Heft 11/2019
Test the East
30 Jahre Mauerfall
Broschur mit 84 Seiten, Format: 215 x 285 mm
ISSN 0040-5418
Ein Traum: „Aus Kellern, U-Bahnschächten, Klobecken kam Wasser geschossen. Jeder macht sich bereit. Hals über Kopf stieg es. Der Führer im Rundfunk erklärte, die Mauer halte.“ Die Mauer aber hielt nicht. Dreißig Jahre ist es her, dass sich 1989 die Grenze zwischen DDR und BRD öffnete. Für ihn, schreibt Einar Schleef über sein Stück „Berlin ein Meer des Friedens“ 1974 in sein Tagebuch, sei die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten nur in braunem Schlamm möglich. Eine Behauptung, die „verstört“, „politisch zunächst undenkbar“ ist. Auch alle West-Kritiker hätten so reagiert, als das Stück 1983 am Theater Heidelberg uraufgeführt wurde. Schleef aber hatte sogar davon geträumt. Von steigendem Wasser. Schlamm. Rutschender Erde. Als Erinnerung an einen der wichtigsten und radikalsten Universalkünstler Deutschlands drucken wir Einar Schleefs „Berlin ein Meer des Friedens“ in diesem Heft. Was aber passiert, wenn der Boden, auf dem man steht, plötzlich nachgibt?
Es stört die Identifizierung mit dem Rahmen, in dem man sich bewegt. Genau dies, schreibt der Soziologe Wolfgang Engler, passierte in den vergangenen dreißig Jahren. „Freiheitsgewinn und Freiheitsverlust gingen vielfach Hand in Hand … Ohne Kenntnisnahme dieses Grundwiderspruchs wird die gesamte nachfolgende Entwicklung unverständlich.“ In unserem Schwerpunkt „30 Jahre Mauerfall“ arbeiten wir dezidiert an einem Verstehen. Während Anja Nioduschewski mit Thomas Krüger, dem Präsidenten der Bundeszentrale für politische Bildung, über die Erfindung des Ostdeutschen und den „kulturellen Kolonialismus“ Westdeutschlands sprach, reiste Gunnar Decker mit dem Theater 89, der einstigen Ost-Berliner Szenebühne, quer durch Brandenburg auf den Spuren der „Luftwurzeln der eigenen Existenz, die man nicht vorschnell kappen darf“. Für Henrike Naumann ist die DDR indes „fast schon prähistorisch lang her“, wie sie im Gespräch mit Ute Müller-Tischler erzählt. Daher ließ die bildende Künstlerin, deren Arbeiten über Ästhetik und Politik alltäglicher Privaträume wir in unserem Künstlerinsert zeigen, in ihrer Ausstellung „Ostalgie (Urgesellschaft)“ die DDR als Steinzeitszenario wiederauferstehen. „Gleichzeitig“, sagt sie, „umgeben uns die Trümmer überall und wurden irgendwie nie richtig weggeräumt.“ Es sei daher höchste Zeit zur Besinnung, zur Umkehr, resümiert Wolfgang Engler in seinem Essay. Um nicht denjenigen die Verfestigung des Bodens zu überlassen, die darauf Gewalt und Terror säen wie jüngst in Halle an der Saale. „Darüber wäre zu reden, ist zu reden, ohne Herablassung, ohne Bevormundung und also mit den Wählern vom rechten Rand.“
Verhandeln also, was ist. Ginge es nach den Vertretern „der gerade mal richtigen Seite“, hätten wir das Künstlerinsert von Henrike Naumann mit einem „Erklärzettelchen“ versehen müssen: „Die Reichskriegsflagge wird hier in kritischer Absicht verwendet.“ „Ach so. Hätte ich jetzt nicht gedacht“, kommentiert Ralph Hammerthaler in seiner Kolumne einen ähnlichen Zettel in einer Ausstellung von Jörg Immendorff. „Für wie dumm hält der Kunstbetrieb eigentlich sein Publikum?“ Doch nicht nur die bildende Kunst sei von Moral umstellt, sondern auch das Theater und die Literatur. Ohne Ambivalenz, ohne Widersprüchliches, ohne Schmerz aber sei die Kunst nicht zu haben, so Hammerthaler, „weil sie vom Leben da draußen und von der Welt erzählt“. Einer Welt, so schließt auch Thomas Krüger, in der das Austragen von Konflikten und Kontroversen eine Art Lebensmittel und kein Verhängnis sei.
