Heft 06/2009
Prekäre Verhältnisse
Freie Szene: Kathrin Tiedemann im Gespräch
Broschur mit 104 Seiten, Format: 215 x 280 mm
ISSN 0040-5418
Wenn Theater der Zeit seine ästhetische Kompetenz auf die Vergabe von Noten und Rankings stellen würde, ginge der diesjährige Preis an Matthias Lilienthal. Der König der Offszene bezeugte unbestechliches Gespür, als er als Gegenprogramm zum Theatertreffen Elfriede Jelineks „Rechnitz (Der Würgeengel)", inszeniert von Jossi Wieler, ans Berliner HAU holte. Ein Stück, das der unendlichen Selbstbezüglichkeit vieler geadelter Inszenierungen - eine Ausnahme bildet Volker Löschs von den Berlinern gefeierte Vergegenwärtigung maratscher Revolutionsetüden - geradezu in die Fresse haut.
Doch findet das Wesentliche, im ästhetischen wie thematischen Sinne, überhaupt im Stadttheater statt? Kathrin Tiedemann, Leiterin des Forums Freies Theater in Düsseldorf, fragt sich im Gespräch mit Frank Raddatz, ob auf der Jagd nach Glanz und Quote nicht Entscheidendes auf der Strecke bleibt. Wie sonst ließe sich erklären, dass der Stadttheaterriese sich immer wieder beim Independent-Label bedient, wenn es um Erneuerung und neue Formen geht. Dass sich die Reichen bei den Armen bedienen, gehört zum Leitbild dieser Gesellschaft; das Augenmerk darauf zu lenken, dass die meisten Angehörigen der freien Szene weniger als fünf Euro Stundenlohn beziehen, gehört zu den Verdiensten des von Günter Jeschonnek geleiteten Fonds Darstellende Künste. Ebenso redlich sein Kampf um eine arbeitsrechtliche und versicherungstechnische Neubewertung von Engagements unter zwei Jahren, die zu dem Paradox führen, dass Schauspieler zwar in die Arbeitslosenversicherung einzahlen, aber nur Hartz IV ausgezahlt bekommen. Autor Benjamin Wihstutz spürt im Gespräch mit Jeschonnek der fatalen Kleinteiligkeit vieler Projekte und einer verfehlten Förderpolitik nach. Dass es im theaterverliebten Wien um die Förderung einer unabhängigen Spielkultur nicht weniger prekär bestellt ist, tröstet da nicht.
Um das Pekuniäre dreht sich auch Jelineks Endlostext „Die Kontrakte des Kaufmanns", der am Schauspiel Köln zur Uraufführung kam. Hier geht es nicht um 480 Euro Rente wie in der widerständigen Off-Szene, sondern wird der Tanz um den schönen Schein vom theatralen Einsatzkommando Stemann mit Tiermasken in den Boden der Tatsachen gestampft. Vasco Boenisch war dabei und freut sich bereits darauf, was als Nächstes aus Jelineks Textdrehwolf entspringt. Die Metaphorik des Tieres hat wie am Rhein auch an der Ruhr Konjunktur. Sebastian Kirsch buchstabiert die Spielzeit des Mülheimer Theaters, das gerade weil es kein Stadttheater ist, da kulturpolitische Akzente setzen kann, wo andere, von der Politik an die Leine genommen, nicht einmal knurren. Dabei kann nur beißen helfen, meint Gunnar Decker. Jedenfalls in Leipzig, wo er Sebastian Hartmann auffordert, doch endlich über seinen Vater Castorf herzufallen und ihn nach den Regeln des freudschen Einmaleins in Stücke zu schneiden. Das möchte Sebastian Kirsch etwas differenziert sehen und setzt seine Sicht der Dinge dem Kollegen Decker zur Seite. Die Wahrheit verteilt sich, wie immer, auf mehrere Seiten.
