Schreiben zwischen Sandgasse, Promenade und Rothem Krebs

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Ich erinnere mich an ein Zimmer in der Sandgasse, nahe dem Linzer Hauptbahnhof. Drei Monate habe ich dort verbracht, als Stipendiat des Linzer Landestheaters, mit nur wenig Gepäck bei mir, weil ich doch wusste, als Stipendiat nur drei Monate hier sein zu können, aber zumindest mit etwas Gewand für den nassen und kalten Herbst, der in Linz viel nasser und kälter zu erwarten war als in Wien, von wo ich kam, und auch mit etwas Bier gegen die Stille im Zimmer, in dem ich doch vorhatte, still vor mich hin zu arbeiten, ohne dabei im Stillen verloren zu gehen, und daher hatte ich ein wenig Bier dabei und auch ein tragbares Radio. Das Bier hatte ich kurz davor am Linzer Hauptbahnhof gekauft, das Radio am Weg durch die Stadt über die Landstraße, schon ahnend, dass in dem Zimmer in der Sandgasse weder Internet noch Fernsehen zur Verfügung stehen würden. Ich trat also, im September 2011, mit dem Radio, dem Bier und einem Koffer warmer Sachen in das Zimmer in der Sandgasse, in dem es allerdings keineswegs still war, denn es lag straßenseitig und noch im fünften Stock hörte man den Linzer Einzugsverkehr. Linz war für mich also nicht der Ort, an dem ich eine Stille vorfinden konnte, sondern ein Rauschen, das mich in diesen drei Monaten im Schreiben begleitete. Jeden Morgen setzte ich mich an den Schreibtisch vor dem Fenster, kippte das Fenster, um die Stadtluft hereinzulassen, und hörte dem anbrechenden Straßenverkehr zu, der im Wechsel von roter und grüner Ampelschaltung wie das Aufbrausen des Meeres war, das freilich in keinster Weise tatsächlich da war – das Meer, das man in Linz und auch sonst in Österreich vergeblich sucht, aber gerne ersehnt, und so tat es auch ich. Ich ersehnte also das Meer in meinem Zimmer in der Sandgasse, in meiner Vorstellung vom Rauschen desselben, dessen Klang doch letztlich nur dem Motorengeräusch der Linzer Bewohner und Pendler geschuldet war. Meinen Blick richtete ich hinaus, durch das Fenster im fünften Stück, über die Dächer der umliegenden Wohngebäude hinweg, nördlich in Richtung Industriegebiet. Das Linzer Industriegebiet war weithin bestimmt von den Stahlbauten der VOEST, die man hässlich finden kann oder auch nicht. Ich empfand sie damals jedenfalls als schrecklich hässlich und wohltuend zugleich, weil sie meinem Blick vom fünften Stock aus über die vermeintliche Weite einer Stadt furchtbar im Weg standen, mich in ihrer ignoranten Plumpheit aber stets daran erinnerten, dass ich mich eben nicht in einer vermeintlichen Weite befand, sondern in Linz. Jeden Morgen also blickte ich direkt auf die plumpe Stahlarchitektur der VOEST, die in den Minuten zwischen fünf Uhr dreißig und Punkt sechs in der Früh ihren wohltuendsten Anblick entfaltete, da sich im Aufgang der Sonne von Osten her, im Lauf der westwärts herabfließenden Donau reflektierend, eine erstaunliche Schönheit über die Stadt legte, die ich nicht erwartet hatte. Ich hatte eigentlich gar nichts erwartet, oder anders: Ich hatte, als meine Sachen gepackt waren, um hierher zu reisen, jenes Linz erwartet, das ich glaubte, von früher zu kennen. Das war die Zeit, als ich noch als Schüler mit Freunden in den Regionalzug gestiegen war, vom Süden her kommend, aus dem Bezirk Kirchdorf an der Krems, die Landschaft des Alpenvorlandes an mir vorüberziehend, um in die Landeshauptstadt zu fahren, von der wir letztlich nur eine oder zwei Straßen tatsächlich gekannt hatten, nämlich die Landstraße zum Einkaufen und die Donaulände, wo der Urfahraner Markt regelmäßig stattfand. Daneben war uns noch die Gugl ein Begriff, das Fußballstadion, in dem sich damals noch der LASK und der FC Linz in der Bundesliga duelliert hatten, und zuletzt auch noch das alte Landestheater, in das man ging, weil man dorthin zu gehen hatte, von der Schule aus. Das war das Linz meiner Kindheit gewesen. Nun, da ich in dem Zimmer in der Sandgasse saß, um fünf Uhr dreißig in der Früh, und angesichts der VOEST in der Morgensonne begann, an einem neuen Theaterstück zu schreiben, entdeckte ich ein anderes, mich völlig überraschendes und mir lieb gewordenes Linz. Es war das Linz einer Veränderung.