Über den Verlust des Bodens unter den Füßen ging es auch in der sehnsüchtig erwarteten Premiere von René Polleschs neuestem Stück mit Fabian Hinrichs im Berliner Friedrichstadt-Palast, einem Revue-Tempel von beachtlichem Ausmaß. Doch angesichts der gesellschaftlichen Zerstörungswut des Kapitalismus bietet in „Glauben an die Möglichkeit der völligen Erneuerung der Welt“ auch ein 38 Meter breiter und 37 Meter tiefer Bühnenboden keinen Halt. Wo aber findet das moderne Individuum dann „ein Zuhause“? Diese Frage entschlüsselt Jakob Hayner in seiner Uraufführungskritik. Etwas weniger Plätze, lediglich 1700, bot das Auditorium maximum der Ruhr-Uni Bochum, in dem, wie Martin Krumbholz berichtet, Christoph Marthaler bei der diesjährigen Ruhrtriennale mit „Nach den letzten Tagen. Ein Spätabend“ eine eindrucksvolle Inszenierung ablieferte, einzig übertrumpft von der intelligenten Arbeit des belgischen Regisseurs Jetse Batelaan mit dem wundervollen Titel „(.....)“.
… Diese Punkte könnten als schmerzlich ungewisse Lücke auch hinter unserem Auslandsbeitrag in diesem Heft stehen. Der Theatermacher Hjalmar Jorge Joffre-Eichhorn berichtet aus Afghanistan. Seit vielen Jahren ist der Regisseur in Kabul aktiv, um in einem extrem komplizierten Umfeld, bedroht durch alltägliche Gewalt und Selbstmordanschläge, Theater zu machen. Sein Bericht ist ein erschütterndes Beispiel dafür, wie Künstler versuchen, dem alltäglichen Wahnsinn etwas entgegenzusetzen. In diesem Fall: Theater. //
Die Redaktion
Artikel | Seite |
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Artikel | Seite |
Künstlerinsert | |
Installationenvon Henrike Naumann | Seite 4 |
Die Ideologie der SchrankwandDie bildende Künstlerin Henrike Naumann über Ästhetik und Politik alltäglicher Privaträume vor und nach der Wende im Gespräch mit Ute Müller-Tischlervon Ute Müller-Tischler und Henrike Naumann | Seite 8 |
Thema | |
Deutsch-deutsche AsymmetrienThomas Krüger, Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung, über die Erfindung des Ostdeutschen und koloniale Aspekte der Wiedervereinigung im Gespräch mit Anja Nioduschewskivon Anja Nioduschewski und Thomas Krüger | Seite 11 |
Rache ist BlutwurstWorüber dreißig Jahre nach den Um- und Abbrüchen im Osten zu reden wäre – und mit wemvon Wolfgang Engler | Seite 14 |
Unter KleinstädternDas Theater 89, die einstige Ost-Berliner Szenebühne, reist heute durch Dörfer und Städte Brandenburgsvon Gunnar Decker | Seite 18 |
Festivals | Seite 22 |
Sturzflüge in die MetaphysikBei der diesjährigen Ruhrtriennale sticht neben Produktionen von Marthaler, Lauwers und Goebbels vor allem das intelligente (Jugend-)Theater von Jetse Batelaan hervorvon Martin Krumbholz | |
Aktuelle Inszenierung | Seite 26 |
Lob der LiebeIm Berliner Friedrichstadt-Palast zeigen René Pollesch und Fabian Hinrichs, woran es sich noch zu glauben lohnt – trotz der Kälte des Kapitalismusvon Jakob Hayner | |
Protagonisten | Seite 28 |
Bilaterale GesprächeDer neue Intendant André Nicke bringt theatrale Bewegung an die Uckermärkischen Bühnen Schwedt und eröffnet mit einem umstrittenen polnischen Stückvon Hartmut Krug | |
Kolumne | Seite 31 |
Besserwisser*innenDas Theater ist von Moral umstellt – wenn das mal gut gehtvon Ralph Hammerthaler | |
Ausland | Seite 32 |
Niemand wartet auf GodotTheater und Aktivismus in Afghanistanvon Hjalmar Jorge Joffre-Eichhorn | |
Look Out | |
Im Fluss der BegriffeDer Dramaturg Frederik Tidén präsentiert im Düsseldorfer Schauspielhaus Spielarten einer pluralen Gesellschaftvon Martin Krumbholz | Seite 36 |
Schmetterlingsschlag des PolitischenDer Regisseur Sascha Flocken bringt Spielprozesse zum Leuchtenvon Bodo Blitz | Seite 37 |
Auftritt | |
Berlin: Klassenkampf und EisenbahnromantikMaxim-Gorki-Theater: „Anna Karenina oder Arme Leute“ nach L. Tolstoi und F. Dostojewski in einer Fassung von O. Frljić und L. Haugk. Regie O. Frljić, Bühne I. Pauška, Kostüme S. Dekanićvon Jakob Hayner | Seite 41 |
Bremen: Selbstverliebte WeltuntergangspartyTheater Bremen: „Attentat oder frische Blumen für Carl Ludwig“ (UA) von Mehdi Moradpour. Regie Pınar Karabulut, Bühne Bettina Pommer, Kostüme Bettina Wernervon Jens Fischer | Seite 41 |
