Aktuelle Inszenierung

Mit heißem Getriebe

Beim Epidauros-Festival triumphiert „Agamemnon“ von Ulrich Rasche

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„Dieses Spiel mit einer Art von Heiligkeit des Wortes passt super hierher“, sagt der Darsteller der Titelrolle Thomas Lettow beim Gastspiel von „Agamemnon“ auf Epidauros in der Regie von Ulrich Rasche. Foto Patroklos Skafidas
„Dieses Spiel mit einer Art von Heiligkeit des Wortes passt super hierher“, sagt der Darsteller der Titelrolle Thomas Lettow beim Gastspiel von „Agamemnon“ auf Epidauros in der Regie von Ulrich Rasche. Foto Patroklos Skafidas

Wenn das mal kein Statement ist: „Kunst ist die Antwort auf alles!“, erklärt Katerina Evangelatos. Was den Menschen ausmache, das sei ja nicht allein die Einsicht, angesichts des Klimawandels auf Flugreisen zu verzichten, so die künstlerische Leiterin des Athens Epidaurus Festivals. Menschsein habe auch mit der Fähigkeit zu tun, eine Fuge von Bach, ein Gemälde von Rembrandt oder ein Drama von Aischylos wertzuschätzen. Kunst zu den Menschen zu bringen, ist für Evangelatos daher eine Aufgabe von so essenzieller Bedeutung, dass sie auch künftig nicht auf internationalen Austausch verzichten will. Trotz der mutmaßlich fragwürdigen Ökobilanz von Großgastspielen.

Andreas Beck, Intendant des Münchner Residenztheaters, der die „Agamemnon“-Auswärtspremiere seines Hauses in Epidauros eingefädelt hat, sieht die Sache ähnlich. Er argumentiert mit Blick auf den Krieg in der Ukraine: „Menschen brauchen gerade in diesen Zeiten Perspektiven. Je ärmer wir werden an Perspektiven, desto dramatischer wird die ganze Situation.“ Mit anderen Worten: Für Beck wie für Evangelatos überwiegt der gesellschaftliche Nutzen solcher aufwendigen Abstecher den ökologischen Schaden.

Trotzdem, das Dilemma bleibt: Kulturaustausch und Klimaschutz sind zwei hehre Ziele, die sich nicht wirklich vertragen. Entschärfen lässt sich dieser Zielkonflikt nur durch Maßnahmen wie dem modernen Klimasünden-Ablasshandel, sprich: Spenden an entsprechende Umweltorganisationen, deren Projekte den CO2-Ausstoß kompensieren, den solche Reisen (im konkreten Fall mit einem Tross von rund 50 Personen in Cast und Crew) verursachen.

Abgesehen von derlei globalen Fragestellungen stellen Gastspiele wie das des Residenztheaters die tourende Theatertruppe aber auch vor jede Menge kniffliger Probleme im Detail. Dass Ulrich Rasche der Richtige sein könnte, um das Amphi- theater von Epidauros adäquat zu bespielen, war vorab keine allzu gewagte Vermutung. Der Regisseur hat ein Faible für antike Stoffe und formiert Ensembles regelmäßig zu wuchtig-emphatischen Sprechchören, angetrieben vom Rhythmus hypnotisierender Live-Musik. In Rasches Arbeiten, findet Schauspieler Thomas Lettow, Darsteller des Agamemnon und zugleich Teil des Chores, gehe es vor allem darum, „die Anmut und Aura, Größe und Kraft, die in den alten Texten steckt, auf die Bühne zu bringen. Dafür ist dieser Ort wie gespuckt. Dieses Spiel mit einer Art von Heiligkeit des Wortes passt super hierher“.

