Heft 09/2010
Ein Land wie gerade nicht da
Wolfgang Engler und Philipp Löhle über Leben im Umbruch
Broschur mit 122 Seiten, Format: 215 x 280 mm
ISSN 0040-5418
Wer sich diesen Sommer in Griechenland aufhielt, weiß, dass die Ruhe trügt, die derzeit über Europa liegt. Warum der Sturm, der sich an den Randzonen der Aufklärung zusammenbraut, nicht nur pekuniäre Gründe hat, sagt uns Wolfgang Engler, Soziologe und Rektor der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch" Berlin. „Affektkontrolle" heißt das Zauberwort. Wo der Triebstau seit Jahrhunderten als zivilisatorisches Emblem gefeiert wird, wird die Wut nicht wie in den neuen Bundesländern öffentlich und damit politisch. Wenn die regulierten Emotionen der Stabilität der Macht dienen und als deren Dispositiv wirken, gewinnt das Theater eine kritische Funktion, wo es beginnt, Projekte in die Welt zu setzen, die den Lauf der Gefühle in die Wirklichkeit zurückdirigieren.
Das fulminante Interview mit Wolfgang Engler führte Holger Teschke im Zusammenhang mit dem künstlerisch-soziologischen Projekt „Über Leben im Umbruch" des Maxim Gorki Theaters Berlin über den Zustand der brandenburgischen Schrumpfoase Wittenberge. Eine Stadt, welcher der Autor Philipp Löhle verwundert dabei zusieht, wie s ie einerseits verschönert wird, während sie andererseits implodiert. Dass sich für die Stadttheater mit den veränderten Rahmenbedingungen neue Spielräume ergeben, macht Engler an dem Motto „In welcher Gesellschaft wollen wir leben?" des Theaters Freiburg fest. Ähnliche Überlegungen stellt auch die Tafelrunde der Tübinger Intendanten der Stadtgesellschaft und folgt im Gespräch mit Frank Raddatz der Spur, wie die Theaterleute selber exemplarisch das Leben führen könnten, das sie auf der Bühne einklagen. Ist doch die einzig relevante Frage, so Engler, wie Kritik wirksam wird.
Dass bloßes kritisches Getue mit Vergeblichkeit geschlagen ist, hat niemand dem Bürgertum so schön ins Poesiealbum gedichtet wie Anton Tschechow. Umso erfreulicher, wie Gunnar Decker Regisseur Frank Castorf in „Nach Moskau! Nach Moskau!" dabei zuschaut, wie er den Leidensdruck der Langeweile verpuffen lässt, und dessen Rückkehr zum „anarchistischen Kraftquell seiner Anfänge" bejubelt. Großartiges weiß auch Dorte Lena Eilers vom Festspielhaus Hellerau in Dresden zu berichten, wo es gelingt, mit Installationen von Graeme Miller und Jean Michel Bruyere zum Thema Flüchtlinge und Migration das bundesdeutsche Patientenkollektiv zumindest vorübergehend aus dem Koma zu erwecken. Ebenso lässt in Stuttgart Volker Lösch die Fetzen fliegen und katapultiert das Publikum reihenweise aus dem Polster, wenn er es intensiv konfrontiert mit dem, was wir alle wissen: Der Marsch auf die Festung Europa hat schon lange begonnen, und bei diesem Flüchtlingsdrama fließt jede Menge Blut und segnen Seelen zuhauf das Zeitliche. Das dramatische Modell liefert der Erstling von William Shakespeare, „Titus Andronicus". Auch die Wiener Festwochen steuern Außerordentliches zum Thema Flüchtlinge und Migration bei. Hier zeichnen Alexander Nikolic und Jörg Lukas Matthaei für aufregende Erfahrungsräume irgendwo zwischen Spiel und Wirklichkeit verantwortlich, die das Fremdsein als soziales Abenteuer erlebbar machen.
Der Welt als soziale Plastik konnte ebenso Sebastian Kirsch beiwohnen, der die Höhepunkte von Theater der Welt in Mülheim und Essen gleichermaßen verfolgte wie die Flugbahnen von Ejakulaten, mit denen sich dort der Wahn des Echten als Materialbegriff mittlerweile manifestiert. Unbedingt lesenswert ebenso sein Kommentar zur Loveparade und zur europäischen Kulturhauptstadt als Symptom jener Identitätskrise, die das Ruhrgebiet im postindustriellen Zeitalter voll erwischt. Vielleicht könnte man sich Rat bei den Theaterformen in Braunschweig holen, wo Anja Dirks das Theater der Zukunft mit viel Fortune präsentiert, wie Alexander Schnackenburg eindringlich belegt. In Sachen Zukunft lässt Südamerika die emotionalen Korken knallen, nic ht nur in Argentinien, sondern auch, wie Roger Mirza zu berichten hat, in Uruguay.
