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Heft 10/1990
Worte vor Shakespeares Denkmal, 1990
Broschur mit 88 Seiten, Format: 200 x 290 mm
ISSN 0040-5418
Als mir angeboten wurde, in diesem Jahr zur traditionellen Kranzniederlegung am Shakespeare-Denkmal die Rede zu halten, konnte ich nicht verhindern, daß mir eine verquere Frage im Kopf herumgeisterte: wann und von wem ist diese Zeremonie eigentlich eingeführt worden? Gehörte sie vielleicht in ihrem mir unbekannten Ursprung zu jenen Ritualen, die ein fragwürdiges Regententum veranstalten ließ, um sich im reflektierten Licht zu sonnen? Mußte dieser eher skeptisch denn heroisch dreinblickende Poet mit den baumelnden Beinen, DDR-Bürger auf Zeit wie wir alle, seinen unfreiwilligen Tribut zollen einem Staatspomp, wie er ihn zeitlebends doch durchschaut hat?
Wer diese leger-heitere Veranstaltung in den letzten Jahren miterlebte, wird so einen Gedanken lächelnd von sich weisen. Ich tue es auch, und zwar trotz eines Berichtes, den ich hier im Ausschnitt wiedergeben möchte:
»Am 23. April fand am Shakespeare-Denkmal im Weimarer Park eine feierliche Kranzniederlegung der Regierung der DDR, der Deutschen Shakespeare-Gesellschaft, der Parteien und einer großen Reihe gesellschaftlicher Organisationen, Kulturinstitute und Betriebe statt. Der Vizepräsident der Deutschen Shakespeare-Gesellschaft, Professor Otto Lang, verlas eine Ansprache des in Großbritannien weilenden Präsidenten. Auch an dieser Feier nahm der Vorsitzende des Staatsrates der DDR Walter Ulbricht und seine Gattin teil. Anwesend waren ferner Vertreter des Diplomatischen Korps und die Gäste der Shakespeare-Gesellschaft. Die Weimarer Bevölkerung war trotz strömenden Regens zahlreich erschienen.«
Diese Feierlichkeit vor 28 Jahren galt allerdings dem Sonderfall des Shakespeare-Jubliläums. Bei einem 400. Geburtstag darf es auch einmal repräsentativer zugehen. Doch man muß auch sagen, daß jene Jahre um 1964 die schwierigsten und fragwürdigsten waren flir eine Shakespeare-Gesellschaft, die dem Humanismus und der Toleranz stets verpflichtet sein sollte. Übrigens lehrt die Geschichte: die geehrten Toten bleiben nicht immer stumm, sie halten sich nicht an die Abmachungen, die Prämisse ihrer öffentlichen Ehrung sind. Sie beginnen zu reden, sobald sich ein Beherzter findet, der sie beim Wort nimmt. Auf einer offiziellen Kundgebung zu Ehren Rosa Luxemburgs mußte bloß sekundenlang ihr eigenes Wort aufblitzen, da war es um den Staatsakt geschehen. Als der Publizist Carl von Ossietzky in der nach ihm benannten Schule die Wandzeitung redigierte, zitterten nicht nur die Lehrer.
Hier im Park zu Weimar ging es stets ziviler zu, aber am Konferenztisch, am Katheder, auf der Bühne und leider auch im Sitzungskabinett wurde eine Kontroverse um und mit Shakespeare geführt, manchmal hart geführt, in der die unbestechlichen Worte des Meisters oft gut zu Buche schlugen. Die Wissenschaft nahm den Elisabethaner gern als Verbündeten im Ringen um eine offenere Ästhetik in Anspruch, die Theaterpraxis im Bestreben um größere Wahrheit in der Kunst. Mit Shakespeare an seiner Seite ließ sich gut fechten und noch in der Niederlage erwies er sich als Kumpel: Das habe auch ich mit Dankbarkeit feststellen können, wenngleich ich in früheren Zeiten den Morgengang hierher häufig gemieden habe, wahrscheinlich eher aus einer »truant disposition« heraus als aus einer Scheu vor dem Ritual.
