fokus: landesbühnen

Helden der Landschaft

Wie die Kulturpolitik Theater immer mehr in die Fläche treibt und deren Macher an die Grenzen des Machbaren

von

Es ist drei Uhr nachmittags, als der Staatsschauspieler Bruscon den Tanzsaal des Schwarzen Hirschen in Utzbach betritt. Gewitterschwüle liegt in der Luft. Der Theatermacher ist erschöpft und muss sich setzen. „Zweihundertachtzig“, knirscht er unwirsch dem Wirt des Hauses entgegen. „Eine Zwergengemeinde. Wenn ich gewusst hätte, dass dieses, dieses …“ Weiter kommt er nicht. Gähnende Leere. Der Name des Ortes, gerade noch gehört, ist wieder futsch. Bei den „Simpsons“ rollt in solchen Momenten gerne ein Wüstenläufer durchs Bild, jenes strohige Gebilde, das im Western zum Symbol des Niemandslands gehört. Nur ein paar Kerle stehen unerschrocken in der Landschaft.

Foto Kerstin Schomburg
Foto Kerstin Schomburg

Thomas Bernhards Theatermacher wäre angesichts heutiger Kulturpolitik sicherlich wahnsinnig geworden. Durch die Provinz touren. Mit Theater! In Utzbach, Butzbach, Gaspoltshofen … „Wir gehen auf eine Tournee“, schimpft Bruscon, „und gehen doch nur in eine Falle.“ 25 Jahre später ist aus Bernhards „Theaterfalle“ so etwas wie ein Auftrag geworden. Kultur in die Fläche bringen, lautet die Formel, wenn es darum geht, in strukturschwachen Gegenden Theater zu spielen. Das klingt schwer nach Behördendeutsch, mit etwas Fantasie aber auch verlockend: Fläche wie Prärie. Wie ein Theater jenseits der Norm. Und das muss für die Kunst erstmal nichts Schlechtes sein.

Neben den vielen Kulturinitiativen, Privattheatern und Amateurgruppen vor Ort sind es vor allem die Landestheater, die in diesem kulturpolitischen Western für die Hauptrollen vorgesehen sind. Ständig unterwegs zwischen niedersächsischer Nordseeinsel und oberpfälzischer Burgruine, rheinländischer Schulaula und sächsischem Theaterkahn, spielen sie Theater, wo es nur geht. 24 Landesbühnen gibt es bereits in Deutschland. Dank Brandenburgs Kulturministerin Martina Münch kommen mit den Uckermärkischen Bühnen Schwedt und der Neuen Bühne Senftenberg künftig zwei weitere hinzu. Auf der Internetseite des Ministeriums wird diese Umstrukturierung als Maßnahme bezeichnet, mit der das Land vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung und der geplanten Kreisgebietsreform die großen kulturellen Einrichtungen für die Zukunft neu ausrichten, sichern und stärken wolle. Das klingt schon weniger verlockend, eher wie eine Verordnung, die den Theatern zwar höhere Landeszuschüsse, aber auch mehr Eigenrisiko zuspielt.

„Landestheater sind abhängig von Buchungen.“ So bringt Marie Förster, Schauspielerin an der Burghofbühne Dinslaken, das System Landestheater im Beitrag des Ensemble-Netzwerks (siehe Seite 38) auf den Punkt. Auftrag, aber auch Anspruch ist es dabei, durchaus mit sperrigen Stoffen die Abstecher in den Gastspielorten zu bestreiten. In Verden ist das Landestheater Detmold mit Bernhards „Theatermacher“ zu Gast, die Landesbühne Niedersachsen Nord spielt Jelineks „Schutzbefohlenen“ in Jever. Die Produktionen werden in der Regel weit im Voraus gebucht. Und buchen meint verkaufen, es gibt Anbieter, und es gibt die Kunden. Größter Umschlagplatz dafür ist der Theatermarkt der INTHEGA, der Interessengemeinschaft der Städte mit Theatergastspielen, auf dem Gastspielanbieter aller Sparten neben Firmen für Ticketing, Veranstaltungssoftware und Veranstaltungstechnik ihre Angebote ausstellen. Was von fern wie eine Tourismus-Börse anmutet, kann sich, wenn über Regiekonzepte und Stückauswahl diskutiert wird, im Einzelfall zur konzentrierten Dramaturgiesitzung vertiefen. Auch Paul Borgardts ist auf dieser Messe unterwegs.

