Schreckschußtherapie? Heiner Müller hat wieder einmal für Aufregung gesorgt. Mit einem Halbsatz, den eine auf Verknappung von Aussagen gedrillte Agentur aus einem ganzen Absatz gefiltert hat, und der in ungefähr besagte: die Theater in der ehemaligen DDR gehörten allesamt geschlossen. Wegen ihrer erwiesenen Niveaulosigkeit, Folge der deutschen Einheit. Das deutsche Feuilleton hatte für einige Tage frisches Futter, einige Intendanten schlaflose Nächte, besorgte Arbeitnehmervertreter Gelegenheit, wieder einmal unerträgliche Arroganz unserer Intellektuellen zu beklagen.
Nun hat Heiner Müller das inzwischen klargestellt, und man hätte, nebenbei gesagt, auch vorher wissen können, was er eigentlich gemeint hat (siehe »Berliner Zeitung«, 18./19. Mai 1991). Heiner Müller äußert sich nicht das erstemal zu diesem Thema, und wenn er vor Jahren schon mal sagte (inzwischen vergessen), einige Theater bei uns gehörten einfach zugeschissen, so war auch das wohl nicht wörtlich gemeint. Also warum die Aufregung? Ich glaube, weil man weiß, daß er recht hat, es aber nicht schicklich scheint, es offen zu sagen. Aus taktischen Gründen? Weil man Geldverteilern keine Handhabe geben will zur Kürzung eh knapp bemessener Kulturetats? Oder einfach aus alteingesessener Bequemlichkeit und Denkfaulheit, aus verinnerlichter »organisierter Verantwortungslosigkeit« (Bahro)?
Müller erinnert uns daran, daß bereits Heinar Kipphardt, in den 50er Jahren Langhoffs Chefdramaturg am Deutschen Theater, einen Vorstoß gemacht habe, das traditionelle Stadttheatersystem zu reformieren. Tatsächlich gab es die bekannten Theaterschließungen von 1962 (von Wismar bis Burgstädt). Ob es in jedem einzelnen Fall sinnvoll war, sei dahingestellt, aber das DDR-Theater konnte damit leben. Da wir immer noch das dichteste Theaternetz in Europa hatten, hörten auch später die Diskussionen um strukturelle Veränderungen nicht auf, wurden aber nie unter dem Gesichtspunkt geführt, wie Geld eingespart, sondern wie die künstlerische Effektivität erhöht werden kann. Es ging dabei auch nie um die Schließung von Theatern, also um die Aufgabe von Standorten, sondern um Profilierung, Konzentration der Kräfte, Zusammenlegung von Ensembles, um territoriale Partnerschaften undsoweiter. Alles eigentlich alte Hüte. Aber es blieb bei der Diskussion, bei halbherzigen Papieren (Perspektivplankonzeption). Seit Mitte der 80er Jahre (Beginn der Politik der Perestroika in der Sowjetunion) lähmte sowieso die Furcht vor jeglicher Veränderung das gesellschaftliche Leben.
Auch heute kann es selbstverständlich nicht um die Schließung von Theatern, um die Aufgabe von Standorten, und überhaupt nicht um die Vernichtung von Arbeitsplätzen gehen, nicht um sozialpolitische, sondern um kulturpolitische Erwägungen, und um prognostisches Denken. Theater als kulturelle Zentren bestimmen die Lebensqualität einer Stadt, einer Region mit, seine Attraktivität, seine Anziehungskraft auf industrielle Investoren. All das weiß man heute längst. Aber jeder Insider weiß auch, daß tatsächlich nicht jede Kleinstadt in den Ballungszentren Sachsens und Sachsen-Anhalts (in Mecklenburg-Vorpommern sieht's schon wieder anders aus) ein Dreispartentheater braucht, wenn in zwanzig oder dreißig Kilometer Entfernung schon das nächste oder eine Großstadt mit einer großen Oper in nahverkehrsmäßig erreichbarer Nähe liegt. Warum personal- oder kostenaufwendige Strukturen erhalten, deren künstlerische Leistungsfähigkeit objektiv begrenzt sein muß? Wäre es etwa nicht sinnvoller, Kindertheaterabteilungen einzurichten - da gibt es interessante Modelle zum Beispiel in Baden-Württemberg, die Häuser Freien Gruppen zu öffnen, Treffpunkte zu schaffen für Puppenspieler, bildende Künstler, Performance-Artisten, Jazzmusiker? All das gibt es auch schon, ist nicht neu, und bewährt sich auch.