Cottbus: Bergwerk ohne TiefenStaatstheater Cottbus: „Warten auf Sturm“ von Peter Thiers (UA) Regie Volker Metzler, Ausstattung Claudia Charlotte Burchardvon Thomas Irmer | Seite 42 |
Düsseldorf: Nackte TextexegeseForum Freies Theater: „Thyestes Brüder! Kapital. Anatomie einer Rache“ von Claudia Bosse / theatercombinat nach Seneca. Regie und Raum Claudia Bossevon Martin Krumbholz | Seite 43 |
Halle: Die Inneneinrichtung der WeltNeues Theater: „Der Tempelherr. Ein Erbauungsstück“ von Ferdinand Schmalz. Regie Ingo Kerkhof, Ausstattung Jessica Rockstrohvon Jakob Hayner | Seite 45 |
Hamburg: Ohne LiebeDeutsches Schauspielhaus Hamburg: „Serotonin” (UA) von Michel Houellebecq in einer Fassung von Falk Richter. Regie Falk Richter, Bühne Katrin Hoffmann, Kostüme Teresa Verghovon Anja Nioduschewski | Seite 46 |
Heidelberg: Fiebertraum im ElefantenhausTheater Heidelberg: „Der sechste Kontinent“ von L. Kittstein, B. Mikeska und M. Schneider. Regie B. Mikeska, Bühne B. Mikeska und S. Termath, Kostüme J. Klimczykvon Björn Hayer | Seite 47 |
Leipzig: Ein Held, was ist das?Schauspiel Leipzig: „Die Hermannsschlacht“ von Heinrich von Kleist. Regie und Bühne Dušan David Pařízek, Kostüme Kamila Polívkovávon Gunnar Decker | Seite 48 |
Schaan/Liechtensterin: Vom Sterben der SchmetterlingeTheater am Kirchplatz: „Identität Europa“ (UA) von Daniel Batliner, Clàudia Cedó, Vedrana Klepica, Guy Helminger, Dirk Laucke, Rebecca C. Schnyder, Csaba Székely und Andra Teedevon Elisabeth Maier | Seite 49 |
Wilhelmshaven: Die Macht des AutoritärenLandesbühne Niedersachsen Nord: „Caligula / Julius Caesar“ (DSE) von Albert Camus und Peter Verhelst. Regie Robert Teufel, Ausstattung Angelika Weddevon Jens Fischer | Seite 50 |
Stück | |
„ich habe etwas geschrieben, was keiner verstehen will“Einar Schleef über sein erstes Theaterstück „Berlin ein Meer des Friedens“von Einar Schleef | Seite 52 |
Berlin ein Meer des Friedensvon Einar Schleef | Seite 54 |
Magazin | |
Apokalyptisches Savoir-vivreDas Vielspartenfestival steirischer herbst präsentierte unter dem Motto „Grand Hotel Abyss“ eher ortsspezifische und installative als szenische Arbeitenvon Hermann Götz | Seite 65 |
Jeden Abend UraufführungDas Festival Grenzenlos Kultur am Staatstheater Mainz lotet aus, warum unser Begriff von „Normalität“ einer dringenden Erweiterung bedarfvon Björn Hayer | Seite 66 |
Interventionistische HologrammfamilieIn „Stonewall Uckermark – ein queerer Heimatfilm“ erteilen Tucké Royale und Johannes Maria Schmit bisherigen identitätspolitischen Vorstellungen eine Absagevon Paula Perschke | Seite 67 |
Klarheit, Wahrheit, Gegenwart100 Jahre Württembergische Landesbühne Esslingen – ein Abstecherbetrieb mit gesellschaftspolitischem Auftragvon Elisabeth Maier | Seite 68 |
Jenseits des OpernuniversumsDas Berliner Festival für aktuelles Musiktheater Bam! zeigt die performativen Potenziale experimentellen Musiktheaters – auch indem es Konventionen unterläuftvon Irene Lehmann | Seite 70 |
Geschichten vom Herrn H.: Vom Nō lernen heißt Kunst lernenvon Jakob Hayner | Seite 71 |
Bücher | |
Avantgarde kann auch ein Ghetto seinChristoph Schlingensief und die Avantgarde. Hg. von Lore Knapp, Sven Lindholm und Sarah Pogoda, Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2019, VIII + 341 S., 89 EUR.von Anja Nioduschewski | Seite 72 |
Auch du, Arbeiterin!Sergej M. Tret’jakov: Ich will ein Kind! Band I: Zwei Stückfassungen und ein Film-Libretto. Band II: Aufführungen und Analysen. Band I: 296 S., 24,90 EUR, Band II: 359 S., 29,80 EUR.von Erik Zielke | Seite 73 |
Aktuell | |
Meldungen | Seite 74 |
TdZ on Tour | Seite 75 |
PremierenNovember 2019 | Seite 76 |
Impressum | Seite 79 |
Autoren November 2019 / Vorschau | |
Gespräch | Seite 80 |
Was macht das Theater, Emre Akal?von Sabine Leucht und Emre Akal |
Emre Akal
Bodo Blitz
Gunnar Decker
Wolfgang Engler
Jens Fischer
Hermann Götz
Ralph Hammerthaler
Björn Hayer
Jakob Hayner
Thomas Irmer
Hjalmar Jorge Joffre-Eichhorn
Hartmut Krug
Thomas Krüger
Martin Krumbholz
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