Was indes die praktische Umsetzung dieser künstlerisch so passgenauen Vision in Epidauros angeht, so musste das antike Theater erst mal technisch ertüchtigt werden. Rasche zelebriert das Wort ja nicht nur, indem er Chöre die Verse skandie- ren lässt, immer sind sie dabei auch in Bewegung, indem sie beispielsweise gegen die Drehrichtung einer permanent kreisenden Drehbühne anschreiten. So eine Scheibe brauchte Rasche auch für die „Agamemnon“-Premiere. In ihre Einzelteile zerlegt und auf drei Sattelschlepper verladen musste sie nach Epidauros transportiert und von der technischen Mannschaft vor Ort und open air installiert werden. Eine Herkulesaufgabe! Wie ein gigantischer Diskus thronte die fertig montierte Scheibe schließlich inmitten der Orchestra, fügte sich damit harmonisch in die kreisrunde Spielfläche des antiken Theaters ein und setzte zugleich doch einen Kontrapunkt. Als wäre ein Ufo hier gelandet, das aber möglichst unauffällig bleiben wollte. Die Gefahr, dass bei dieser technisch anspruchsvollen Mission Sand ins Getriebe geraten könnte, war buchstäblich gegeben, stellte sich aber zunächst nur im übertragenen Sinn ein: Der Bühnenaufbau ging nicht so reibungslos vonstatten, wie es der ambitionierte Zeitplan vorgesehen hatte. Weil das antike Theater von Epidauros tagsüber ein Museum ist und zudem die Sonne zu heiß vom Himmel brennt, konnten Aufbau und Proben immer erst abends beginnen. Fünf Vorbereitungsnächte standen dem Residenztheater zur Verfügung, drei davon waren für die Endproben reserviert. Am Ende schrumpfte die Probenzeit auf nur gut zwei zusammen. Eigentlich zu wenig, zumal bereits die vorbereitenden Proben in München durch etliche Corona-Ausfälle im Ensemble immer wieder ausgebremst worden waren. Einen Gesamtdurchlauf daheim in München hatte es nicht gegeben, und auch in Epidauros war dafür, wie sich herausstellen sollte, keine Zeit. Die Premiere wurde zugleich der erste Durchlauf. Sportlich.

Aischylos’ Tragödie „Agamemnon“ ist ein Kriegsheimkehrer-Drama. Nach zehn Jahren Schlacht um Troja kommt Agamemnon endlich mit seinen Truppen nach Hause. Siegreich. Aber: Um welchen Preis? Während die einen die siegreichen Krieger bejubeln, betrauern die anderen ihre gefallenen Väter, Söhne und Brüder.

Ulrich Rasche interessiert sich für die traumatischen Folgen des Krieges, zeigt den Riss, der durch die Gesellschaft geht, auch durch Familien, nicht zuletzt durch die von Agamemnon. Der hat vor dem Aufbruch nach Troja die eigene Tochter der Göttin Artemis geopfert. Iphigenie ist sozusagen die erste Kriegstote. Ehefrau Klytämnestra kann Agamemnon den Mord am gemeinsamen Kind nicht verzeihen und erschlägt den Heimgekehrten. Pia Händler spielt diese Klytämnestra als eine Frau, in der sich so viel Bitterkeit aufgestaut hat, dass es sie schier zu zerreißen droht, ebenso eindrucksvoll wie Thomas Lettow den Agamemnon, der den Titelhelden als zerquälten Schmerzensmann gibt.

Nach vollbrachtem Gattenmord stehen Klytämnestra und ihr Liebhaber Aigisthos (Lukas Rüppel) nackt wie die ersten Menschen da. Ein Bild voller ätzender Ironie, denn ihre Unschuld haben die beiden durch den Mord verloren. Es ist die denkbar düsterste Deutung des Stücks, die Ulrich Rasche anbietet. Die Chorpassagen, die unter anderem die Schrecken des Krieges und die Schmerzen angesichts des Verlustes naher Menschen beklagen, verdichten sich zu einem finsteren Fluss, der selbst durch eine Premierenpanne nicht ins Stocken gerät. Mitten in der Vorstellung streikt die Drehbühne, springt ruckelnd wieder an, bleibt erneut stehen. Und mit ihr die Herzen von Regisseur und Darstellern, die ein, zwei endlose Minuten auf der Stelle trippeln müssen, statt wie geplant gegen die Rotation anzulaufen. Doch ehe es zu einer Unterbrechung kommt, hat die technische Mannschaft das Problem erkannt und gelöst. Nicht Sand im Getriebe, sondern die enormen Temperaturen haben den Antrieb zum Erlahmen gebracht. Ein Bühnenmeister sorgt geistesgegenwärtig für Belüftung, der Motor springt wieder an. Die Premiere ist gerettet und kann ihren Sog entfalten, dem sich auch das Publikum nicht entziehen kann. Bei der zweiten Vorstellung vor über 5000 Menschen im weiten Rund gibt es sogar stehende Ovationen.

Eine im besten Sinne aufgewühlte Zuschauerin beschreibt den Abend hinterher als physische Erfahrung. Zum ersten Mal im Theater habe sie die Versehrungen und Verheerungen des Krieges körperlich gespürt, die Aufführung sei bei ihr eingeschlagen „wie eine Bombe“. Eine etwas martialische Diktion. Aber vielleicht ist ja genau das der Wert internationalen Kulturaustausches: dass das Erleben von Kunst im Allgemeinen und insbesondere da, wo es Menschen eine neue, ungewohnte Sichtweise eröffnet, so zu erschüttern vermag, dass eine prägende Erfahrung daraus erwächst, die politische Haltungen formt und fördert und so zu entsprechendem Handeln empowert. Damit wäre Kunst zwar nicht die Antwort auf alles. Aber doch auf ein paar recht entscheidende Probleme dieser Welt. //

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