rätoromanische schweiz

Die Ewigkeit ist unser Ding

Giovanni Netzer, Gründer des Festivals Origen, über Theater in 2200 Metern Höhe und den archaischen Zauber der rätoromanischen Sprache

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„La Regina da Saba“ (König im Schnee) in der Regie von Giovanni Netzer (Silvaplana Surlej 2014). Foto Benjamin Hofer
„La Regina da Saba“ (König im Schnee) in der Regie von Giovanni Netzer (Silvaplana Surlej 2014). Foto Benjamin Hofer

Herr Netzer, Sie haben 2005 das Festival Origen gegründet – auf der Burg Riom nahe dem knapp 350-Seelen- Dorf Riom-Parsonz, das auf über 1200 Höhenmetern liegt. Sie bespielen sogar den Julierpass in 2200 Metern Höhe. Wie kommt man auf die Idee, gerade dort ein Festival zu initiieren? Zumal eines, das jetzt erstmals auch im Winter stattfindet.
Ich bin in den Bergen aufgewachsen. Das Hochgebirge ist für mich ein Ort der Inspiration, mit ausreichender Einsamkeit, die konzentrierte Intensität ermöglicht. Ich mag es nicht, fortdauernd zerstreut zu werden, ich möchte nicht unablässig unterhalten werden. Das beschauliche Dorf verspricht Wärme, Geborgenheit, Bodenhaftung. Die Bergriesen, die das Dorf fassen, sind voller Mythen, die erzählt werden wollen. Am Pass, weiter oben, stoßen die Kulturen zusammen, der blumige Süden, der karge Norden, die Sprachen, die Konfessionen, die Lebensarten. Über den Julierpass wurde in der Bronzezeit Bernstein nach Ägypten transportiert, die Römer haben die Passhöhe mit Tempelbauten bestückt, später verirrte sich dort der junge Kaiser Friedrich II. im Nebel, dann kamen Panzersperren, gottlob keine Armeen. Die Berge sind mein Theater, da gibt es mythische Stoffe, gewaltiges Lichtdesign, echte Stürme und berückende Bühnenbilder.

Ja, es sind atemberaubende Bilder, die dort entstehen. Aber hat vor der Kulisse dieses Naturspektakels Kunst überhaupt eine Chance? Oder anders gefragt: Droht Kunst hier nicht zur verklärten Weltflucht zu werden?
Das Gegenteil ist der Fall. Ich empfinde die herkömmlichen Bühnenformen zunehmend als Weltflucht, als Kunstprodukte, außerhalb aller gelebten Realität. Die Theaterschaffenden in den Städten haben sich einsperren lassen. Ihre Kunst gedeiht im goldenen Käfig, ohne Tageslicht, ohne Straßengeräusch, ohne Alltagsmenschen. Hier findet die wahre Weltflucht statt. Die Blackbox, jener bewusste Nichtraum, ist für mich der Inbegriff von Weltflucht. – Das Theater in der rauen Landschaft zwingt zu konzentrierteren Formen, zu weniger Technik, zu mehr Einfachheit. Das tut gut, entschlackt von modischem Zeitgeist, bringt einfache Erzählweisen hervor, die ich liebe. Die vielfache Pirouette taugt hier nicht, aber die stille Verbeugung hat Würde und besteht neben dem Felsbrocken. Die untergehende Sonne über einem Schneefeld berauscht mich. Die Schneeflocken auf den Köpfen der Toten erzählen von sanfter Grabesruhe. Die künstlich erzeugten Nebelschwaden auf der Bühne sind doch lächerlich. Es macht Sinn, den Menschen in die große Natur zu setzen. Denn die gewachsene Schöpfung ist es doch, die die eigentlichen Maßstäbe setzt. Und je höher sie mit der Bühne wandern, je rauer sich Vegetation offenbart, umso mehr kommt Ewigkeit ins Spiel.

Origen will die rätoromanische Sprache mit zeitgenössischer Kunst und Musik konfrontieren. Dabei soll das Festival, so heißt es in der Beschreibung, „kein alpines Ghetto einer sterbenden Sprache sein, sondern vitales Zeugnis einer lebendigen Sprachgemeinschaft“. Was bedeutet das genau?
Wir sind reich. In meinem Tal spricht man drei Sprachen: Rätoromanisch, Deutsch, Italienisch. Wir waren multikulturell, schon lange bevor das Wort erfunden wurde. Wir dürfen mehrsprachige Stücke aufführen, und alle verstehen alles. Wir spielen mit den unterschiedlichen Sprachmelodien, die neue Kompositionen prägen. Die rätoromanische Sprache ist eine Preziose, ein archaisches Gefäß für Märchen und Heimwehlieder, meine geistige Heimat. Ich denke romanisch, ich träume romanisch, mein Wortschatz ist im Deutschen größer. Die romanische Kultur kennt viele Lieder und ganz wenig Opern. Wenn man hier tätig wird, muss und darf man die Welt neu erfinden. Wir werden nicht dazu angehalten, die tausendste Version der „Zauberflöte“ neu zu inszenieren. Wir müssen keine zeitgenössische Avantgarde bedienen. Wir dürfen in vielem neu anfangen. Das ist ein unglaubliches Privileg, das ist Freiheit, die mir immer wichtiger wird. Freiheit von modischen Trends, die das Theater immer mehr prägen. Wir sind nicht tourneefähig, unsere Bühnen widersprechen allen Standards, dafür sind sie gebaute Atmosphären, sind echte Räume oder weite Landschaften, die den Menschen zur Episode machen.

Es gibt Entwürfe des weltberühmten Architekten Peter Zumthor, der die Burg für den Spielbetrieb weiter ausbauen will. Wie weit sind diese Pläne mittlerweile gediehen, was sind Ihre Visionen für die Zukunft?
Peter Zumthor hat einen genialen Entwurf für den Ausbau der Burg Riom erarbeitet, eine riesige Bühnenmaschinerie mit wuchtigen Podien, die dem gewaltigen mittelalterlichen Raum eine martialische Dimension verleihen. Öffenbare Glasdächer machen die Burg zur Zisterne. Darüber prangt der Sternenhimmel. Eines Tages werden wir das Projekt verwirklichen – im Moment übersteigt es unsere finanziellen Möglichkeiten.
Dafür planen wir einen temporären Theaterbau für den Julierpass, eine riesige Lichtskulptur aus Holz, die dem Winter standhält. Hier verbindet sich das Menschendrama mit der Urgewalt Natur. Hier oben ist der Frühling keine friedliche Einladung zur geselligen Gartenparty im lauen Lüftchen, sondern elementarer Zweikampf zwischen Licht und Schnee. Darin kann man vom Untergang erzählen, von Passion, von Auferstehung, von Lebenszyklen. Im Herbst erzählt dieselbe Passlandschaft vom großen Tod der Schöpfung, vom Übergang ins Jenseits, zu dem auch der Mensch gehört. Die Ewigkeit ist unser Ding. //

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