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Thüringer Zuschauerwanderungen

Erkundungen und Erkundigungen aus gegebenem Anlass in Weimar, Meiningen, Rudolstadt und Gera-Altenburg

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Fabian Hagen, Krunoslav Sebrek, und Marcus Horn in „Meister und Margarita“ am Deutschen Nationaltheater Weimar in der Regie von Luise Voigt. Foto Candy Welz
Fabian Hagen, Krunoslav Sebrek, und Marcus Horn in „Meister und Margarita“ am Deutschen Nationaltheater Weimar in der Regie von Luise Voigt. Foto Candy Welz

Alle reden vom Zuschauerschwund im Theater. Ja, den gibt‘s auf jeden Fall, sagen sie an den ostthüringischen Bühnen Gera-Altenburg. Nein, können wir nicht bestätigen, heißt es im südthüringischen Meiningen. Und dazwischen, auf halber Autobahnstrecke, geht ein Intendant jetzt wandern: Hasko Weber hat in Weimar mit dem Besucherservice gewettet, dass er auf dem Theaterfest zum Spielzeitauftakt mindestens fünf Zuschauer findet, die so gerne mit ihm den Thüringer Wald durchstreifen würden, dass sie ein Abonnement abschließen. Weil aber auch solche darauf Lust hatten, die bereits Abonnementen sind, sollte die „Wandergruppe Weber“ nun Ende Oktober an gleich zwei Tagen um den Inselsberg ziehen, mit jeweils zehn Beteiligten.

Das ist keine Massenbewegung, aber eine Reaktion auf diverse Zuschauerwanderungen an deutschen Theatern. Es beglaubigt, was Hasko Weber auf dem Theaterfest ins Publikum rief: „Wir tun alles dafür, dass Sie gerne kommen!“ Zwei Wochen später beglückte er mit dem Ensemble das Jubiläum eines Fitnessstudios: Die „Rambazambabar“ spielte auf, ein Kult gewordenes Liederabendformat des Hauses. Weber will mit dem Theater in der Stadt sichtbar bleiben oder, je nachdem, werden. Andernorts spräche man von Kundenbindung.

„Ja“, bestätigt er fürs Deutsche Nationaltheater, „wir haben über die zwei Coronajahre hinweg Abonnenten verloren, auch altersbedingt.“ Das klassische Festplatzabo sei seit Jahren rückläufig. Bei flexiblen Wahlabos hingegen, einer Art Gutscheinsystem, stiegen die Verkäufe. Von Katastrophe weiß der Intendant nichts zu berichten. Zumal sie während der Pandemie in Weimar das Gleiche taten wie fast alle Bühnen Thüringens: Sie hielten Abonnenten auf dem Laufenden und somit bei der Stange.

„Wir haben sie engmaschig betreut“, berichtet Intendant Kay Kuntze aus Gera und Altenburg. „Das war eine Mordsarbeit für den Besucherservice.“ Im Ergebnis gab es praktisch keinen Schwund von Abonnenten. „Wenn wir die verlieren würden, wäre das aber auch dramatisch.“ Ins gleiche Horn stößt Jens Neundorff von Enzberg, der fürs Meininger Staatstheater sogar einen leichten Anstieg meldet: „Abonnenten sind nun mal die Rückversicherung eines jeden Hauses.“

Damit hören die Thüringer Gemeinsamkeiten dann aber auch auf. Neundorff hat seine erste Meininger Spielzeit allen Coronabeschränkungen zum Trotz mit 75-prozentiger Gesamtauslastung abgeschlossen. „Das spricht für die Außergewöhnlichkeit dieses Theaters.“ Es ist das unangefochtene Zentrum einer Kleinstadt, in der sonst nicht mehr viel los ist. Besucher strömen auch aus Franken.

Im Nationaltheater der kulturtouristischen Hochburg Weimar steigt derweil der Freiverkauf an, die Schlangen an der Abendkasse sind deutlich länger als vor Corona. „Das können auch mal hundertfünfzig bis zweihundert Leute sein“, so Weber. „Die Leute planen jetzt kurzfristiger.“

Diesen Trend sieht auch Kay Kuntze, von ähnlichen Ergebnissen aber kann er nur träumen: Der Freiverkauf sei extrem schwach, der Vorverkauf komplett eingebrochen. Kein Gedanke gerade an jenen für Planungssicherheit sorgenden Schwung, den man früher verzeichnete, wenn im Mai die nächste Spielzeit öffentlich wurde. „Jetzt haben wir keine Ahnung, wie im nächsten Monat oder auch schon in der nächsten Woche die Vorstellungen verkauft sein werden.“