Der Leiter des Städtischen Bühnenhauses Wesel hat ein Theater mit sechshundert Plätzen zu bespielen, vom Michael-Jackson-Musical bis hin zu Schirachs „Terror“ läuft hier alles. Das Programm sei breit – doch nicht beliebig, sagt Borgardts. Vor allem, weil er über die Schauspielsparte beständig versuche, sich mit dem Theater einer „immer aggressiver werdenden Zeit“ entgegenzustellen – mit Heiner Müller, Thomas Bernhard, Wolfram Lotz und Philipp Löhle als Komplizen. Letzteren bietet mit der Produktion „Kollaps“ die Burghofbühne Dinslaken an. „Die Weseler“, sagt Borgardts, „sollen das gesamte Spektrum an Theaterkunst sehen. Die Burghofbühne, in deren Trägerverein die Stadt und auch der Kreis Wesel sind, spielt für das kulturelle Angebot des Städtischen Bühnenhauses eine große Rolle.“ So allerdings denken nicht alle im Kreis Wesel, am wenigsten diejenigen, die hier regieren. Die schwarz-gelb-grüne Koalition im Kreisrat beschloss kürzlich, ihren Anteil am Budget der Burghofbühne um die Hälfte zu reduzieren. Die Bürgerinnen und Bürger, hieß es, sollen nicht für Gastspiele in Hagen, Recklinghausen oder Siegen aufkommen. Dass umgekehrt die Bürgerinnen und Bürger in Düsseldorf dafür zahlen, wenn das Düsseldorfer Schauspielhaus in Wesel gastiert, wurde nicht erwähnt.

Hintergrund solcher Diskussionen sind natürlich die beständig schrumpfenden Haushalte in den Kommunen, was die Landesbühnen letztlich auch programmatisch beeinflusst. Viele Veranstalter stehen unter dem Druck, nur noch Produktionen zu buchen, die viele Zuschauer ziehen. Vor allem neue Dramatik war bislang schwer zu vermitteln. „Mittlerweile“, berichtet Kay Metzger, Intendant des Landestheaters Detmold und Vorsitzender der Landesbühnengruppe im Deutschen Bühnenverein, „tun sich die Kommunen jedoch auch mit Klassikern schwer.“ Was bestens laufe, seien Filmadaptionen wie „The King’s Speech“.

Mehr als Stadt- und Staatstheater sind Landesbühnen also dem Markt ausgeliefert. Es geht ums Kaufen und Verkaufen. Eine kontinuierliche Nähe zu den Zuschauern und damit eine inhaltliche Auseinandersetzung über den Wesenskern von Theater ist jenseits des Hauptsitzes kaum möglich. Dennoch geben die Landesbühnen ihren künstlerischen Anspruch natürlich nicht auf. „Die kleinen Theater in der Fläche“, formulierte es Kulturstaatsministerin Monika Grütters 2016 im RBB, „sind so etwas wie Widerstandsnester.“ Eben auch, weil sie unermüdlich versuchen, gegen die „allgemeine Verseichtung“, wie es der Intendant der Landesbühne Niedersachsen Nord Olaf Strieb nennt, anzuarbeiten. Dass man trotz dieses Anspruchs nicht wie eine feindliche Truppe in die umliegenden Dörfer einfallen muss, zeigt seit einigen Jahren auch das Landestheater Oberpfalz (LOT). 2010 aus der Stadtbühne Vohenstrauß, einer der größten Amateurtheatergruppen Deutschlands, entstanden, stehen hier Laien wie auch Profis auf der Bühne, teils getrennt, teils gemeinsam. Neben Inszenierungen in Mundart, zeigt das LOT Stücke wie „Malala“, einen Monolog über die afghanische Nobelpreisträgerin Malala Yousafzai.

