Heft 03/1991
Ibsens »Borkmann« bei Castorf
Broschur mit 96 Seiten, Format: 220 x 310 mm
ISSN 0040-5418
Dieses Heft ist leider vergriffen und nur noch als PDF erhältlich.
Und neues Leben blüht aus den Strukturen? Strukturdebatten hat es in den alten Bundesländern in unregelmäßigen Abständen immer wieder gegeben, es hat Ansätze zu einer Strukturdebatte auch in der alten DDR gegeben, zögerlich, halbherzig, ohne Durchsetzungsvermögen, weil politische Strukturen in diesen Überlegungen zumeist »weggedacht«, in der Praxis aber nicht beseitigt waren. Kommt nun eine neue, gesamtdeutsche Strukturdebatte auf uns zu? Die Dramaturgische Gesellschaft hat dazu aufgerufen, ausgehend von der Tatsache: »Noch bestehen das Tarifsystem der westlichen Bühnen und die Arbeitsorganisation der Theater aus dem Osten gleichberechtigt nebeneinander«, und in der löblichen Absicht: »Gerade in dieser Zeit ist es notwendig, die Chance zum Neuanfang zu nutzen und Vorschläge für eine Symbiose der progressiven Elemente beider Systeme zu erarbeiten.«Daß die Chance des Neuanfangs, was Theaterstrukturen und Tarifsysteme anlangt sehr gering ist, bewies die zweitägige Tagung der Gesellschaft meines Erachtens mit erschreckender Deutlichkeit. Daß die Chance eines Neuanfangs im Miteinander der Theater-Menschen beider Systeme auch zur Veränderung/Korrektur bestimmter Strukturelemente genutzt werden muß und kann, machte die Tagung aber auch, und auf ermutigende Weise, deutlich.
Es gibt im Westen die, die vor der zunehmenden Betonierung des Systems, das künstlerische Produktion immer mehr einengt, bereits kapituliert haben, und es gibt die Pragmatiker, die für sich das Beste daraus machen. An eine Veränderung glaubt so recht keiner mehr, denn das würde bedeuten, die politische Entscheidung, den Sozialstatus von Theatermachern ohne Rücksicht auf die spezifischen Produktionsbedingungen von Kunst dem Sozialstatus von öffentlichen Angestellten gleichzustellen, auch politisch zu revidieren. Sind aber aus diesem System - bis zu acht nicht aufeinander abgestimmte Tarifverträge an einem Haus - »progressive Elemente« herauszufiltern? Ich kann mir das schwer vorstellen. Und wie steht es mit den »progressiven Elementen« aus unserem Theater-System? Dem RKV? Den unbefristeten Verträgen? Der trügerischen »sozialen Sicherheit«? (Wir hatten das dichteste Theaternetz, aber die jämmerlichsten Gagen.)
Gert Jurgons versuchte darauf eine Antwort zu geben: daß es weniger darauf ankomme, Strukturen zu bewahren als darauf, daß nicht die Substanz des DDR-Theaters kaputtgehe. Die Kraft des DDR-Theaters - seiner besten Teile jedenfalls - lag doch nicht in seiner Struktur, sondern kam aus dem Widerstand gegen seine Strukturen. Sollen wir also Strukturen einbringen, fragt Jurgons, die wir mehr oder weniger erfolgreich unter dem Diktat einer zentralistischen Kulturpolitik unterlaufen haben? Die »progressiven Elemente«, die wir einzubringen haben, das sind unsere Haltungen, unsere Erfahrungen, unsere Widerstandskraft unsere Resistenz gegenüber politischer Bevormundung. Und die werden wir wieder verdammt nötig haben.
