Heft 06/2010
Kommunen in Not
Theatermacher über die Strukturkrise
Broschur mit 80 Seiten, Format: 215 x 280 mm
ISSN 0040-5418
„Ich bin jeden Tag ein anderer!" Dieser Satz Werner Schroeters fiel einst in einem Gespräch mit Michel Foucault. Die beiden sprachen damals über den Unterschied zwischen Liebe und Leidenschaft sowie Schroeters Aversion gegen die Psychologie. Nun ist einer der wenigen wirklichen Abenteurer, den der deutsche Theaterbetrieb zu bieten hatte, zu jener Nachtfahrt aufgebrochen, die der von ihm geschätzte Novalis zum Postament romantischer Weltbetrachtung erhob. Gunnar Decker gedenkt des großen letzten Barockkünstlers in einem Nachruf.
In Momenten der Leidenschaften macht es „keinen Sinn mehr, wir selbst zu sein", ventiliert Foucault und eröffnet jene Bezüge zum Außersichsein, der Ekstase, auf denen die Metamorphosen des Theaters beruhen und die den antiken Strategen der Identität stets ein Dorn im Auge waren. Anstelle der Bereitschaft zum Wandel gewann das Substanzdenken in Europa die Oberhand. Substanz ist aber nichts anderes als der Geldwert, erkannten die Theoretiker der Moderne schon früh das Geheimnis aller Repräsentationen.
Wofür man den Theaterhelden Beifall zollt, macht einen bei Währungen schwindlig. Und nun löst sich nicht nur die Repräsentationsästhetik auf, auch der Euro wankt. Die Kommunen gehen in die Knie. Die Banken, vom Steuerzahler massiv unterstützt, strahlen angesichts saftiger Margen über beide Ohren. Eine verhexte Welt, wo der subventionierte Boden zusehends dünner wird.
Sebastian Kirsch spricht mit den Theaterleitern Holger Bergmann (Ring lokschuppen Mülheim), Ulrich Greb (Schlosstheater Moers) und Helmut Schäfer (Theater an der Ruhr) über die Folgen des kulturpolitischen Flächenbrandes im Ruhrgebiet, wo die Situation besonders bizarr erscheint, da die europäische Kulturhauptstadt Ruhr.2010 sich weiterhin weigert, zum geplanten Kulturabbau Stellung zu beziehen. Auf demselben Breitengrad etwas weiter östlich trifft Lena Schneider sich mit Ulrich Fischer, Intendant der Landesbühne Eisleben, und Dirk Löschner, Intendant am Theater der Altmark in Stendal. Mit beiden erörtert sie, warum sich in Sachsen-Anhalt das Publikum unter das Dach des Theaters drängt, um vor den Stürmen der Geschichte Schutz zu suchen.
Gunnar Decker komplettiert den Bericht zur Lage der Theaternation, in dem in einer öffentlichen Diskussion am Landestheater Neustrelitz Ralf-Peter Schulze, Intendant der Theater und Orchester GmbH Neubrandenburg/Neustrelitz, Annett Wöhlert, Oberspielleiterin am Haus, Ekkehardt Emig, Leiter der Berliner Schule für Schauspiel und Tobias Rausch, Regisseur der freien Gruppe lunatiks produktion zu klären versuchen, wie sich Kapitäne verhalten, denen das Wasser unterm Bug weg ebbt.
Wer nun mit Renate Klett hoffte, dass sich in Benin oder Nigeria, wo die monetäre Versorgungsdecke eh kurz gestrickt ist, performative Juwelen säckeweise schürfen lassen, wird sich eines Besseren belehrt sehen. Diamanten sind nur handverlesen zu haben, erfährt man in diesem Bericht über das Festival International de Théâtre in Cotonou, Benin, und das Black Heritage Festival in Lagos, Nigeria.
