Keine Tabus?
Christoph Schroth inszeniert Faust I und II am Schweriner Staatstheater 1979
von Guido Böhm
3.1 Einleitung
War Bennewitz’ 1975er Faust ein rückwärts gewandtes Spektakel, das Unsicherheiten in der Aufrechterhaltung überkommener, ästhetischer und politischer Faust-Ideale durchscheinen ließ, so macht Christoph Schroth vier Jahre später deutlich, dass ein Arbeitsstand in Sachen theatralischer Faust-Analyse in der DDR längst ohne derartige Beschränkungen untersucht und formuliert werden kann und dass eine sozialistische Faust-Aufführung durchaus den Zuschauer als ihren Partner statt als einen zu erziehenden Adressaten entdecken kann. Die Schweriner Inszenierung erscheint trotzdem weniger als Wendepunkt der DDR-Faust-Rezeption, demonstriert vielmehr in ihrer eindrucksvollen, szenischen Inkarnation letztlich die Konsequenz einer bereits stattgefundenen Verschiebung des Faust-Bildes, die nun in ihrer vollen Tragweite sichtbar und erlebbar wird. Schroth, der um die Realisierung seines Projekts bei der Partei „kämpfen musste“,952 hat diesen Faust exakt argumentativ vorbereitet und vor allem taktisch klug positioniert, wobei er gleichzeitig zur Anwendung bringt, was sich seit Jahren schon in Wissenschaft, Literatur und Theatern ankündigt.953,954 Das Aufstoßen einer Tür zu einem neuen Experimentierfeld mit Faust, die „Entdeckung“ faustischer ostdeutscher Identität als Herausforderung und Diskussion der eigenen Krisen und eine theatralische Dialektik im Sinne Brechts spielen die Hauptrollen in diesem zugleich kühnen wie kalkulierten Effekt.
3.2 Konzeption
Die Inszenierung bekennt sich im Programmheft zum Charakter der Dichtung als „Stück in Stücken“, will klare eigene Wege beschreiten und einen „Aneignungsprozess“ auf neue und eigene Weise vollziehen.955 Dabei geht es dem Regieteam darum, „die Dichtung FAUST in die künstlerische Sprache unserer Zeit zu übersetzen, damit ihre geistigen und emotionalen Wirkungen auf ein breiteres Publikum treffen.“956
Man verweist auf den Faust als Theaterstück und Volksfabel. Als ausdrücklich problematisch empfinden die Schweriner ein Resignieren und Sich-Einrichten in den gegebenen Umständen. Die Zufriedenheit der Bevölkerung hat Ende der 1970er Jahre in der DDR im Übrigen wieder abgenommen.957 Man fordert in Schwerin nun ein durchaus politisches Zurück zum alten „Vorwärts“, ein Weiterführen sozialistischer Wegsuche mit Faust.
Mephistos Predigten vom glühenden Leben, von der Zufriedenheit, von dem viehischen Wohlbehagen, das scheinbare Sesam-öffne-Dich für ein glückliches Dasein, ist immer der Anfang vom Ende. Denn das Voran, das Vorwärts hat aufgehört und die Kinder, die diese Lebenshaltung gebiert heißen Abstumpfung, Dekadenz, Übersättigung, Schlaffheit.958
Mit Lunatscharski959 wird hier wieder das unbedingte Streben der Titelfigur als wesentlich erkannt. Zwar entspricht diese Auslegung auf den ersten Blick voll und ganz der staatlichen Doktrin, die in der humanistischen Taufzeremonie der DDR schon 1949 verkündet worden war960, jedoch erweist sich ihr Akzent in diesem Falle als deutlich verlagert, denn es ist dies ein „Vorwärts“, das der Idee sozialistischer Utopie nicht mehr verpflichtet, ihr entwachsen ist und sich auf der Szene nicht auf machtpolitische, sondern die realen Bedürfnisse des einfachen Zuschauers einlässt. Weniger Sensation als vielmehr klarer und konsequenter Ausdruck eines Abstands zu den Traumbildern der Vergangenheit ist die überfällige Relativierung der Schlusspassage als einer nicht sozialistischen, sondern viel mehr bourgeoisen Vision.
Die Utopie, die er […] reflektierend entwickelt (‚mit freiem Volk auf freiem Grund‘), ist die idealisierte Gestalt bürgerlicher Freiheiten: Beseitigung feudaler Fesseln, freie Unternehmer (da ‚genügt ein Geist für tausend Hände‘), freie Arbeitskräfte, Freiheit des Besitzes und Freisetzung bis dahin unbekannter Produktivkräfte! […] Ein Ausweg wird nicht gezeigt.961
Das freie Volk bei Goethe sei noch lange nicht ein Volk des Sozialismus, sondern müsse zunächst „durch diese ‚teuflische‘ Lebenspraxis der Bourgeoisie, durch die tragische Schuldverstrickung des Faust hindurchschreiten – es gibt keinen anderen Weg für den geschichtlichen Fortschritt.“962
Eine endgültige und klare Absage an die jetzt naiv erscheinende Hymne eines Walter Ulbricht, der sich den freien Grund in die DDR hineinfantasierte. Zu diesem Rückzug passt auch eine Variation der lange gültigen lukácsschen/scholzschen These von Faust als „Menschheitsbefreiungsdrama“, die Rudolf Dau im Programmheft vornimmt. Dau fasst das Stück auf als „‚Modell‘ für den problematisch-widerspruchsvollen, zugleich aber ‚weiterweisenden‘ Beitrag der Klasse des Bürgertums zur Fortentwicklung der Menschheit (im geistig-kulturellen wie im materiellen Sinne), nicht aber als Modell für die Menschheitsgeschichte schlechthin.“963