Gemeinhin sitzt einem das Hemd näher als der Rock, steht der Kampf um die blanke Existenz unserer Theater, in der konkreten Auseinandersetzung mit den Kommunen, den Ländern, dem Senat von Berlin im Vordergrund. Der Streit über Sinn oder Unsinn von gewerkschaftlich garantierten Ruhepausen für Chorsänger verblaßt hinter der Sorge, ob die Theater die Gagen ihrer Chorsänger noch bezahlen können. Daß dieser Kampf ohne strategische Überlegungen zu strukturellen Fragen nicht geführt werden kann, ist wohl jedem Einsichtigen klar es bedeutet grundsätzliches Festhalten am Regiebetrieb, am Drei-Spartentheater, es bedeutet die Entwicklung territorialer Konzepte, die Rationalisierung - als Teil struktureller Veränderungen, nicht als ihre Folge - mit sich bringen kann, aber der Gefahr des Kahlschlags begegnet. Aus jahrzehntelanger Erfahrung mit kulturellen Prozessen in der »sozialen Marktwirtschaft« warnten West-Kollegen dringend, den Rechtsträgern die Bestimmung ihres künftigen Status zu überlassen, sich einfach die Rechtsnormen und Tarifsysteme aus den alten Ländern überstülpen zu lassen. Statt selber aktiv zu werden, eigene Vorstellungen zu entwickeln.
Nur am Rande (Jedenfalls dieser Tagung) kamen Fragen der »Bündnispolitik« zwischen Theatern und Rechtsträgern zur Sprache. Daß sie wichtig werden, zeigen erste (meist negative) Beispiele. Daß kommunale Kulturdezernenten vom Theater nichts verstünden, ist eine alte Klage, auch »drüben«. Der scheidende Mannheimer Generalintendant Arnold Petersen meinte, man müsse sie in die Kantinen holen, sie geduldig sachkundig machen, man müsse sie »streicheln«, bevor man sie (wenn nötig) schlage.
Ich verstehe, daß Theaterleuten »hüben« solches schwerfällt wenn sie feststellen müssen, daß alte und neue Kulturbürokratie die fachliche Inkompetenz eint, nur die Farbe der Parteibücher sie unterscheidet. Schlimmer ist wenn in Folge mangelnden Sachverstands und politischer Borniertheit dritt- und viertklassigem West-Import Tür und Tor geöffnet werden anstatt integren Fachleuten aus dem eigenen Territorium Vertrauen zu schenken bzw. eine vertrauensvolle Zusammenarbeit mit ihnen anzustreben. Auch darüber wird noch am Einzelbeispiel zu reden sein.
In summa: Strukturfragen drücken uns in den FNL zur Zeit weniger als Existenzfragen. Aber darüber darf natürlich die Perspektive eines gesamtdeutschen Theaters nicht aus den Augen verloren werden, wir müssen schon gemeinsam in die Zukunft denken und an ihr arbeiten. In dem Sinne ist auch unsere Zeitschrift für künftige Strukturdebatten offen.
Martin Linzer
Artikel | Seite |
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Artikel | Seite |
Entrée | Seite 1 |
Und neues Leben blüht aus den Strukturen?von Martin Linzer | |
Autoren | Seite 2 |
Impressum | Seite 3 |
Inszenierung | |
Das Ende des großen PlansZu einer Ibsen-Inszenierung Frank Castorfsvon Friedrich Dieckmann | Seite 4 |
Ungelebte Wünsche»John Gabriel Borkmann« von Henrik Ibsen - Deutsches Theater Berlin / Kammerspielevon Gundula Weimann | Seite 5 |
Gespräch | Seite 9 |
Es ist so gut, wie es gekommen istGespräch mit Gert Jurgonsvon Ingeborg Pietzsch und Gert Jurgons | |
Uraufführungen | Seite 12 |
Sie sind unter uns ...Zur Uraufführung von Georg Seidels »Villa Jugend« am Berliner Ensemblevon Martin Linzer | |
Schauspiel | |
