martin linzer theaterpreis

Der Riss im Bild

Der Intendant des Schauspiels Leipzig, Enrico Lübbe, über Theater als gesellschaftliche Selbstverständigung und die Spur der Wut im Gespräch

von und

Halb Mauer, halb Altar – "Die Maßnahme / Die Perser" in der Regie von Enrico Lübbe. Foto Bettina Stöß
Halb Mauer, halb Altar – "Die Maßnahme / Die Perser" in der Regie von Enrico Lübbe. Foto Bettina Stöß

Herr Lübbe, das Schauspiel Leipzig hat die aktuelle Spielzeit sehr grundsätzlich als gesellschaftliche Selbstverständigung angelegt, man denkt fast an Brechts Forderung einer „großen Aussprache“. Wer sind wir, woher kommen wir, wohin wollen wir? Mit der Adaption von zwei großen Prosavorlagen, Peter Richters „89/90“ in der Regie von Claudia Bauer und Lutz Seilers „Kruso“ in der Regie von Armin Petras, eröffneten sie vergangenen Herbst die Spielzeit. Hinzu kommt nun in Ihrer Regie das Doppelprojekt von Aischylos’ „Persern“ und „Die Maßnahme“ von Bert Brecht und Hanns Eisler. Das klingt nach kompakter Geschichtsstunde. Ist das nicht selbst für die „Heldenstadt“, als die Christoph Hein Leipzig eine historische Sekunde lang erblickte, eine Überforderung?
Es ist ja kein Frontalunterricht! Und wir wollten auch nicht bloß DDR-Geschichten erzählen, sondern fragen von der Gegenwart aus: Wie ist es gekommen, dass diese Gesellschaft so wurde, wie sie heute ist?

So zerrissen?
Genau. Was man auch an den großen Kontroversen, Entscheidungen und Wahlen der vergangenen Monate merkt, die Europa und die Welt bestimmt haben und die oft nahezu fünfzig zu fünfzig ausfielen. Weswegen uns diese Thematik auch nächste Spielzeit weiter beschäftigen wird. Die Spuren und Fragen, die wir dabei verfolgen, erreichen aber auch sehr verschiedene Zuschauerschichten. Wir merken das am Publikum, das sich in den letzten vier Jahren sehr verändert hat. Der Altersdurchschnitt liegt bei etwa 38 Jahren, das ist sehr jung. Sehr viele Besucher kommen zum Beispiel aus Connewitz, Schleußig, der Südvorstadt oder Plagwitz, einem vormaligen Arbeiterbezirk, heute ein Studentenund Künstlerviertel. In Leipzig gibt es unter anderem die Hochschule für Grafik und Buchkunst, die Universität, die Hochschule für Musik und Theater – das sehr junge Publikum von dort zeigt dann auch eine besondere Aufmerksamkeit für Elemente von bildender Kunst auf der Bühne. Ähnlich sind die Verstärkungseffekte durch die Nähe zum Gewandhaus. Es gibt sehr verschiedene kulturelle Milieus in Leipzig und die spielen eine große Rolle für die Art, wie wir hier Theater machen können.

Wie muss man sich angesichts dieser kompakten Geschichtsfragen die Reaktionen eines – allein altersmäßig – doch sehr disparaten Publikums vorstellen?
Wenn wir „89/90“ von Richter spielen, wirkt das auf Zwanzigjährige nicht selten wie das „Opa erzählt vom Krieg“ in unserer Generation. Das ist für sie sehr weit weg. Und die älteren, die Überfünfzigjährigen, zucken oft nur mit den Schultern, weil das, was Richter in seinem Roman verhandelt, damals außerhalb ihres Blickfeldes lag. Viele haben gar nicht mitbekommen, was in der Wendezeit bei den 14- bis 18-Jährigen – das ist auch meine Generation – los war. Die ältere Generation fühlt sich eher von Seilers „Kruso“ angesprochen. Hier spiegeln sich ihre Bedrängnisse und Sehnsüchte wider, wie Weggehen oder Dableiben, Mitmachen für die Karriere oder oppositionell sein, dafür zum Außenseiter werden und sich auf Hiddensee als Tellerwäscher durchschlagen. Überhaupt diese Melancholie der Vorwendezeit, dieses fortwährende Verlassenwerden von Freunden und Arbeitskollegen, während man selbst völlig verunsichert ist, wie – und wo – man weiterleben soll.

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