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Interventionistische Hologrammfamilie

In „Stonewall Uckermark – ein queerer Heimatfilm“ erteilen Tucké Royale und Johannes Maria Schmit bisherigen identitätspolitischen Vorstellungen eine Absage

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Markus Hawemann ist zerrissen. Ohne das queere Potenzial der nahe liegenden Großstadt jemals ausgetestet zu haben, lebt der erwerbslose Endzwanziger ziemlich unaufgeregt in der idyllischen Uckermark, im Plattenbau. Zusammen mit seiner Großmutter und deren Partnerin bestreitet er seinen Alltag. Eines Tages verliebt sich Markus Hawemann, gespielt von Tucké Royale, in Duc, einen Weggezogenen, der aus der Hauptstadt kurzzeitig in die Uckermark zurückgekehrt ist. Gemeinsam nach Berlin kann Markus mit ihm jedoch nicht gehen, die Sorge für seine Großmutter steht für ihn unverhandelbar an erster Stelle.

Foto: Philipp Rühr / Schuldenberg Films 2019
Foto: Philipp Rühr / Schuldenberg Films 2019

In den Momenten seiner Einsamkeit imaginiert sich der junge Mann Gleichgesinnte. Menschen, wie sie in Berliner Szene­kneipen leicht zu finden sind. Nahezu fabelhaft, euphorisch und ausgedehnt hedonistisch erscheinen sie immer wieder in seinen Gedanken. Halluzinationen einer offeneren und schillernden Welt. Eine weit entfernte Community, zu der Markus Hawemann gern ge­hören würde. „Hologrammfamilie“ nennt Hauptdarsteller und Autor Tucké Royale diese Erscheinungen. Wie schön wäre es, wenn die Uckermark statt von unzähligen Seen und Alleen mit feierfreudigen, genderqueeren Menschen bevölkert sein könnte!

Diese Idee hat das Künstlerduo Tucké Royale und Johannes Maria Schmit, die seit einigen Jahren zusammenarbeiten, fasziniert. Deshalb sind sie genau dort hingegangen, wo Queerness und Kunst vielleicht nicht primär vermutet werden, aber trotzdem existieren.

Anlässlich des 50. Jahrestages der Aufstände von schwarzen Transsexuellen und Dragqueens gegen die ständige Polizeigewalt im New Yorker Szenelokal Stonewall Inn, die als Gründungsmythos queerer emanzipatorischer Kämpfe gesehen und heute vor allem von Schwulen und Lesben als Christopher Street Day gefeiert werden, starteten sie im Frühjahr 2019 einen Aufruf: Gesucht wurden Menschen, die sich mit den Aufständen identifizieren können und gemeinsam mit einem Filmteam einen Tag lang in einer Autokolonne quer durch die Uckermark fahren wollen. „Die Vielzahl der Bewerbungen war überwältigend!“, erinnert sich Tucké Royale.

Schließlich zogen sie mit knapp siebzig Personen, in 16 Autos und einem Partybus durch die unendlichen Straßen rund um den Oberuckersee. Die Teilnehmenden der Kolonne wurden zu Statistinnen und Statisten des Films, zur Hologrammfamilie von Markus Hawemann. Gemeinsam umfuhren sie die Gerswalder Dorfkirche, bevölkerten die örtliche Gaststätte Zum Rasselbock in Haßleben und sprangen schließlich in einen Badesee.

Tucké Royale und Johannes Maria Schmit rufen mit ihrer Arbeit das Zeitalter der „Neuen Selbstverständlichkeit“ aus. Sie vermissen die Vielstimmigkeit queerer Akteure in künstlerischen Vorgängen. Queere Menschen sollten auf der Bühne vertreten sein können, ohne dass jedes Mal Themen wie Homophobie, Diskriminierungserfahrungen und die eigene sexuelle Identität im Zentrum stünden.

Sie seien nicht per se Expertinnen und Experten für Genderfragen. Ebenso wenig wie Menschen mit Migrationshintergrund, die in Theaterproduktionen vorrangig Menschen mit Migrationshintergrund darstellen sollen, oder jüdische Künstlerinnen und Künstler, die immer wieder zum Nahostkonflikt befragt werden, anstatt über ihre Arbeit sprechen zu können. Tucké Royale selbst ist in Quedlinburg im Harz geboren und bekam 2018 ein Stipendium im Denk- und Produktionsort Libken, einem ehemaligen LPG-Plattenbau im uckermärkischen Böckenberg. Für ihn ist es wichtig, mit Menschen zusammenzukommen, die er in der Stadt nicht treffen würde, um offen zu bleiben und sich nicht in der Berliner Künstlerblase einzurichten.

Im HAU – Hebbel am Ufer Berlin war Ende Oktober das Making-of des Projekts zu erleben. Der Spielfilm „Stonewall Uckermark – ein queerer Heimatfilm“ wird Anfang 2020 Premiere haben. Er ist eine nichtbürgerliche Erzählung vom Leben auf dem Land, die den familiären Alltag in einer Region beschreibt, in der Queerness oder Anonymität schwer möglich sind – und dabei auf erklärende Narrative verzichtet. Vor allem ist er nicht nur für die Berliner Community gemacht, sondern soll auch für junge Menschen in Brandenburg funktionieren. //

Quelle: https://classic.theaterderzeit.de/2019/11/38183/komplett/