Kir normal oder Dienst am Kunden?Berlin / Deutsches Th eater: »Der Diener zweier Herren« von Carlo Goldonivon Jochen Gleiß | Seite 14 |
Märchen im MüllVolksbühne Berlin »Rotkäppchen« von Jewgenij Schwarzvon Anke Böhme | Seite 14 |
Ein Wintermärchen Deutschland?Schaubühne am Lehniner Platz Berlin: »Das Wintermärchen« von William Shakespearevon Martin Linzer | Seite 15 |
AussagenVolksbühne Berlin / 3. Stock: »Die Englische Geliebte« von Marguerite Durasvon Jochen Gleiß | Seite 15 |
Figuren ohne GegenwartSchauspiel Köln: »Stella« von Goethe und »Das Ganze ein Stück« von Friederike Rothvon Volker Trauth | Seite 16 |
Ausgestopfter UnfugUraufführung im Prinzregententheater München: »Apoll von Nichts oder Exzellenzen ausstopfen - ein Unfug« von Frltz von Herzmanovsky-Orlandovon Hartmut Krug | Seite 17 |
Eine Kassandra aus KrätzeGripstheater Berlin: »Himmel Erde Luft und Meer« von Volker Ludwigvon Ingeborg Pietzsch | Seite 18 |
Doppelt exotischNürnberg / Schauspielhaus: »Lila« von Kerstin Spechtvon Hartmut Krug | Seite 18 |
Theater mit Tücken»Othello« von Shakespeare in den Freien Kammerspielen Magdeburgvon Ingeborg Pietzsch | Seite 19 |
Vergeudetes Leben?Theater Junge Garde Halle: »Meine Kinder! Mein Afrika I« von Athol Fugardvon Ingeborg Pietzsch | Seite 19 |
Kein Happy EndMünchen, Bayerisches Staatsschauspiel: »Die Schule der Frauen« von Molièrevon Volker Trauth | Seite 20 |
NemesisTeatro Nuovo in Mailand: »Seid still! Wir stürzen!« von Dario Fovon Della Couling | Seite 20 |
Kulturpolitik | Seite 22 |
Kulturelle Substanz bewahrenGespräch mit Dr. Rolf Lettmann, Berater der Thüringer Landesregierungvon Volker Trauth und Rolf Lettmann | |
Kommentar | Seite 24 |
»Nun, da uns stürzend die Zeit überrennt«Nachtrag zum Januarheft und Korrektur eines Irrtumsvon Manfred Weber | |
Stück | Seite 24 |
Der SchwanendreherAus»MauerStücke« von Manfred Karge (Endfassung)von Manfred Karge | |
Ballett | Seite 26 |
Ungarische TänzeBallettpremieren in Györ und Budapestvon Volkmar Draeger | |
Tanztheater | |
Katharina von nebenanDeutsche Staatsoper Berlin: »Der Widerspenstigen Zähmung « von John Crankovon Dietmar Fritzsche | Seite 31 |
Menschliche Dimensionen im BallettsaalDeutsche Oper Berlin: »Ring um den Ring« von Maurice Béjart (nach Richard Wagner)von Dietmar Fritzsche | Seite 31 |
Scheiternder DandyDas Hamburger Ballett: »Onegin« von John Crankovon Dietmar Fritzsche | Seite 32 |
Bewegung im LichtDance Berlin: Junges Ensemble ertanzt sich Beachtungvon Ralf Stabel | Seite 32 |
Rälselhaftes Schweigenvon Ralf Stabel | Seite 33 |
Vernichtender SexualterrorBremer Theater: »König Lear«, Choreographisches Thea ter von Johann Kresnik (nach Shakespeare)von Dietmar Fritzsche | Seite 33 |
Tanz entsteht aus TanzenTheater der Stadt Heidelberg: »Heart's Reason« von Liz King (Ballett-Gastspiel in Leipzig)von Ann-Elisabeth Wolff | Seite 34 |
Mozart tanztKammerballett Werner Stiefel (Alte Börse Leipzig): »In deiner Umarmung auszuruhen ... «, Kammertanzabend von Ann-Elisabeth Wolff / Werner Stiefelvon Dietmar Fritzsche | Seite 35 |
Theaterreport | Seite 36 |
Theater unterm Dach»Zweier deutscher Staaten«von Martin Morgner | |
Gespräch | Seite 38 |
»Wir haben einfach gesammelt«Gespräch mit der langjährigen Leiterin des »Theaters unterm Dach« Liane Düsterhöftvon Martin Morgner und Liane Düsterhöft | |
Oper | Seite 43 |