Wir sind also gespannt, welches Theater das Machtdispositiv von Triebstau und Affektkontrolle in dieser Spielzeit am nachhaltigsten zu durchbrechen weiß und was sich als politisches Potenzial der Zukunft dabei herausschält.
Die Redaktion
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NachtodverwirrungFür Christoph Schlingensiefvon Josef Bierbichler | Seite 2 |
Künstlerinsert | Seite 4 |
„Meiler, Hauben und Globen“Das Autorenspektakel Bern 2010 mit einer Installation von Lutz & Guggisbergvon Anders Guggisberg und Andres Lutz | |
Porträt | Seite 8 |
Raum wird WiderstandMit der Installation „Meiler, Hauben und Globen“ beim Berner Autorenspektakel definiert das Künstlerduo Lutz & Guggisberg die Rolle der Kunst im Theater neuvon Hans Rudolf Reust | |
Schnittstellen I | |
Ein Land wie gerade nicht daWie ein Autor das brandenburgische W. sucht und den Wilden Westen findet. Eine Landpartievon Phillipp Löhle | Seite 12 |
Wer sich beherrscht, der wird beherrschtWolfgang Engler im Gespräch über das künstlerisch-soziologische Projekt „Über Leben im Umbruch“, Lehrgänge der Wut und die revolutionäre Zukunft des deutschen Stadttheatersvon Wolfgang Engler und Holger Teschke | Seite 16 |
Schnittstellen II | |
Der Mann, der vom Himmel fielDas Festspielhaus Hellerau in Dresden verhandelt Probleme, die es dort vermeintlich nicht gibt – zwei Installationen zum Thema Flüchtlinge von Graeme Miller und Jean Michel Bruyèrevon Dorte Lena Eilers | Seite 22 |
Mit herzlichen Grüßen, Ihr SchwellenlandBei den Wiener Festwochen werden Fremde zu Freunden und Freunde zu Fremden – zwei Stadtprojekte zum Thema Flüchtlinge von Alexander Nikolic und Jörg Lukas Matthaeivon Margarete Affenzeller | Seite 26 |
Zähl deine Tage, AbendlandAberwitzige Splatter-Farce – Volker Lösch liest Shakespeares „Titus Andronicus“ als Kampf der Dritten Welt um die Festung Europavon Otto Paul Burkhardt | Seite 28 |
Aktuelle Inszenierung | Seite 30 |
Das Elend ganz obenMit „Nach Moskau! Nach Moskau!“ findet Frank Castorf zum Anarchismus seiner Anfänge zurückvon Gunnar Decker | |
Debatte | Seite 32 |
Die Tübinger TafelrundeLTT-Intendantin Simone Sterr und die Intendanten des Zimmertheaters Christian Schäfer und Axel Krauße im Gespräch über kommunale Rückendeckung und kognitive Gladiatorenkämpfevon Frank M. Raddatz, Christian Schäfer, Axel Krauße und Simone Sterr | |
TdZ entdeckt | |
Der RemixerOb klassisches Handlungstheater oder postdramatische Performance – der Regisseur Jan-Christoph Gockel erfindet sich ständig neuvon Claudia Niemann | Seite 36 |
Die EntdeckerinOb Nesthäkchen oder Nora – die Schauspielerin Marina Frenk irrlichtert zu immer neuen Ufernvon Friederike Felbeck | Seite 37 |
Festival | |
RuhrgebietsprozessionenDas Festival Theater der Welt lädt seine Besucher zur Erforschung des Ruhrgebiets einvon Sebastian Kirsch | Seite 38 |
Ein argentinisches PuppenheimBei den Theaterformen 2010 in Braunschweig faszinieren drei südamerikanische Stückevon Alexander Schnackenburg | Seite 48 |
Wo Frauen und tote Giraffen herrschenDie 10. Theaterbiennale in Wiesbaden und Mainz feiert die Weiblichkeitvon Shirin Sojitrawalla | Seite 50 |
Kulturpolitik | Seite 52 |
Auf dem Weg zum Neuen Königlichen OpernhausMit elitärem Gestus zieht die Staatsoper ins Schiller Theater einvon Michaela Klingberg | |
Ausland | Seite 54 |