Im Gespräch mit Rebecca Horn folgt Frank Raddatz den Meridianen der Energie, die von der chinesischen Mystik über die griechische Antike zu einem Schamanen und Blutbewahrer aus Peru im trauten Wiesbaden fließen. Einen anderen sakralen Ort untersucht Kathrin Tiedemann in New York, wo die von der deutschen Theaterwissenschaft zum Maß alles Performativen gehypte Ikone des Authentischen nachdrückliche Begegnungen und Berührungen zulässt. Die Rede ist von der serbischen Künstlerin Marina Abramovic´, die mit ihrer Dauerperformance „The Artist Is Present" im Museum of Modern Art die Präsenzkultur um die Würden des Archivs erweitert.
In der letzten Ausgabe unserer Reihe „Schöne Aussicht" im Vorfeld des Festivals Theater der Welt 2010 in Essen und Mülheim, das am 30. Juni beginnen wird, erzählt die argentinische Regisseurin, Autorin und Schauspielerin Beatriz Catani von den Reizen und Geheimnissen einer von den Fluten begrabenen Stadt. Ruht das Vineta, das Heinrich Heine besingt, auf dem Grund der Ostsee, liegt der versunkene Badeort La Villa del Lago Epecuén etwa 500 Kilometer von der argentinischen Hauptstadt Buenos Aires entfernt in einem Salzsee. Da passt es gut, dass Christa Dietrich ihren Artikel über Alexander Kubelkas erfolgreiche Theaterlandnahme in Bregenz mit „Undine kommt auch" übertitelt. Auch das Wasserwesen Undine ist immer wieder ein anderes und scheitert erst, als es beschließt, tagtäglich dasselbe zu sein.
Die Redaktion
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Artikel | Seite |
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Künstlerinsert | Seite 2 |
Bühnenbildervon Rebecca Horn | |
Porträt | Seite 8 |
Ritual des BlutesDie bildende Künstlerin Rebecca Horn über Blutrache, bewegliche Malerei und ihre Wiesbadener „Elektra“-Inszenierung im Gesprächvon Frank M. Raddatz | |
Debatte | |
Eine Frage der StrukturNRW: Die Theaterleiter H. Bergmann (Ringlokschuppen Mülheim), U. Greb (Schlosstheater Moers) und H. Schäfer (Theater an der Ruhr Mülheim) über die Folgen des kulturpolitischen Flächenbrandesvon Sebastian Kirsch | Seite 12 |
Die Hüter des TischtuchsMecklenburg-Vorpommern: Wie weiter, Theater? Der Neustrelitzer Intendant R.-P. Schulze, seine Oberspielleiterin A. Wöhlert, der Theaterschulleiter E. Emig und der Regisseur T. Rauschvon Gunnar Decker | Seite 18 |
Es geht nur zusammenSachsen-Anhalt: Die Intendanten Ulrich Fischer (Landesbühne Eisleben) und Dirk Löschner (Theater der Altmark Stendal) über Theater in Zeiten des Bevölkerungsschwunds im Gesprächvon Lena Schneider | Seite 22 |
Essay | Seite 26 |
Inkorporation der LeereSchöne Aussicht (5) Eine Reise durch die Provinz Buenos Airesvon Beatriz Catani | |
TdZ entdeckt | |
Der SpartenspringerDer Regisseur Daniel Pfluger sucht nach neuen Formen und findet ein heutiges Lebensgefühlvon Friederike Felbeck | Seite 30 |
Dit blüjende LebenDie Schauspielerin Maria Kwiatkowsky lässt an der Berliner Volksbühne die Spieltemperatur steigenvon Gunnar Decker | Seite 31 |
Hausporträt | Seite 32 |
Undine kommt auchWie der neue Intendant des Vorarlberger Landestheaters Alexander Kubelka frischen Wind nach Bregenz bringtvon Christa Dietrich | |