Foto: Christian Brachwitz
Foto: Christian Brachwitz

Ich weiß noch, wie ich an einem der ersten Abende in diesem Herbst eine Nachricht am Telefon bekam, von einem der Schauspieler vom Landestheater, die ich kurz davor in der Kantine im Untergeschoß des alten Landestheaters kennengelernt hatte (eine Kantine übrigens, die nichts Besonderes war, aber in ihrer unaufgeregten Schlichtheit ein Ort der alltäglichen Zusammenkunft aller am Haus tätigen Menschen zu sein schien, was mir sehr gefiel). Ich bekam also eine Nachricht von einem der Schauspieler, dass man sich nun am Abend nach der Probe noch in der Altstadt auf ein paar Biere treffen würde, und ob ich, da ich doch neu in der Stadt wäre und doch sicher nicht im Stillen in dem Zimmer in der Sandgasse sitzen wolle, nicht zu ihnen stoßen würde, ins sogenannte Aquarium. Ich hatte meinen Schreibplatz tatsächlich seit den Morgenstunden nicht verlassen, höchstens um mir einen Kaffee zu machen oder eine kleine Jause aus dem Kühlschrank zu holen, und mein Kopf war voll von den Gedanken an das Stück, an dem ich saß. Das Stück sollte von alten Freunden handeln, die sich an dem Ort ihrer Kindheit nach Jahren wiedertreffen, jenem Alpenvorland, das auch meine Kindheit geprägt hatte, und an diesen Ort siedelte ich die Figuren an, in der Hoffnung auf ein Fest unter Freunden, ohne zu ahnen, wie fremd sich diese Runde von Freunden in den Jahren geworden war. Ich hatte also das Gefühl von einer abhandengekommenen Vertrautheit in mir, als ich ins Aquarium trat und dort ankam, in der Runde von Schauspielerinnen und Schauspielern bei ihren Bieren und Geschichten über den vergangenen Probentag, von Euphorie und Ernüchterung, von Ambition und Banalität, von dem Gewünschten und dem Eigentlichen, und wir lachten viel und hatten gute Stunden. Sie wurden mir schnell vertraut und ich erzählte ihnen von meinen Geschichten über die verlorene Vertrautheit. Ich blickte in die Runde von Menschen, die mir im Grunde fremd waren, und doch in ihren Wegen und Gedanken, die sie auf dem Tisch zwischen den Bierdeckeln und den darauf befindlichen Bieren ausgebreitet hatten, alles andere als unbekannt. Hier, im Aquarium in der Altstadt, wenige Meter vom Eingang des Theaters entfernt, und etwas nördlicher in Richtung Donauufer, im Rothen Krebs, sprachen wir in den folgenden Nächten noch viel über die vergangenen Proben auf der Bühne, von Euphorie und Ernüchterung, von Ambition und Banalität, von dem Gewünschten und dem Eigentlichen, und mir wurde klar, es braucht den Ort des Theaters nicht nur für die Arbeit am Theater, sondern viel mehr noch für die Arbeit am Leben, das dann und wann ans Theater führen kann, und auch wieder weg davon. Die Arbeit am Leben aber, sie ist Teil des Theaters, denn es ist nie angekommen, das Theater, sondern stets auf der Suche, wie eben auch die Menschen, die es betreten. Ein Ort der Veränderung, so sagte ich mir in diesen Nächten, am Pflasterstein zwischen Aquarium und Rothem Krebs, das letzte Bier längst vom Bierdeckel gehoben und in der Hand haltend, ein anderes Linz um mich.

