Protagonisten

Musiktheatrale Archäologie

Die Gruppe Kommando Himmelfahrt steht für groß gedachtes, aber zugleich lustvoll verspieltes Musik- und Ideentheater

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Da schlotterten den Zeitgenossen die Knie: ein ungeheuerlicher Angriff auf die Krone der Schöpfung, was Julien Offray de La Mettrie 1748 im Skandalbuch „Der Mensch als Maschine“ behauptet hatte. Und genau darum ging’s: Wer oder was hat Angst, warum schlottern die Beine? Für den französischen Arzt und Frühaufklärer war die Sache klar: Die Seele ist nicht Herr im eigenen Haus, und die Menschen sind „nur Tiere und aufrecht kriechende Maschinen“. Ein rücksichtsloser Wahrheitssucher, der auf alle wissenschaftsethischen Grenzen pfiff. Vernunft, Geist und Freiheit: ab auf den Müllhaufen der Geschichte!

Foto: Julia Kneuse
Wo Fehlentwicklungen und Verworfenes verrückte Blüten treiben – In „Geisterbahn“ (hier mit Albrecht Hirche) leuchtet Kommando Himmelfahrt Grenzbereiche von politischen, wissenschaftlichen und künstlerischen Zukunftsentwürfen aus. Foto: Julia Kneuse

Und dann auch noch „Der Mensch als Pflanze“! Keine scharfe Trennung zwischen Flora und Fauna, die Natur: ein Ineinanderfließen. Ein Buch voll erotischer Anspielungen: die Frau – eine Blume, ihre Brust – eine Knospe, die pflanzliche Befruchtung – ein Abbild des Geschlechtsakts. Was für ein frivoles Denken, ein gefährlicher Irrweg! Aber dann starb der wollüstige Philosoph drei Jahre später ausgerechnet nach dem Verzehr einer üppigen Pastete: ab auf den Müllhaufen der Geschichte!

Und genau dort wird der Mensch wirklich zur Pflanze: Für das Künstlertrio Kommando Himmelfahrt ist der Ideenmüllhaufen ein Garten, in dem das Neue wächst, wo Fehlentwicklungen und Verworfenes verrückte Blüten treiben. Wie La Mettrie, der heute als Entdecker des Unbewussten lange vor Freud, als Evolutionstheoretiker lange vor Darwin, als Vordenker der Kybernetiker, als erster Posthumanist gilt.

Eine ganz eigene Form musiktheatraler Archäologie hat die aus dem Komponisten Jan Dvořák, dem Regisseur Thomas Fiedler und der Dramaturgin Julia Warnemünde bestehende Gruppe entwickelt. Gemeinsam mit einem sprießenden Netzwerk von Musikern, Sängern, Chören, Schauspielern, Bühnenbildnern, Fotografen und Videokünstlern leuchtet es Grenzbereiche von politischen, wissenschaftlichen und künstlerischen Zukunftsentwürfen aus, untersucht ihr Potenzial und projiziert es auf die Gegenwart. Mit belesener Inbrunst und zugleich lustvoll verspielt probieren die drei aus, wie man noch die voraussetzungsvollsten Ideen anschaulich auf die Bühne bringen kann.

Heraus kommt ein großformatiges Musik-, Klang- und Ideentheater, das für große Fragen komplexe Kombinationen von Bühnenformen findet: mal eine tosend-düstere Totenmesse mit heulenden Gitarren und klagenden Chören, mal eine perspektivisch zerklüftete Kantate, die man als ganzes Stück erst nach dem Theaterabend, an dem sie aufgenommen wurde, im Internet hören kann. Ein Theater, das erst dann richtig abhebt, wenn alle sorgfältig zusammengesetzten Bestandteile miteinander ein Eigenleben entwickeln: eine abenteuerliche Reise, ein Himmelfahrtskommando in Richtung positive Utopie.

Und nun hat das Kommando also eine „Geisterbahn“ als Denkmal für den Geist La Mettries geschaffen. Zuerst stand diese „posthumanistische Musiktheaterinstallation“ in Hamburg auf Kampnagel, Ende September wird sie in Dortmund und Mannheim aufgebaut. Der lebendige Mensch spukt in der begehbaren Installation (Bühne Eylin König, Medienkunst Carl-John Hoffmann) nur herum, darf Gast sein unter Gespenstern aus Vergangenheit und Zukunft. Die wahren Protagonisten sind menschengemachte Maschinen: ein unheimliches mechanisches Theater rund um den wohligen intellektuellen Schauer des Posthumanismus. Ein altes Cembalo steht da und spielt Musik Carl Philipp Emanuel Bachs. Aber die Tasten drückt wie von Geisterhand eine selbst gebastelte Apparatur. Das Philosophenschreckgespenst La Mettrie taucht als lebensgroße gestrickte Puppe auf, auf deren Tablet-Gesicht die Sängerin Aérea Negrot seine Tagebucheinträge als Chansons vorträgt, und versucht sich im Frankenstein-Horror: Die Pflanze Marie will er zum Leben erwecken und umsorgt sie lüstern mit Nährlösungen.

Heraus kommt man aus der opulent inszenierten Gedankenwelt mit mehr Fragen als Antworten. Denn was auch immer die Ideenarchäologen zusammenbasteln: Das ist kein verklausuliertes Diskurstheater, sondern überwältigendes, ansteckendes und anregendes Theater für alle und für alle Sinne. Ganz zu Recht haben sie für „Die Speisung der 5000“ gerade den Rolf-Mares-Preis der Hamburger Theater in der Kategorie „Herausragende Inszenierung/Aufführung“ bekommen, nun sind sie auch für den George-Tabori-Preis nominiert. //

Quelle: https://classic.theaterderzeit.de/2016/06/33957/komplett/