Weniger dialektisch geht es in Frank Raddatz' Essay über den Virus des Echten zu, der erstens darüber staunt, wie das Kalb der Authentizität sich zur gehörnten Muttergottheit des Echten auswachsen konnte, und zweitens grübelt, warum das anbetungswürdige Echte in der glitschigen Sprache des Journalismus und der Sozialreportage daherkommt. Als Kommissar Raddatz dem ontologischen Verdacht nachgeht, dass es sich bei dem Hype des sprachverarmten Realen um eine großangelegte Verschwörung gegen die Metapher handelt, stößt er auf den verlassenen Raum der Geschichte, den das Theater 1989 hinter sich ließ. Oder, wie Gunnar Decker in unserer Reihe „20 Jahre Mauerfall" schreibt, schon 1981 mit „Dantons Tod" in der Regie von Alexander Lang, als der Französischen Revolution der Stachel genommen wurde, das Urereignis der Freiheit zu sein? Wo ist sie aber geblieben, die Geschichte?
Im Streufeld von „Rechnitz" leuchtet sie kurz böse auf, oder in jenem Beschluss der bayerischen Politik, antifaschistische Gruppen als verfassungswidrig einzustufen. Was Josef Bierbichler zum Kochen bringt, erinnert angesichts von 20 000 rechtsradikalen Gewalttaten im letzten Jahr an altbekannte Rezepte der Weimarer Republik.
Die Redaktion
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Künstlerinsert | Seite 2 |
Der Bühnenbildner und Lichtdesigner Klaus Grünberg | |
Porträt | Seite 8 |
Captain Picards LippenstiftOrte von eigener Wirklichkeit - Bühnenbilder von Klaus Grünbergvon Dorte Lena Eilers | |
Essay | Seite 16 |
Der unverständliche Virus des EchtenÜber den Schaulauf des Echten auf der glatten Sprache der universellen Reportagevon Frank M. Raddatz | |
Freie Szene | |
"Wir haben eine Überproduktionskrise"Kathrin Tiedemann, Leiterin des FFT in Düsseldorf, über notwendige Reformen in der freien Szene im Gespräch mit Frank M. Raddatzvon Frank M. Raddatz und Kathrin Tiedemann | Seite 20 |
Avantgarde prekärer VerhältnisseDas Symposium "Report Darstellende Künste" in Berlinvon Benjamin Wihstutz | Seite 23 |
Eigene Systeme schaffenGünter Jeschonnek, Geschäftsführer des Fonds Darstellende Künste, über die Einflussmöglichkeiten der freien Szene im Gespräch mit Benjamin Wihstutzvon Benjamin Wihstutz und Günter Jeschonnek | Seite 25 |
Echte PionierarbeitDie Schauspielerin Caroline Redl über den Bundesverband für Film- und Fernsehschauspieler im Gespräch mit Lena Schneidervon Lena Schneider und Caroline Redl | Seite 26 |
Die permanente EvaluationWie die freie Szene in Wien mit der Theaterreform ringtvon Susanne Fernandes Silva | Seite 27 |
Debatte | Seite 28 |
Störende Eitelkeit / Notwendiger StörenfriedDie Krise am Centraltheater Leipzigvon Gunnar Decker und Sebastian Kirsch | |
TdZ gratuliert | Seite 32 |
Im Rätsel der ZeichenZur Verleihung des Hein-Heckroth-Bühnenbildpreises an Robert Wilsonvon Heiner Goebbels | |
20 Jahre Mauerfall | Seite 35 |
RevolutionsgroteskeZu Alexander Langs Inszenierung von "Dantons Tod" 1981 am DTvon Gunnar Decker | |
Aktuelle Inszenierung | Seite 38 |
Der schönen Scheine schöner ScheinElfriede Jelineks "Die Kontrakte des Kaufmann" am Schauspiel Kölnvon Vasco Boenisch | |
Hausporträt | |
Zwischen Weitwürfen und FehlschlägenDas Nationaltheater Mannheim zwischen Tradition und neuer Dramatikvon Ralf-Carl Langhals | Seite 40 |
Aufbau Süd-WestWie in Ansbach mithilfe des Ostens ein neues Theater entstanden istvon Sabine Wirth | Seite 42 |