Ich lernte Linz also kennen, in der Veränderung, und veränderte mich selbst. Ich behielt meinen Schreibplatz frühmorgens am lieb gewonnen Fenster mit dem Blick zur VOEST, wechselte mittags dann ins Theater, setzte mich dorthin, wo es gerade passte, und ließ mich, wann immer es sein sollte, im Schreiben von den Menschen unterbrechen. Am liebsten saß ich im Foyer des Großen Hauses im zweiten Stock bei einem kleinen, runden Steintisch, der etwas von einem Kaffeehaustisch hatte und an einem Heizkörper stand, was angesichts des tatsächlich eintretenden nassen und kalten Oktobers sehr angenehm war, sowie an einem Fenster, das den Blick rüber zum Landhaus freigab. Hier saß ich und hörte, wie das Haus betreten und auch wieder verlassen wurde. Der Hall der Schritte jener Hereinkommenden und Gehenden gab mir einen neuen Rhythmus im Schreiben. Ich hörte die Bühnentechnikerinnen und Bühnentechniker ihre Metallkisten auf Wägen unten durch die Gänge rollen. Ich hörte die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit zwischen den Stöcken auf- und ablaufen, an den Geländern stehen bleiben, um zu sehen, ob denn die aufgelegten Werbebroschüren weiterhin in ihrer angedachten Ordnung lägen. Ich hörte die beiden mir bald vertrauten Frauen vom Putzpersonal, die in diesem Trakt des Theaters das Parkett täglich wischten und die Mülleimer entleerten, ihr Lachen und ihren Ärger über das Zurückgelassene, die Spur, die bleibt, nach einem Theaterabend, wenn das Publikum gegangen ist. Sie sammelten sie ein, diese Spur. Ich hörte die Dramaturginnen und Dramaturgen aus ihren Zimmern kriechen, ihre Gedanken noch in irgendeinem dicken Buch oder irgendeiner mühseligen Korrespondenz steckend, wie sie dann die Tür heraus ins Foyer leise öffneten, um entweder auf die Toilette zu gehen oder meistens dann doch in den Rauchergang, der mir im Rücken lag, um zu rauchen. Und so mussten sie an mir vorbei. Mein Schreiben, das morgens gleichsam ein Rauschen war, glich hier nun dem Hall der Schritte der Menschen am Theater und auch dem Hall ihrer Gedanken, die sie fallen ließen, am Weg an mir vorbei. Ich nahm ihn auf, den Hall der Schritte und den Hall der Gedanken, in mein Schreiben, und es veränderte sich erneut. Und mit der Veränderung des Schreibens veränderten sich die Sätze in meinem Schreiben und auch die Möglichkeit der Sätze, die zu schreiben waren. Es wurde ein Schreiben, das mehr und mehr auf der Suche war, gerade an einem Ort, von dem ich anfangs dachte, alles zu kennen. Die Menschen, die in diesen Tagen an mir vorübergingen und mein Schreiben unterbrachen, kamen selbst von ihren Tätigkeiten, die sie unterbrachen, und in der gemeinsamen Unterbrechung der Arbeit entstand ein gemeinsames Nachdenken über das, was man denn hier eigentlich tat, oder zumindest vorhatte zu tun. Mein Stück über die heimgekehrten Freunde im Alpenvorland nahm nun auch diese Gedanken über die Arbeit auf, diese Unterbrechung im Tun, und ich stellte mir Fragen, die ich in mein Schreiben mit hineinnahm. Ich erinnere mich dabei an Gespräche über die Generation der Dreißigjährigen und die Frage danach, ob man überhaupt von einer Generation sprechen könne, oder doch nur von dem Wunsch, Gemeinsamkeiten festzuschreiben, wo Verschiedenheit zu große Angst bereite. Auch erinnere ich mich an Gespräche über das Aufwachsen am Land, das Studieren in der