Den Pakt des Schweigens brechenWie das Gegenwartstheater in Uruguay die Folgen der Diktatur zu verarbeiten suchtvon Roger Mirza | |
Lesarten | Seite 58 |
Georg Büchner „Woyzeck“gelesen von Nis-Momme Stockmannvon Nis-Momme Stockmann | |
Kolumne | Seite 61 |
Der Bundesgauklervon Josef Bierbichler | |
Stück | Seite 62 |
Die ÜberflüssigenEin Western nach wahren Begebenheitenvon Phillipp Löhle | |
Magazin | |
Die Poesie der PiazzaDas Napoli Teatro Festival Italia entdeckt die Stadt als Bühnevon Robert Quitta | Seite 81 |
Pelzträger oder Tierschützer?Das Oldenburger PAZZ-Festival konfrontiert sein Publikum mit ungewohnten Grundsatzfragenvon Alexander Schnackenburg | Seite 82 |
Durch Wälder, Schutt und HaineDas Performance-Festival play! in Leipzig kreiert den Neuen Theaterbesuchervon Christian Horn | Seite 83 |
In einem mit Draht umwickelten LandWiederentdeckt I – Georg Seidels Stücke aus der DDR spiegeln auch die Enge der heutigen Zeit – „Jochen Schanotta“ und „Carmen Kittel“ in Magdeburg und Dessauvon Hartmut Krug | Seite 84 |
Die Kunst, auf der Bühne zu lebenWiederentdeckt II: Nikolai Demidow und seine Schauspielschule der Genialitätvon Ruth Wyneken und Ljudmila Bogdanowa | Seite 86 |
Mupf oder Die erratischen Steine von BernMitspieler oder Spielverderber? – Das Autorenspektakel Bern stellt den Begriff des Autors zur Diskussionvon Regula Fuchs | Seite 88 |
Akteurin für Leute, die das Leben suchenZum Tod der Theatermacherin und Autorin Helma Fehrmannvon Wolfgang Schneider | Seite 89 |
Erzkomödiant und GenussmenschZum Tod des Regisseurs, Schauspielers und Theaterleiters Helmut Straßburgervon Martin Linzer | Seite 89 |
etc.von Sebastian Kirsch | |
Bücher | |
Bettine Menke: Das Trauerspiel-Buch. Der Souverän – das Trauerspiel – Konstellationen – Ruinen.transcript Verlag, Bielefeld 2010, 284 S., 25,80 EUR, ISBN 978-3-89942-634-2.von Sebastian Kirsch | Seite 90 |
Lothar Trolle: Zwei Komödien. Mit einem Nachwort von Axel Schalk.BasisDruck Verlag, Reihe Pamphlete, Berlin 2010, 188 S., 15,80 EUR, ISBN 978-3-86163-070-8.von Michael Peschke | Seite 91 |
Radiovorschau | Seite 92 |
Hingehörtvon Gerwig Epkes | |
Linzers Eck | Seite 93 |
Miethaie zu Fischstäbchen, Finanzhaie zu Bühnenfiguren (27)Ein nicht ganz seriöser Vorschlagvon Martin Linzer | |
Aus den Korrespondentenbüros | Seite 94 |
Bremen: Michael Börgerding wird Generalintendantvon Alexander Schnackenburg | |
Sachsen: Kulturraummittel werden gekürzt – auf Kosten der Theatervon Michael Bartsch | |
Stuttgart: Schauspiel wird saniert – Ausweichquartier im Autohausvon Otto Paul Burkhardt | |
Meldungen | Seite 95 |
Premieren | Seite 96 |
Impressum | Seite 99 |
Autoren | Seite 99 |
Anzeigen | Seite 100 |
Kommentar | Seite 120 |
Die verspätete Metropolevon Sebastian Kirsch | |
Vorschau | Seite 120 |
Margarete Affenzeller
Michael Bartsch
Josef Bierbichler
Ljudmila Bogdanowa
Otto Paul Burkhardt
Gunnar Decker
Dorte Lena Eilers
Wolfgang Engler
Gerwig Epkes
Friederike Felbeck
Regula Fuchs
Anders Guggisberg
Christian Horn
Sebastian Kirsch
Michaela Klingberg
Axel Krauße
Hartmut Krug
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Phillipp Löhle
Andres Lutz
Roger Mirza
Claudia Niemann
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Robert Quitta
Frank M. Raddatz
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