Nachruf | Seite 34 |
Der SeiltänzerZum Tode des Regisseurs Werner Schroetervon Gunnar Decker | |
Auftritt | |
BerlinMit "Rungs! - Eine Raumbemerkung" betreibt Wanda Golonka Wandalismus im Panzerkreuzer Volksbühnevon Sebastian Kirsch | Seite 37 |
HeidelbergDer Stückemarkt nimmt mit Israel das unbekannteste bekannte Land der Welt unter die Lupevon Otto Paul Burkhardt | Seite 38 |
HamburgAuf Kampnagel vermitteln Nina Mattenklotz und Nino Hartischwili mit "Radio Universe" die Auswirkungen von Krieg auf Denken und Fühlenvon Klaus Witzeling | Seite 40 |
NeussKatka Schroth zeigt mit Sartres "Die schmutzigen Hände" Kommunismus als Treibhauspflanzevon Friederike Felbeck | Seite 41 |
KonstanzDie deutsche Erstaufführung von Neil LaButes "In einem finsteren Haus" in der Regie von Christoph Mehler bleibt als Beitrag zur aktuellen Missbrauchsdebatte eindimensionalvon Bodo Blitz | |
Auftritt | Seite 43 |
ChemnitzMit der Uraufführung von Henriette Dushes "Menschen bei der Arbeit" entdeckt Regisseurin Alexandra Wilke den Unterhaltungswert von Unterschichten-Theatervon Michael Bartsch | |
Lesarten | Seite 44 |
Havarie der Erkenntnisinstrumentevon Gunnar Decker | |
Kolumne | Seite 45 |
Europa in Notvon Etel Adnan | |
Autorengespräch | Seite 46 |
Jenseits üblicher AutomatismenDie Autorin Claudia Grehn im Gespräch mit Anna Opel | |
Stück | Seite 47 |
"Ernte"von Claudia Grehn | |
Magazin | |
Lokal agieren, global denkenDas Theater im Pumpenhaus in München wird 25 Jahre altvon Patrick Wildermann | Seite 56 |
The Artist Was PresentEin Besuch bei Marina Abramovič im MoMa in New Yorkvon Kathrin Tiedemann | Seite 58 |
Wie wird der Held zum Tyrannen?Das 10. Festival International de Théâtre in Cotonou und das Black Heritage Festival in Lagosvon Renate Klett | Seite 60 |
Wunder des HandelnsDie freie Produktionsstätte zeiraumexit in Mannheim feiert ihr zehnjähriges Jubiläumvon Ralf-Carl Langhals | Seite 62 |
Was ist das überhaupt, die Krise?Das internationale Theaternetzwerk IETM suchte in Berlin nach "Plan C"von Annika Erichsen | Seite 63 |
Protagonist der ErneuerungZum Tod Wolfgang Wagnersvon Friedrich Dieckmann | Seite 64 |
Bücher"Der Mann, der Shakespeare erfand: Edward de Vere, Earl of Oxford"von Holger Teschke | Seite 66 |
Bücher"Berlinische Dramaturgie. Gesprächsprotokolle der von Peter Hacks geleiteten Akademiearbeitsgruppen"von Martin Linzer | Seite 67 |
Radiovorschau | Seite 68 |
Linzers Eck | Seite 69 |
St.-Ulrich-Stift oder Hertha DT? Bitte mehr Kunst und weniger Gewerbe!Eine Abmahnung von Martin Linzervon Martin Linzer | |
Korrespondenten | Seite 70 |
Meldungen | Seite 71 |
Premierenkalender | Seite 72 |
Juni, Juli, August 2010 | |
Impressum | Seite 75 |
Kommentar | Seite 80 |
Im Ghetto oder gar nichtvon Sebastian Kirsch | |
Vorschau | Seite 80 |
Arbeitsbuch 2010 |
Etel Adnan
Michael Bartsch
Bodo Blitz
Otto Paul Burkhardt
Beatriz Catani
Gunnar Decker
Friedrich Dieckmann
Christa Dietrich
Annika Erichsen
Friederike Felbeck
Claudia Grehn
Rebecca Horn
Sebastian Kirsch
Renate Klett
Ralf-Carl Langhals
Martin Linzer
Frank M. Raddatz
Lena Schneider
Holger Teschke
Kathrin Tiedemann
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