Die demokratische Welt ist faul bis ins Mark In welcher Welt leben wir eigentlich? Jahrelang hat man uns Westbewohnern erzählt, die unsrige sei vor allem unübersichtlich, aber demokratisch. Jetzt darf die West-Welt mit naivem Staunen einmal mehr entdecken, dass auch unübersichtliche Welten harte Fakten produzieren: Befreier foltern Befreite; Gesetzeshüter brechen Recht; und Erlösungsschlachten im Namen des Guten, Schönen, Wahren werden zu Überrumpelungsfeldzügen, die notfalls die Wahrheit ihrer Überzeugungen zu erzwingen wissen. Erschreckend daran ist nicht allein, was Menschen im guten Glauben an den Sieg der Demokratie Menschen anzutun vermögen, furchtbar nicht nur das viele Leid und sinnlose Sterben, die dreiste Verlogenheit der Verantwortlichen, die Arroganz der Besserwisserei - erschreckend ist auch, dass das alles nicht neu ist, dass noch immer die Mechanismen funktionieren, die schon so lange ihren furchtbaren Dienst verrichten. Die ach so demokratische Welt ist faul bis ins Mark. Sehen wir noch oder sehen wir schon, wie hilflos selbstberuhigend die Rufe nach immer neuen Untersuchungsausschüssen und den Werten der westlichen Welt sind? Ahnen wir überhaupt, wie tief wir in unsre Lebenslügen verstrickt sind? Josef Bierbichler schreibt in seinem Essay für TdZ, dass wir wieder ganz klein anfangen müssen, bei der "Alphabetisierungsarbeit in Demokratie". Denn, so Bierbichler, "es sind Angriffe auf die Ausgleichsmechanismen der Demokratie, die zur Zeit geübt werden." Man könnte auch sagen: Es geht ums Überleben, auch wenn wir die Drastik des Geschehens erst im Nachhinein begreifen können. Vorausgesetzt, es gibt ein Nachhinein.
Auch beim Thema Kritik ist Alphabetisierungsarbeit angebracht. Obwohl in Anbetracht der Welt- und Gemengelage kaum etwas so überflüssig, nebensächlich und belanglos erscheint wie das theaterkritische Geschäft. Könnte man meinen. Und überhaupt: Haben wir die Debatten über Kritik und Kriterien, Sinn und Unsinn der Kritik nicht spätestens in den 70ern erfolgreich abgeschlossen? Warum also noch einmal danach fragen, worauf uns die Antworten schnell und glatt von den Lippen gehen: Es gibt keine feststehenden Kriterien für eine Kritik, es gibt keine Übersicht mehr, es gibt keine Objektivität..., aber es gibt immer noch die Kritik. Und wenn sie ihren sicheren Grund verloren hat, sind alle sicheren, einfachen Antworten nicht mehr möglich. Auch die Antworten nicht, die sich auf den Verlust von Kriterien hinausreden. Es ist nicht selbstverständlich, was selbstverständlich erscheint. Deshalb hat TdZ in einem Essay danach gesucht, wo Kritik ansetzen und wo sie hinführen könnte und hat daneben RegisseurInnen, SchauspielerInnen und KritikerInnen nach ihren Kriterien für und Erwartungen an die Kritik befragt. So könnte man eine Alphabetisierungsarbeit in Sachen Theaterkritik verstehen.
Dabei sind es längst nicht mehr nur Theaterkritiken, die Theaterkritiker schreiben. In Zukunft wird sich als vielleicht meistvertretene Textsorte der Nachrufetablieren. Am Ende dieser Saison geben das TAT in Frankfurt/M. und das TiF in Dresden ihren Spielbetrieb auf, zwei wirkungsmächtige Bühnen, die es über Jahre hinweg verstanden, dem Theater neue Formen, Themen und Handschriften zu geben. Zwei Nachrufe blicken aufdie Arbeit dieser Häuser zurück.
Dabei lässt es TdZ aber nicht bewenden: In Gesprächen suchen wir das Theater auch außerhalb der deutschen Landes- und Strukturgrenzen. Elizabeth LeCompte spricht über ihr Verhältnis zur Technik auf der Bühne und der Perfektion der Darsteller - und über "Poor Theatre. ASeries of Simulacra", ihrer neuen Arbeit mit der Wooster Group. Johan Simons, Kopf von ZT Hollandia, gibt Auskunft über seine Begriffe von Theater, Schönheit und Zuschauerfantasie. Und Johannes OdenthaI, Bereichsleiter Musik/Tanz/Theater im Berliner Haus der Kulturen der Welt, klärt über Hintergründe und Absichten des Festivals IN TRANSIT auf, dessen thematische Bandbreite übrigens der soeben bei TdZ erschienene Band "The Third Body" dokumentiert.
Das und noch einiges mehr finden Sie im vorliegenden Heft. Es ist das letzte der laufenden Saison. Die nächste Ausgabe von TdZ erscheint zu Spielzeitbeginn am 1. September; den Sommer über lassen wir Sie dennoch nicht allein. Alle Abonnenten erhalten Anfang Juli das Arbeitsbuch "Thomas Brasch - Das blanke Wesen", alle Noch-nicht-Abonnenten können es bei dem Buchoder Zeitungshändler Ihres Vertrauens erwerben.
Die Redaktion
Carles Batlle
Josef Bierbichler
Bodo Blitz
Friedrich Dieckmann
Anja Dürrschmidt
Henning Fangauf
Roman Fryscheisen
Ruth Fühner
Constanze Klementz
Jens Knorr
Hartmut Krug
Martin Linzer
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