William wäre der Behauptung, seine Utopien fanden gerade in diesem Land ihre Verwirklichung, mit eben jenem skeptischen Blick begegnet, die der Bildhauer atto Lessing ihm in effigie verliehen hat. Die Ergeignisse der vergangenen sechs Monate hätten ihm jedoch, so denke ich, großes Vergnügen bereitet. Welch ein Panorama bewegter Geschichte. Welche Massen in zornigem Aufruhr - man hört geradezu die Texte der First, Second und Third Citizens aus der Menge fetzen. Welch eine Galerie von Politikern - die einen aus sicherer Höhe jäh gestürzt, die anderen blitzschnell die Spitze einnehmend, bald auch diese vom Thron gestoßen, einer schließlich als Memoirenschreiber von der Boulevardpresse umschlungen - dieses letzte Detail auch von der Phantasie eines Shakespeare kaum zu erfinden! Welche Schicksale waren zu beobachten: hier der Aufstieg eines Geächteten zum Minister, dort einer in steiler Karriere kurz vor dem Gipfel über die eigenen Füße gestolpert, dort wiederum der furchtlose Vorkämpfer durch neue Korridorschleicher beiseite gedrängt - Könige, Caesaren, Brutusse, Bolingbrokes, und dazwischen immer wieder die Massen mit dem Ruf »Wir sind das Volk«.
Schade, daß Du so abseits ruhtest in diesem lauschigen Park, William, Du hättest in Leipzig vor der Nikolaikirche oder in Berlin auf dem Alexanderplatz stehen müssen, um das Geschehen aus nächster Nähe zu erleben. Deine Kollegen Schauspieler waren es immerhin, die zur mächtigsten Kundgebung aufriefen. Dramatiker verfaßten Freiheitspamphlete, von den Brettern der Bühnen gingen aufsässige Parolen aus. Du brauchst Dich Deines Berufsstandes nicht schämen.
Die Shakespeare-Zeit verdankt, nach den Darlegungen unseres Präsidenten Robert Weimann, einen guten Teil ihrer enormen Fruchtbarkeit der Dialektik des nicht mehr und noch nicht. Auch wir lebten sechs Monate in einer ungebundenen Interimszeit: Nicht mehr dem Kommando einer administrativen Staatsmacht unterworfen und noch nicht in die Sachzwänge einer Marktwirtschaft eingepaßt. Es war eine beglückende Zeit. Die Menschen begannen nach jahrelangem Schwund ihre politischen Muskeln zu spüren: in machtvollen Bürgerbewegungen, in einer ad hoc ins Leben gerufenen Grunddemokratie, in der Vertretung eines Runden Tisches entwickelten die Bürger Keime einer neuartigen, über das Parteiensystem hinausgreifenden politischen Kultur. Einer Kultur des 21. Jahrhunderts, vielleicht. Sie mußte in diesem Lande scheitern an einer Wirtschaft, die streckenweise noch im 19. Jahrhundert stak. Daflir blicken wir jetzt, erfüllt von unterschiedlichster Erwartung, auf das Abenteuer der nationalen Einigung. Shakespeare widmete dem Thema bekannterweise einen ganzen Zyklus, in der nationalen Einheit sah er in seiner Zeit das höchste politische Gut des Volkes. Heute, in einer Epoche, da die wirtschaftlichen, politischen und geographischen Grenzen sich in der Auflösung befinden, könnte es unser Anliegen sein, in der Pflege einer deutschen Kulturidentität, zu der paradoxerweise auch Shakespeare gehört, seine nationale Utopie aufzubewahren.
