Beim Wort genommen Der Mord an dem niederländischen Filmemacher, Kolumnisten und Journalisten Theo van Gogh in Amsterdam hat europaweit für Bestürzung gesorgt und mit den anschließenden Brandanschlägen auf Moscheen eine Situation von Gewalt und gegenseitigem Misstrauen zwischen der muslimischen und der westlichen Welt geschaffen, die Europas Zukunft entscheidend verändern wird. Die europäischen Staaten waren seit der Verhängung der Fathwa über den britischen Schriftsteller Salman Rushdie nicht mehr so grundsätzlich dazu aufgefordert, über die Grenzen von Kunst und Meinungsfreiheit zu diskutieren. Die Niederlande sind aus einem multikulturellen Traum erwacht und müssen feststellen, dass die Realität im Jahre 2004 anders aussieht, als sie etwa von holländischen Sozialdemokraten bisher gerne gesehen wurde. Zwischenfälle zwischen Niederländern und Eingewanderten wurden bagatellisiert in dieser offenen Gesellschaft, die stets stolz auf ihre Kultur der Meinungsfreiheit war. Wir Europäer können in unserem Demokratieverständnis erschüttert und bestürzt sein und müssen gleichzeitig realisieren, dass in Europa heute eine maßgebliche gesellschaftliche Gruppe lebt, die nicht so gelassen mit künstlerischer Ironie und Zynismus umgeht und Schrift und Sprache beim Wort nimmt. Der holländische Theatermacher Johan Simons hat für TdZ den Mord an seinem Landsmann reflektiert: Er spricht über Gefühle von Bedrohung und Unsicherheit, über van Gogh als Provokateur, als Filmemacher und im Kontext Pim Fortuyns sowie über Integrationsprobleme in den Niederlanden.
Um Sprechen im Tanz und den Diskurs über die Sprache im Tanz geht es im Schwerpunkt dieses Heftes: Tanz hat den Ruf des wortlosen Akteurs unter den darstellenden Künsten. Nur ist er deshalb trotzdem nicht stumm, sondern hat neben dem Bewegungsapparat auch die Sprache für sich entdeckt. Ob er das überhaupt darf, wie weite Teile des kritischen Diskurses bezweifeln, und welche Rolle die Sprache im Tanz spielen kann, diskutieren Constanze Klementz und Franz Anton Cramer in einem Essay und einem Glossar; dieses nimmt die öffentliche Rede über Tanz in 15 Fällen beim Wort. Im Gespräch mit Heike Albrecht, die in diesem Jahr das 2 . WESTEND Festival in Leipzig kuratierte, und mit dem Tänzer und Choreografen Thomas Lehmen diskutiert TdZ über triftige und nichtige Behauptungen im tänzerischen Tagesgeschäft. Susanne Traub geht in ihrer Kolumne darauf ein, wie der Tanz sich im letzten Jahrhundert von vielem freigestrampelt hat und neue Beziehungen eingegangen ist. Das sei nichts Neues, schreibt die Frankfurter Dramaturgin und fragt daher im Umkehrschluss: "Wie tanzt der Text?" Die Tanztheoretikerin Gabriele Brandstetter schließlich plädiert in einem Tanzmanifest für eine größere Relevanz des Tanzes im öffentlichen Diskurs.
Thomas Lehmen beschreibt im Gespräch mit den beiden Tanzkritikern seine Arbeit als die Möglichkeit, immer etwas Neues zu sehen und Leuten das Verständnis dafür zu vermitteln, dass man Dinge immer wieder neu sehen kann und sogar muss: "Darin sehe ich die Funktion von Kunst überhaupt." Der Aspekt des Sehens schließlich ist der zentrale Punkt eines Essays des Dramaturgen und Schriftstellers Thomas Oberender, den TdZ anlässlich des 60. Geburtstages von Botho Strauß abdruckt. Der Text ist in einer längeren Version in dem Band "Unüberwindliche Nähe. Texte zu Botho Strauß" Ende November im Verlag Theater der Zeit erschienen, wo Texte von Zeitgenossen, Weggefährten und Freunden des Schriftstellers versammelt sind. TdZ gratuliert Botho Strauß zum 60. und stellt den Essay "Das Sehen sehen" zur Diskussion; Oberender liest darin die Ästhetik der Schriften von Botho Strauß parallel mit den Bildern des Malers Gerhard Richter. Beide Künstler, so Oberender, entwerfen in ihren Werken Formen der Unschärfe, der Flüchtigkeit, des provozierenden Augenblicks.
Gesa Ziemer, Philosophin am Institut für Theorie und Gestaltung an der Hochschule für Gestaltung und Kunst in Zürich, setzt im Gespräch mit dem Straßburger Philosophen Jean-Luc Nancy die mit dem Septemberheft begonnene Utopiereihe fort; bisher im Gespräch waren Henning Mankell, Tom Stoppard und Claudio Magris. Nancy denkt das Utopische als einen "Vorgang des Erschaffens" und findet im Theater dazu den privilegierten Ort der Utopie. Sie werden in diesem Heft ein weiteres Interview finden, das TdZ anlässlich der Verleihung des Konrad-Wolf-Preises der Berliner Akademie der Künste an Lars von Trier mit dem dänischen Filmemacher geführt hat; dieser gibt in der Regel keine Interviews und hat bisher oft zur Bedingung gemacht, mit dem jeweiligen Journalisten zunächst einmal gemeinsam in seinen Swimmingpool zu springen. Unsere dänische Korrespondentin Kristine Kabel musste nicht baden gehen und sprach stattdessen ausführlich mit Lars von Trier über dessen Arbeitsweise und Ästhetik, seinen neuen Film "Mandelay" und die Kunst, sich in Kontrollverlust zu üben, gesprochen. Anregende Lektüre wünscht
die Redaktion
Johannes Berger
Tristan Berger
Gabriele Brandstetter
Jörg Buddenberg
Otto Paul Burkhardt
Franz Anton Cramer
Anja Dürrschmidt
Hermann Götz
Matthias Horn
Morten Kansteiner
Constanze Klementz
Jens Knorr
Martin Linzer
Claudius Lünstedt
Thomas Oberender
Nina Peters
Dirk Pilz
Petra Rathmanner
Johan Simons
Katja Werner
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