Ich betone es noch einmal: es geht mir überhaupt nicht darum, auch nur eine einzige harte Mark einzusparen, aber es könnte so manche harte Mark zusätzlich erwirtschaftet werden (die den Theatern dann auch für eigene Investitionen im künstlerischen Bereich zugute kommen müßte). Eine Erhöhung des künstlerischen Niveaus wäre das einzige Kriterium. Ist die Zeit noch nicht reif für effektive strukturelle Veränderungen, oder ist alles schon wieder viel zu spät? Schon wieder festgefahren mit oder ohne Westimporte auf Intendantenthrone? Ich glaube, die Chancen für Veränderungen wachsen, in dem Maße, wie Theaterleitungen sich stabilisieren, auch bewährte, unbelastete »Leitungskader« aus der alten DDR nachrücken, wieder an Einfluß gewinnen.
Was wir verändern wollen in Richtung effektiverer Strukturen, müssen wir freilich selber besorgen. Fachleute, die die Szene kennen, in ihr großgeworden sind, die die potentiellen Kräfte in den einzelnen Ensembles, in den einzelnen Häusern einschätzen können; die ihr Publikum kennen, die Publikumserwartungen und -bedürfnisse; ein vertrauenvolles Verhältnis aufbauen können zu den Politikern in den Kommunen, den Ländern (die bessere Kenntnis der Geheimnisse westdeutscher Kameralistik nützt da gar nichts). Auch das ist keine neue Erkenntnis. Prof. August Everding, der nun gesamtdeutsche Bühnengott, hat es nach seiner Rundreise durch einige Theater der FNL ebenfalls wiederholt betont: die Initiative muß von den Theaterleuten ausgehen, nicht von den Politikern. Wir müssen in der Offensive sein. Ich frage also, nachdem wir das doch alle wissen, und es uns zum wiederholten Male gegenseitig beteuert haben: Wer macht den Anfang, wer ergreift die Initiative, wer macht den ersten Vorschlag (und
ohne Angst vor dem Verlust des eigenen Sessels)?
Oder braucht es wieder einen Schreckschuß?
Martin Linzer
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Entrée | Seite 1 |
Schreckschußtherapievon Martin Linzer | |
Autoren | Seite 2 |
Impressum | Seite 3 |
Berlin | Seite 4 |
Es muß ja nicht immer so bleiben...Nach dem 28. Theatertreffen Berlinvon Martin Linzer | |
Hamburg | Seite 7 |
Gegenwartstheater?Aufführungen und Probleme des Deutschen Schauspielhauses Hamburgvon Hartmut Krug | |
Rhein und Ruhr | Seite 12 |
Theater zwischen Rhein und RuhrEindrücke und Notizen im größten Ballungsgebietvon Jochanaan Christoph Trilse-Finckelstein | |
Schauspiel | |
Grenzfälle von TheaterFreie Volksbühne: »Die Perser« von Aischylos - Schaubühne: »Antigone« von Sophokles / Brechtvon Dieter Kranz | Seite 16 |
Widerstand gegen VerschwendungGespräch mit Jean-Marie Straub und Daniele Huilletvon Jean-Marie Straub und Daniele Huillet | Seite 17 |
Die ungleichen BrüderBerner Gastspiel in Leipzig: »Hunds Besuch« von Martin Gelzervon Michael Hametner | Seite 19 |
Judith. Besonderes Merkmal: Frau.Zürich / Schauspielhaus: »Judith« von Hebbelvon Carlo Bernasconi | Seite 19 |
Altes Märchen, aus dem Spiritus befreit: Statt einer Theaterkritik - Brief an den Bundesrat der Schweizerischen EidgenossenschaftTheater Basel: »Wilhelm Tell« nach Schillervon Carlo Bernasconi | Seite 20 |
Wenn die Feindbilder ihren Sinn verlierenTheater Rote Grütze Berlin »Robinson und Crusoe« von Nino d' lntrona und Giacomo Ravicchiovon Anke Böhme | Seite 21 |
Faust im ZirkusBühnen der Stadt Magdeburg: »Faust - Der Tragödie erster Teil« von Goethevon Gundula Weimann | Seite 21 |
HalbfabrikateDeutsches Theater / Kammerspiele: »Peer Gynt« von Ibsen / »Die Eroberung des Südpols« von Ka rgevon Martin Linzer | Seite 22 |
