythos ist eine Figur aus Lehm. Durch die Wörter, die ihr eingehaucht werden, beginnt sie zu leben. Juan Mayorga macht in seinem philosophischen Stück gewissermaßen die Gegenprobe. Was geschieht mit dem Individuum, wenn man ihm seine Sprache nimmt und ihm eine andere gibt?

Analog ließe sich fragen, was mit dem Theater geschieht, wenn man ihm seine Sprache nimmt und ihm eine andere gibt. Vom Teatro Español sind es wenige Meter bis zum Teatro de la Comedia. Hier ist die Compañía Nacional de Teatro Clásico zu Hause, auf dem Spielplan steht Lope de Vegas Lo fingido verdadero. In dem Stück mit seinem schillernden Titel, der sowohl „Das wahrhaftige Fingierte“ als auch „Das fingierte Wahrhaftige“ heißen kann, setzt Lope de Vega seine zeitgleich verfasste Dramenpoetik Arte nuevo de hacer comedias (Die neue Kunst, Theaterstücke zu schreiben) szenisch um.

Die im alten Rom angesiedelte Geschichte handelt von dem Dichter Ginés, der vor Kaiser Diocletian eigene Dramen aufführen lässt. In diesen Stücken im Stück verwebt Lope die Ebenen von Realität und Fiktion so kunstvoll, dass der Dichter Ginés am Ende seinem eigenen Vexierspiel erliegt. Das ist virtuos, denn diese vollkommen unerwartete Wendung stellt die komplette Aussage des Stücks am Ende auf den Kopf.

Lope de Vega führt in Lo fingido verdadero das gesamte Register seiner dramatischen Kunst vor. Neben seinem freien Jonglieren mit Ort und Zeit zeigt sich das besonders in seiner Sprache. Sie ist gebunden, aber niemals starr. Das wirklich Frappierende aber ist ihre Plastizität. Es ist, als würde Lope de Vega die Wörter wie etwas behandeln, das man anfassen und von allen Seiten anschauen kann. Er kann sie auch öffnen, als wären sie kleine Schachteln, und ihre gedanklichen Konzepte herausholen. In Lo fingido verdadero geht es ums Schauspielern, und wenn einer der Darsteller des Stücks im Stück verkündet, er brauche kein „papel“, dann entfaltet sich sogleich der Doppelsinn, denn „papel“ bedeutet auf Spanisch sowohl „Papier“ als auch „Theaterrolle“.

Und dann fällt ein Satz, der mich vollkommen unvermutet zu der dramatischen Sprache von Juan Mayorga katapultiert. „Las palabras son las manos del alma“ („Die Wörter sind die Hände der Seele“), sagt Ginés, und in mir erklingt sofort eine dieser Stellen aus Himmelweg, die mich auf Deutsch umtreiben. Als der Delegierte des Internationalen Roten Kreuzes im KZ ankommt, macht er sich bewusst, welche Verantwortung er auf sich lädt, und sagt: „Soy los ojos del mundo.“ („Ich bin die Augen der Welt.“) Das ist eine Körpermetapher ganz ähnlicher Art, wie Lope de Vega sie einsetzt.

„Ich bin die Augen der Welt.“ Auf Deutsch klingt das merkwürdig, fast schon falsch. Das Deutsche, dessen Sprachkonventionen von der Klassik geformt wurden, verfügt über diese Bildersprache nicht. Es muss hier zunächst einmal passen.

 Dem Anderen begegnen

Jeder beobachtet, wie die Welt immer kleiner wird und die Unterschiede verschwinden. Aber so evident das ist, es handelt sich um ein oberflächliches Phänomen. Hinter den glatten Instagram-Bildern liegen wie eh und je unterschiedliche Kulturen.

In Spanien begrüßt man sich mit „¿Qué tal?“, in Deutschland mit „Wie geht’s?“. Beide Sätze sagen das gleiche. Aber in Spanien ist es, als bestünde die Idee vom Welttheater fort; wenn man sich bei jemandem erkundigt, wie es ihm geht, fragt die Formel eher, ob man nach außen seine Rolle hinkriegt. Umgekehrt will das deutsche „Wie geht es dir?“ in einen hineinblicken, als ginge es darum, ob man mit seiner Rolle als solcher einverstanden ist.

Diese Unterschiede sind kostbar. Über die Erfahrung des Anderen erfahren wir, wer wir selbst sind, und auch, wer wir sein könnten. Die Theater könnten das als Chance begreifen und dem deutschen Publikum mehr Stücke aus anderen Ländern zeigen.

Und dann treffe ich an einem Freitag Juan Mayorga. Beim Mittagessen erzähle ich ihm, dass mir bei Lo fingido verdadero klar geworden sei, warum ich mir mit „Soy los ojos del mundo“ so schwer tue, und da lacht er. Wahrscheinlich hat er von seiner deutschen Übersetzerin nicht erwartet, dass sie mit Lope de Vega ankommt. Schließlich will er von mir wissen, wie ich das gelöst habe. „Was ich sehe, sieht die Welt“, sage ich und erläutere, dass es mir darauf ankam, den knappen Dreischritt aus „Ich – Auge/sehen – Welt“ zu erhalten. Er sieht mich an, er schweigt, dann zieht er ein Notizbüchlein hervor. Meine Version gefalle ihm, sagt er. Der Autor notiert einen Satz seines eigenen Stücks in den Worten seiner Übersetzerin. In welcher Sprache steht mein Satz, der sein Satz war, jetzt in seinem Heft? Ich bin verwirrt, für einen Moment scheinen sich unsere Rollen verkehrt zu haben. Das ist so verrückt, das könnte eine Szene von Lope de Vega sein.

Der Text wurde in längerer Form auf Babelwerk.de veröffentlicht.

In der Anthologie „Schattenschwimmer. Neue Theatertexte aus Spanien“, herausgegeben von Franziska Muche und Carola Heinrich in der Reihe „Drama Panorama – Neue internationale Theatertexte, Bd. 7“ erscheint Juan Mayorgas Stück „Himmelweg“ im Neofelis Verlag. Buchvorstellung im Rahmen der Buchmesse Frankfurt am 19.10.2022 im Mousonturm und am 30.10. im Theater unterm Dach in Berlin.

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