Kuntzes einst fusioniertes Fünf-Sparten-Haus ist fast ausschließlich in der kulturellen Grundversorgung der eigenen Region beheimatet. Steffen Menschings kleines Theater Rudolstadt-Saalfeld mit Schauspiel und Orchester ebenso. „Wir spüren leider eine deutliche Zurückhaltung im Publikumsstrom“, erklärte der Intendant jüngst in der Lokalzeitung. „Wir haben ein treues Stammpublikum, das unsere Angebote begeistert aufnimmt und uns zurückspiegelt, wie wichtig ihnen das Theater ist. Was fehlt, ist die andere Hälfte der Zuschauer, die, die derzeit wegbleiben.“

Darauf angesprochen, relativiert er: Das habe er vielleicht etwas dramatischer formuliert, als es sich am Ende darstellen wird. Aber es gibt Anzeichen. Mensching selbst wird hier seit dreizehn Jahren regelmäßig zum Quizmaster Robert Lembke aus dem alten Westfernsehen; die inzwischen über achtzig Rateshows „MMM – Was bin ich?“ waren „immer Bückware“. Für Oktober gab es erstmals noch freie Plätze. Und im hochkarätigen Sinfoniekonzert saßen zweihundert statt der üblichen dreihundertfünfzig Gäste.

Allerdings steht man noch am Anfang der Saison. Und alles ist so ungewiss wie selten. „Wenn es ein komplizierter Winter wird und die allgemeine Katastrophe da draußen noch akuter, dann müssen wir alle überlegen, wie es weitergeht und ob überhaupt noch Leute kommen“, so Mensching. „Wenn sich aber wieder alles normalisiert, dann bin ich optimistisch, dass wir sie wieder in die Häuser kriegen.“ Mensching würde deshalb wohl unterschreiben, was Hasko Weber formuliert: „Wir brauchen bis Jahresende, um Tendenzen wirklich beschreibbar zu kriegen.“

Kay Kuntze hat sich lange Zeit auch keine allzu großen Sorgen gemacht. Inzwischen macht er sich welche. Unter Pandemiebeschränkungen war eine vierzig- bis fünfzigprozentige Auslastung möglich, man hat sie stets erreicht. Seit sie wegfielen, stieg die Auslastung aber kein Stück – auch deshalb, weil ausgerechnet dann die Infektionszahlen im Haus durch die Decke gingen. Man konnte nur wenig spielen, musste den Spielplan ständig ändern und zehn Tage lang wieder komplett schließen. Während Weimar oder Meiningen stets spielbereit blieben, fehlte es hier an Verlässlichkeit.

Infektionsängste im Publikum hingegen sind gerade eher zu vernachlässigen, zumal – darin sind sich Kuntze und Mensching einig – im Ostthüringischen, wo die Coronamaßnahmen ohnehin sehr kritisch gesehen werden. Beide Intendanten haben derweil mit zusätzlichen Problemen zu kämpfen. Das Altenburger Landestheater ist seit drei Jahren zwecks Sanierung geschlossen, das Rudolstädter seit fünf. Hier spielen sie im großen Theaterzelt, dort im Stadthaus. Die Wiedereröffnungstermine wurden mehrmals verschoben, in beiden Fällen ist derzeit von 2024 die Rede.

Davon abgesehen diagnostiziert Kuntze im Lockdown veränderte Lebensroutinen mit Rückzug ins Private sowie äußerste Zurückhaltung angesichts allgemein explodierender Kosten. Weber erlebt eine „starke gesellschaftliche Verunsicherung im sozialen Sinne“. Mensching aber wird grundsätzlicher. Er zitiert zustimmend den Ostbeauftragten der Bundesregierung, Carsten Schneider aus dem Wahlkreis Erfurt – Weimar – Weimarer Land II: „Wir sind eine erschöpfte Gesellschaft“, erklärte dieser jüngst vor der Bundespressekonferenz.

Mensching kann „eine gewisse Lähmung“ sogar nachvollziehen. „Macht sowieso keinen Sinn, alles geht den Bach runter“, so übersetzt er die Krisenstimmung. „Dieses Gefühl hindert daran, aktiv zu werden, um mit anderen in kulturellen Austausch zu treten.“ Darum aber geht es ihm: um Gelegenheiten zur Begegnung. Das ist ihm „fast wichtiger als das, was dann auf der Bühne passiert.“ Er setzt jetzt nicht von ungefähr auf möglichst komödiantische und/oder populäre Titel. Dass man Ende November László Krasznahorkais Roman „Herscht 07769“ über eine fiktive thüringische Kleinstadt am Abgrund auf die Bühne bringt, ist da ein Ausreißer.