Großstadt und die Besuche der Familie, die immer noch da war, wo man sagte, daheim zu sein, nämlich am Land. Auch erinnere ich mich an Gespräche über den Tod, den man aus der Ferne sieht, den Tod, über den man in Büchern liest, den Tod, den man aus dem Bekanntenkreis kennt, und den Tod in der eigenen Familie, der, auch wenn er noch nicht da ist, erschreckend anwesend sein kann, und das Sprechen über das Sterben, das mal von Angst begleitet ist, und mal vom wohltuenden Wissen, dass es eintreten wird. Dann erinnere ich mich an Gespräche über französischen Wein und englischen Tee, über die Notwendigkeit, in die Ferne zu ziehen und die Unmöglichkeit, in der Ferne zu bleiben. Auch an Gespräche über die österreichische Literatur erinnere ich mich, über Elfriede Jelinek und Thomas Bernhard, über Marlen Haushofer und Werner Schwab, über Peter Handke und Adalbert Stifter. Und ich begann wieder mehr zu lesen, in diesen drei Monaten, in Jelinek und Bernhard, auch in Haushofer und Schwab, ein wenig auch in Handke und vor allem in Stifter, den ich immer gehasst, aber nie wirklich verstanden hatte. Nun, da ich in Linz saß und Stifter las, kann ich nicht behaupten, ihn weniger zu hassen, aber doch besser zu verstehen.

Mit Stifters „Nachsommer“ in der Hand verbrachte ich schließlich die letzten Wochen im November 2011, ehe ich feststellte, auf der Nibelungenbrücke stehend und den Lauf der Donau von Westen her kommend in Richtung Osten verfolgend, dass nun bald der Winter da sein würde. Ich schlug den „Nachsommer“ auf und las darin einige Zeilen über einen jungen Mann, der erstmals in seinem Leben ins Theater kam und erschüttert war von den Vorgängen auf der Bühne, die ihn innerlich bewegten, wie es sonst nichts zuvor zustande gebracht hatte. Je mehr ich davon las und auf der Nibelungenbrücke stehend den einbrechenden Winter roch, desto klarer wurde mir, dass es nicht die Vorgänge auf der Bühne waren, die mich hier in meiner Zeit in Linz am meisten bewegten, sondern die Bekanntschaften jener, die diese Bühne bespielten. Am Ende meiner drei Monate in Linz fand schließlich eine Lesung statt, eine Matinee im dritten Stock des Foyers im alten Landestheater. Da saßen die Schauspielerinnen und Schauspieler, die ich in den Nächten zwischen Aquarium und Rothem Krebs kennenlernen durfte und auch in den Vormittagen und Nachmittagen bei Probenbesuchen und Stückbesprechungen und in der Kantine im schnellen Gespräch zwischendurch oder am Heimweg, wo wir uns bald grüßten, als seien wir alte Bekannte. Sie saßen nun da und trugen das Stück vor, das ich in der Sandgasse nahe dem Hauptbahnhof begonnen hatte, und ich war sehr froh, dass ich sie alle kennenlernen durfte. Nach dieser Lesung kehrte ich zurück in mein Zimmer, in dem bereits mein gepackter Koffer stand. Das Bier hatte ich lange schon ausgetrunken und die Flaschen waren entsorgt. Das Radio stand am Schreibtisch und durchs Fenster blickte die VOEST herein. Da war es plötzlich still, so wie es noch nie still gewesen war, in diesem Zimmer, und auch der Linzer Straßenverkehr verstummte. Und in einer unerwarteten Wehmut zog ich die Vorhänge vor, die erstaunliche Schönheit einer Stadt lag dahinter. Dann verließ ich Linz und stieg in den Zug zurück nach Wien.

Quelle: https://classic.theaterderzeit.de/buch/wege_entstehen_dadurch%2C_dass_man_sie_geht/33338/komplett/