Als schaute eine höhere Macht zuStädtische Bühnen Nürnberg: »Cosi fan tutte«von Nora Eckert | |
Chemnitz »Cosi fan tutte«von Uwe Hübner | |
Inszenierungen | Seite 44 |
Mozart-Inszenierungen | |
Komponisten zu Mozart | Seite 45 |
(II)Im Punkt der »schönen Seelenruhe«von Jörg Herchet und Jörg Milbradt | |
Oper | |
Die Kluft zwischen Kopf und HerzÜber Hans Neuenfels als Opernregisseurvon Nora Eckert | Seite 49 |
Späte EhrenrettungBühnen der Stadt Bielefeld: »Yerma« von Heitor Villa-Lobosvon Nora Eckert | Seite 53 |
Fehlbare MenschenTheater des Westens Berli n: »Grand Hotel « von Davis, Wright, Forrest, Yestonvon Wolfgang Lange | Seite 54 |
Fühlbarer SubstanzverlustTheater der Freundschaft in Berlin: »La Cenerentola« von Gioacchino Rossinivon Klaus Thiel | Seite 54 |
Seestück in GoldrahmenBayerische Staatsoper München: »Der fliegende Holländer« von Richard Wagnervon Nora Eckert | Seite 55 |
Beton im WaldTheater der Hansestadt Stralsund: »Der Freischütz« von Carl Maria von Webervon Wolfgang Lange | Seite 56 |
Zwei große BegabungenDeutsches Nationaltheater Weimar: »Eugen Onegin« von Peter Tschaikowskivon Wolfgang Lange | Seite 57 |
Inszenierung | Seite 58 |
Vom Gold gefesselt»Die lustige Witwe« in Potsdam, Berlin und Hallevon Irene Tüngler | |
Werkstatt | Seite 61 |
Mauern abtragenAutorenwerkstatt am Bayerischen Staatsschauspielvon Volker Trauth | |
Autoren am Theater | Seite 63 |
Vorbei am Theater, so wie es istKlaus Völker über die Arbeiten einiger zeitgenössischer Autoren (1)von Klaus Völker | |
Uraufführungen | Seite 65 |
Weiße Flecken (5)»Horizonte« von Winterlich / Müller - 1969 an der Volksbühne Berlinvon Karl-Heinz Müller und Birgid Gysi | |
Magazin | |
Frankfurter Dramatikerpreise, szenisch / Ost-West-Begegnung / Theater in Ungarnvon Judith Szántó | Seite 71 |
Rechtsschutzvon Volker Trauth | Seite 72 |
NachrufFür Gerhard Wolframvon Volker Braun | Seite 73 |
Gabriele Brandstetter / Brygida Maria Ochaim: »Loie Fuller«Tanz, Licht-Spiel, Art Nouveau Freiburg im Breisgau: Rombach, 1989, 232 Seiten, 21 Farbfot os, zahlr. s/w Illustr., Skizzenvon Marina Dafova | Seite 74 |
Fatzer MaterialMaske und Kothurn. Jg . 1989, Heft 1-4, Kart. 334 S., Böhlau Verlag Wien Köln 1990von Stephan Suschke | Seite 75 |
Siegfried Kienzle: »Schauspielführer der Gegenwart«Kröners Taschenausgabe. Band 369; 662 S., Alfred Kröner Verlag Stuttgart 1990von Joachim Giehm | Seite 76 |
Stück | |
»Enden die Fragen mit unseren Niederlagen?«Ein Weg durch die Aufstände der Nachkriegszeitvon Hartmut Krug | Seite 77 |
Friedrich Grimm. Ein WegEine Möglichkeit nach Schiller Schauspielvon Werner Buhss | Seite 78 |
Spielpläne | Seite 87 |
März 1991 | |
Premieren | Seite 90 |
März 1991Deutschland / Österreich / Schweiz | |
Besetzungen | Seite 91 |
Ur- und Erstaufführungen / Schauspiel / Musiktheater / Tanztheater |
Anke Böhme
Volker Braun
Werner Buhss
Della Couling
Marina Dafova
Friedrich Dieckmann
Volkmar Draeger
Liane Düsterhöft
Nora Eckert
Dietmar Fritzsche
Joachim Giehm
Jochen Gleiß
Birgid Gysi
Jörg Herchet
Uwe Hübner
Gert Jurgons
Manfred Karge
Hartmut Krug
Wolfgang Lange
Rolf Lettmann
Martin Linzer
Jörg Milbradt
Martin Morgner
Karl-Heinz Müller
Ingeborg Pietzsch
Ralf Stabel
Stephan Suschke
Judith Szántó
Klaus Thiel
Volker Trauth
Irene Tüngler
Klaus Völker
Manfred Weber
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