„So etwas wie Restaurationszeit oder neues Biedermeier“ empfindet Kay Kuntze. Die Leute wollten „im Vertrauten Orientierung finden“. Das solle im Programm nicht unbeachtet bleiben. Mensching findet das „sicherlich richtig“, obschon sie beide und die meisten Thüringer Intendanten ja aus einer eher kritischen Schule stammten. „Aber die Welt ist schon so zerstückelt, da müssen wir jetzt nicht noch die avantgardistische Zerstückelung wiederholen. Avantgardistisch ist es jetzt vielleicht eher, zu zeigen, wie man wieder zueinanderkommen und miteinander auskommen kann. Diese Notwendigkeit gibt es schon seit Jahren. Aber klar, jetzt spitzt sich das zu.“

„Extrem konservative Positionen im Publikum“ erlebt Jens Neundorff in Meiningen auch. Und die Tendenz zu mehr Unterhaltung habe sich an sehr vielen Häusern verstärkt, seit sich der Deutsche Bühnenverein im Mai zur Jahreshauptversammlung in Oldenburg traf. „Das ist aber kein probates Mittel, um die Struktur zu erhalten. Der Anspruch auch des Publikums ist ein anderer. Es gibt nach wie vor die Sehnsucht nach den großen Klassikern.“

In Weimar funktioniert Christian Weises „Buddenbrooks“-Inszenierung prächtig, aber nicht über den Titel, so Hasko Weber, sondern über die Machart. „Das ist einfach ein großes Erlebnis. Das hat sich schnell herumgesprochen.“ Ähnlich war es mit Schillers „Räubern“ im Sommertheater (Jan Neumann) und bleibt es mit Webers „Clockwork Orange“-Inszenierung, die er 2018 als szenisches Rammstein-Konzert anlegte. „Welche Energie von der Bühne gesendet wird“, schlussfolgert er, „halte ich für das Wesentliche!“ Deshalb nehmen sie im Advent auch Swaantje Lena Kleffs „Christmas Carol“ von 2019 wieder auf, obwohl sie mit „Das kalte Herz“ auch ein neues Weihnachtsmärchen inszeniert. Dafür wird im Spielplan sogar umdisponiert. Ohnehin überlegt man im DNT, Vorstellungen künftig viertel- statt halbjährlich durchzuplanen.

In Weimar halten sich die Zuschauerzahlen in Musik- und Sprechtheater alles in allem die Waage. Ansonsten aber gilt wohl überall, was Jens Neundorff aus Meiningen berichtet: „Das Musiktheater hatte es schon immer leichter.“ Das ist selbst in Rudolstadt so, wo es meist vom Theater Nordhausen zugeliefert wird, wenn nicht Mensching und sein Dramaturg Michael Kliefert eine ihrer erfolgreichen Revuen für Schauspiel und Orchester erfinden; „Liebe hin, Liebe her“ heißt ab Februar die nächste.

„Das Schauspiel geht ganz anders mit kritischen Themen um als die Oper“, überlegt Jens Neundorff. „Und vielleicht wollen das nicht mehr so wahnsinnig viele Leute sehen.“ Mozarts „Zauberflöte“ und das Musical „Sound of Music“ lagen in Meiningen bei über neunzig Prozent Auslastung, Puccinis „La Bohème“, vom Maler Markus Lüpertz inszeniert, bei über achtzig. Das Schauspiel kommt im Schnitt auf sechzig, wenn es nicht gerade die Wechseljahre-Revue „Heiße Zeiten“ zeigt. Selbst „Kabale und Liebe“, von Schiller einst vor Meiningens Toren geschrieben, käme ohne Abonnenten und Schülergruppen kaum auf nennenswerte Zahlen.

Wenn allerdings Kay Kuntze zum Saisonauftakt in Gera, wie soeben geschehen, Gottfried von Einems Büchner-Oper „Dantons Tod“ inszeniert, kriegt der Besucherservice die Krise. „Es läuft besser als befürchtet“, sagt der Intendant. „Wir sind aber froh, wenn die Vorstellung halbvoll ist.“ Der Applaus sei indes immer frenetisch. „Ich habe den Eindruck, diejenigen, die kommen, lassen sich fast mehr begeistern als vor Corona.“ Das Schauspiel erlebte dann mit der Komödie „Dinner for One – Wie alles begann“ eine ausverkaufte Premiere. //

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