Träumen vom Theater in DeutschlandDas Mülheimer Theater an der Ruhrvon Sebastian Kirsch | Seite 44 |
Auftritt | |
BerlinAm Deutschen Theater wird die Uraufführung von Roland Schimmelpfennigs "Idomeneus" in der Regie von Jürgen Gosch zur Liebeserklärung ans Lebenvon Gunnar Decker | Seite 50 |
SaarbrückenMit der Uraufführung der Barockoper "Il Tigrane" und "Fup" durchpflügt das Staatstheater die saarländische Schwerfälligkeitvon Anke Schaefer | Seite 51 |
MünsterAn den Städtischen Bühnen wird Goethes "Faus I und II" unter der Regie von Markus Kopf verpoppt und verrocktvon Christine Adam | Seite 52 |
OsnabrückDie Nachwuchsdramatiker Rebekka Kricheldorf und Dirk Laucke bleiben mit "Der Kopf des Biografen" und "zu jung zu alt zu deutsch" dem Theater Osnabrück als Uraufführungen treuvon Heiko Ostendorf | Seite 53 |
AachenMit seinem neuesten Stück "Abgang" erlebt der ehemalige Präsident der Tschechischen Republik, Václav Havel, einen öffentlichkeitswirksamen Auftrittvon Andreas Rehnolt | Seite 54 |
AthenTheodoros Terzopoulos zeigt am Attis Theater mit Heiner Müllers "Mauser" den Menschen im Zahnrad der Revolutionvon Georgios Sampatakakis | Seite 55 |
Lesarten | Seite 56 |
Aischylos "Die Orestie"Down the memory Janevon Stefan Winter | |
Kolumne | Seite 57 |
Geheimdienst und Wirtschaftskrisevon Josef Bierbichler | |
Stückinsert | |
58. St. Galler Autorentage12. bis 13. Juni 2009 Lokremise St. Gallen | Seite 58 |
"Der Streichholzpalast"von Dirk Dobbrow | Seite 59 |
"Silent Song"von Simone Kucher | Seite 75 |
"Hühner. Habichte."von Charlotte Roos | Seite 81 |
Magazin | |
Unser Frieden ist KriegDer Heidelberger Stückemarkt 09von Otto Paul Burkhardt | Seite 93 |
Künstler sind die besseren SeismografenAnja Dirks, seit 2008 künstlerische Leiterin des Festivals Theaterformen in Hannover und Braunschweig, über urbane Akteure - im Gespräch mit TdZvon Anja Dirks | Seite 94 |
Chaos in die Ordnung bringenDetlef Altenbeck, Intendant des Landestheaters Coburg und Gastgeber der diesjährigen Bayerischen Theatertage, über die künstlerische Vielfalt Bayerns - im Gespräch mit TdZvon Detlef Altenbeck | Seite 95 |
Radiovorschau | Seite 96 |
Hingehörtvon Gerwig Epkes | |
Linzers Eck | Seite 97 |
Change? Oder das Deutsche Theater wechselt die Farbe und sieht gelassen seiner Zukunft entgegenvon Martin Linzer | |
Aus den Korrespondentenbüros | Seite 98 |
Bremen: Musical sorgt für Millionendefizitvon Alexander Schnackenburg | |
Kommentar | Seite 98 |
etc.von Sebastian Kirsch | |
Aus den Korrespondentenbüros | Seite 98 |
Dresden: Gerangel um Stadtort für das Theater Junge Generationvon Michael Bartsch | |
Aufgelesen | Seite 99 |
Aufgelesenvon Sebastian Kirsch | |
Meldungen | Seite 99 |
Premierenkalender | Seite 100 |
Juni/Juli/August 2009 | |
Autoren | Seite 103 |
Impressum | Seite 103 |
Kommentar | Seite 104 |
Hau die Jury!von Gunnar Decker | |
Vorschau | Seite 104 |
Juli/August 2009 |
Christine Adam
Detlef Altenbeck
Michael Bartsch
Josef Bierbichler
Vasco Boenisch
Otto Paul Burkhardt
Gunnar Decker
Anja Dirks
Dirk Dobbrow
Dorte Lena Eilers
Gerwig Epkes
Susanne Fernandes Silva
Heiner Goebbels
Günter Jeschonnek
Sebastian Kirsch
Simone Kucher
Ralf-Carl Langhals
Martin Linzer
Heiko Ostendorf
Frank M. Raddatz
Caroline Redl
Andreas Rehnolt
Charlotte Roos
Georgios Sampatakakis
Anke Schaefer
Alexander Schnackenburg
Lena Schneider
Kathrin Tiedemann
Benjamin Wihstutz
Stefan Winter
Sabine Wirth
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