Ein Bruder HölderlinsLandesbühne Esslingen: »Waiblingers Augen« von Härtling / Hatryvon Volker Trauth | Seite 24 |
Ein GegenwartsstückNeustrelitz: »Der Revisor « von Gogolvon Volker Trauth | Seite 25 |
Gespräch | |
Die Dauer des WechselsIm Gespräch mit dem Intendanten des Dresdner Staatsschauspiels Dieter Görnevon Dieter Görne und Ingeborg Pietzsch | Seite 26 |
Mobilität ist nötigGespräch mit Prof. Hans-Joachim Meyer, Minister für Wissenschaft und Kultur des Freistaats Sachsenvon Volker Trauth und Hans-Joachim Meyer | Seite 26 |
Hohe Qualität zugunsten des PublikumsGespräch mit Christoph Albrecht, Intendant der Semperoper Dresdenvon Dietmar Fritzsche und Christoph Albrecht | Seite 29 |
Porträt | Seite 32 |
Oper gehört zum LebenMarilyn Schmiegevon Ingrid Schubert | |
Musiktheater | Seite 36 |
Das Haus an der EuropastraßeEin Gespräch in Greifswald mit Petter Wittig und Ekkehard Klemmvon Wolfgang Lange, Ekkehard Klemm und Peter Wittig | |
Oper | Seite 41 |
»Carmen« entopertHarry Kupfer inszeniert eine »Version« von Bizets Meisterwerkvon Dieter Kranz | |
Musical | Seite 43 |
Endlich Tewje überallMagdeburg: Aufbruch unterm Todesengelvon Friedemann Krusche | |
Oper | Seite 44 |
Endlich Tewje überallLeipzig: Dirigent als Physiognomie-Souffleurvon Dagmar Mammitzsch | |
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Im SchwimmbadNeue Bühne Senftenberg: »Mambo Mortale« von Rainer Lewandowsk (Text) / Wolfgang Stute und Konrad Haas (Musik)von Wolfgang Lange | Seite 46 |
Versailles in RathenLandesbühnen Sachsen (Radebeul): »Fanfan la Tulipe« von Klaus Eidam / Thomas Bürkholzvon Wolfgang Lange | Seite 46 |
Verlöschende FunkenMetropol-Theater Berlin: »Hallo, Dolly!« von Stewart / Hermanvon Wolfgang Lange | Seite 47 |
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Ohne KirschblütenorgienDeutsche Staatsoper Berlin: »Madame Butterfly« von Puccinivon Klaus Thiel | Seite 48 |
Vom Licht der WahrheitThéâtre du Châtelet: »Ariane et Barbe-Bleue« von Paul Dukasvon Nora Eckert | Seite 48 |
Wie zwei aufgespießte SchmetterlingeBühnen der Landeshauptstadt Kiel: »Tristan und Isolde« von Wagnervon Rolf Fath | Seite 50 |
Selbstverzicht auf eigene DimensionOpernhaus Leipzig : »Elegie« von H. W. Henzevon Frank Kämpfer | Seite 51 |
Freie Gruppen | |
Kreuzberg und sein Forumvon Hannelore Fischer | Seite 52 |
Berlin - Freie Szene wächst zusammen (wie es sich gehört?)Zwei Premieren und eine Wiederaufnahmevon Martin Morgner | Seite 55 |
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Vom Kampf der GeschlechterStuttgarter Ballett: Van Manen-Abendvon Volkmar Draeger | Seite 58 |
Jugendgemäße RezeptionDeutsche Oper Berlin: »Giselle« von Schaufuss / Adamvon Volkmar Draeger | Seite 59 |
Skurrile Pflanze im Garten TerpsichoresDance Berlin (im Hebbel-Theater): »Plümaktus« von Joseph Tmim / Klaus Staffavon Ralf Stabel | Seite 59 |
GruselshowOper der Stadt Köln / Tanz-Forum (im Schauspielhaus): »Graf Dracula« von Jochen Ulrich / Samuelina Tahijavon Dietmar Fritzsche | Seite 60 |
ComebackBerlin / Theater des Ostens: »Stunde des Tanzes»von Ralf Stabel | Seite 61 |
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Mandarin, die Widerspenstige, Coppelia u. a. ...Ballettabende in Dessau, Greifswald, Eisenach, Halberstadt und Geravon Volkmar Draeger | |
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Ur- und Erstaufführungen / Schauspiel / Musiktheater |
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