Wir haben Geschichte erfahren, unmittelbar, mitreißend, wie man sie in ruhigen Zeiten nur auf der Bühne erlebt. Diese Chance, Menschen auf allen Stufen der Hierarchie mitten im revolutionären Strudel zu erleben, Herz und Hasenfuß zeigend, voranstürmend und Haken schlagend, Verantwortungslast auf sich nehmend und sie abschüttelnd, von Tag zu Tag sich verändernd und sich gleichbleibend - all das zu erleben, nicht dank der verdichtenden Dramaturgie des Meisters, sondern in der dichten Wirklichkeit, das war wohl ein Privileg, das uns die Geschichte einmalig vergönnt hat. Wir durften alle einmal in einem Shakespeare sein. Nun kehren wir, wie Faust in die Studienstube, ins behagliche Bürgerleben zurück ...
Die feierliche Kranzniederlegung, so erfuhr ich aus berufenem Munde, rührt vom Jahr 1904, als dieses Standbild errichtet wurde. Seidem hat sie mit wenigen Unterbrechungen alljährlich an dieser Stelle stattgefunden. Gedenken wir also Shakespeares, des Überdauernden.
Maik Hamburger
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Dynamit auf der Bühnevon Wolfgang Höbel | |
Sowjettheater erörtert Machtfragenvon B. Ljubimow | |
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Worte vor Shakespeares Denkmal, 1990von Maik Hamburger | |
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Konzepte und PläneSchauspiel in Dresden 1990von Dieter Görne | Seite 5 |
Konzepte und PläneLeipziger Schauspiel - Reflexionen und Thesenvon Wolfgang Hauswald und Wolfgang Kröplin | Seite 5 |
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Schwer zu bändigen»Das kleine wilde Tier« von Reventberg an den Puppentheatern in Halle und Magdeburgvon Matthias Thalheim | Seite 16 |
»Auf unsere hoffnungslose Sache!«Modernes sowjetisches Puppentheater zwischen Innovation und Resignationvon Gerd Taube | Seite 18 |
Puppentheater in SpanienEindrücke vom IX. Internationalen Puppentheaterfestival in Barcelonavon Silvia Brendenal | Seite 21 |
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Zwischen Mammutshow und ExperimentierfeldNotizen zu zwei italienischen Sommerfestivalsvon Dieter Kranz | |
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Im Zeichen des EnsemblesBallettabende in Döbeln, Nordhausen, Eisenach und Zwickauvon Volkmar Draeger | |
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Gagen als SchweigegeldDas türkische Theater im SpannungsfeId von Fortschritt und Reaktionvon Volker Trauth | Seite 56 |
Theater im UmbruchIII. Festtage der Theaterkunst in Bulgarienvon Hans-Rainer John | Seite 57 |
Gespräch mit Borislaw Wladikow - Intendant des Dramatischen Theaters »N. 1. Wapzarow «von Hans-Rainer John und Borislaw Wladikow | Seite 59 |
Gespräch mit Severina Gjorowa. Dozentin an der Theaterhochschule Sofia (WITIS)von Hans-Rainer John und Sewelina Gjorowa | Seite 60 |
Das Theater des Dissidenten und PräsidentenAufführungen von Havel-Stücken in Pragvon Jochanaan Christoph Trilse-Finckelstein | Seite 61 |
Die Spirale der Macht und der UnterwerfungZu den DDR-Inszenierungen von Stücken Václav Havelsvon Ingeborg Knauth | Seite 62 |
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Largo DesolatoSchauspiel in sieben Bildern - Für Tom Stoppardvon Václav Havel | |
Essay | Seite 65 |
Versuch, in der Wahrheit zu lebenAuszugvon Václav Havel | |
Information | Seite 77 |
Personelles | Seite 78 |
Bücher | Seite 79 |
Christel Hoffmann: Spielen und Theaterspielen.Kinderbuchverlag Berlin, 1989, 141 Seiten, 6,80 DM.von Ingeborg Pietzsch | |
Benno Besson - Jahre mit Brecht.Hrsg. Christa Neubert-Herwig, Schrift 21 der Schweizerischen Gesellschaft für Theaterkultur, Willisau 1990, 256 Seiten, 39 SFr.von Martin Linzer | |
Premieren | Seite 80 |
Vom 16. Oktober bis 15. November 1990 | |
Spielpläne | Seite 81 |
Vom 16. Oktober bis 15. November 1990 |
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