Dennoch ließe sich das Wort Widerstand auch anders verstehen. Als beständiger Kampf, sich nicht vollends ausbeuten zu lassen. Neben der „katastrophalen Bezahlung“ (Olaf Strieb) sind es vor allem die Arbeitsbedingungen, die Landesbühnenmitarbeiter oftmals an die Grenzen des Machbaren führen. Ganz generell gilt im deutschen Arbeitsrecht: Fahrtzeiten sind keine Arbeitszeit. Wer um 14 Uhr in einen Bus steigt, um an einem Gastspielort um 20 Uhr eine Vorstellung zu spielen, und erst um ein Uhr nachts zurück ist, verbringt viel Zeit „privat“ auf der Straße. „Das ist – außer bei ganz bestimmten Berufen im Außendienst – die aktuelle Rechtslage“, sagt Jörg Löwer, Präsident der Genossenschaft Deutscher Bühnen-Angehöriger (GDBA). Für Ensemblemitglieder an Landesbühnen, auch wenn sie noch so viel touren, gelten diese Ausnahmen derzeit nicht. Der Normalvertrag Bühne immerhin, über den die meisten Solistinnen und Solisten an Theatern angestellt sind, schützt die Ruhezeiten, wobei maximal eine Stunde der Fahrtzeit auf die Nachtruhezeit angerechnet werden kann. Würden Fahrtzeiten komplett angerechnet, gäbe es keine Premieren mehr, da aufgrund der Ausgleichszeit keine Zeit mehr wäre, zu proben. Eine bizarre Situation, die nur lösbar wäre, würden die Ensembles verdoppelt. Doch natürlich ist das Gegenteil der Fall.

Vor allem Theater im Osten stehen unter dem Druck, immer mehr in die Fläche zu gehen, da die demografische Entwicklung in dieser Region die Zuschauerzahlen bislang alles andere als stabilisierte. Die Umwidmung der Theater in Schwedt und Senftenberg ist ein Kennzeichen dafür. Aber auch das geplante Staatstheater Nordost in Mecklenburg-Vorpommern ließe sich unter diesen Vorzeichen lesen. Das Kombinat aus den Theatern in Neubrandenburg, Neustrelitz, Greifswald und Stralsund soll künftig den ganzen Nordosten bespielen, was, einhergehend mit Spartenschließungen, Geld sparen soll. Doch auch hier erwartet die GDBA den gegenteiligen Effekt.

Durch den Zusammenschluss „werden die Theater gezwungen, sich aus der Fläche zurückzuziehen“, schreibt die GDBA. Die Beschäftigten müssten einen Großteil ihrer Zeit auf Autobahnen verbringen. Zwischen Stralsund und Neubrandenburg bzw. Stralsund und Neustrelitz liegen 100 bis 130 Kilometer. Für die Fahrten zu unterschiedlichen Standorten fusionierter Theater galten die Schutzregelungen für die Bespielung von Abstechern bislang nicht. „Wir haben deshalb 2015 durchgesetzt, dass diese Fusionsorte wie Abstecher an Landesbühnen gewertet werden“, sagt Jörg Löwer, „wutentbrannte Reaktionen seitens der Politik in Mecklenburg-Vorpommern waren die Folge.“ Das größte Problem sei das Unverständnis der Kulturpolitik, meint der GDBA-Präsident. „Überall soll der soziale Reparaturbetrieb Theater aktiv werden.“ Doch könne man nicht einfach Leute hin und her schieben wie Marionetten. Sowieso ist fraglich, ob die angestrebte Fusion, wie im Ministerbüro erdacht, das drohende Millionendefizit der Theater auffängt. Der Hohn bei der ganzen Angelegenheit: Die Landeszuschüsse für Theater sind in Mecklenburg-Vorpommern seit 1994 nicht erhöht worden. Bruscon würde sagen: „Trostlos. Absolute Kulturlosigkeit. Trostlos.“ //

Quelle: https://classic.theaterderzeit.de/2017/10/35507/komplett/