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Recherchen 66
Das Angesicht der Erde
Brechts Ästhetik der Natur. Brecht-Tage 2008
Herausgegeben von Sebastian Kleinschmidt
Paperback mit 150 Seiten, Format: 140 x 240 mm
ISBN 978-3-940737-30-4, Originalpreis: € 12,00
› Jubiläumsband anlässlich der 30. Brecht-Tage
› Namhafte Autoren über das Verhältnis von Brecht zur Natur
Brechts Ästhetik der Natur war Thema der 30. Brecht-Tage im Februar 2008 im Literaturforum im Brecht-Haus in Berlin. Brecht ist nicht gerade ein Dichter der Naturhinwendung, einer, der vornehmlich Pflanzen und Tiere, Landschaften und Jahreszeiten besingt. Er gilt eher als ein Dichter der Naturabwendung. Laut Benjamin war er Urbanist, der erste bedeutende deutsche Lyriker, „der vom städtischen Menschen etwas zu sagen hatte". Und der städtische Mensch ist ein Mensch der Gesellschaft, nicht der Natur. Berühmt ist sein Diktum „Was sind das für Zeiten, wo / Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist / Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt".
Natur als Gegenstand der Poesie, so die Botschaft, ist nur zulässig, wenn das gesellschaftliche Unheil aufgezeigt wird. Nun könnte es aber sein, dass gesellschaftliches Unheil künftig direkt durch Naturunheil hervorgerufen wird. Augenscheinlich befindet sich das Mensch-Natur-Verhältnis in einer Krise. Wir leben mehr und mehr in der Angst, dass uns Wetter und Klima bald dafür bestrafen werden, dass wir zu weit gegangen sind in der industriellen Naturausbeutung. Brechts Naturverhältnis wird vor diesem Hintergrund beleuchtet.
Mit Texten von Holger Teschke, Peter Geist, Gerd Irrlitz, Valentina Di Rosa und Ursula Heukenkamp.
In der heutigen Wirtschaft, sagt Klaus Michael Meyer-Abich, Emeritus für Naturphilosophie an der Universität Essen, tun die Menschen so, als seien sie irgendwann als interplanetarische Eroberer auf die Erde hinabgeschwebt, um es sich dort eine Zeitlang möglichst gutgehen zu lassen, und als könnten sie, wenn nichts mehr zu holen ist, auf demselben Weg wieder verschwinden. Und er fragt besorgt: „Sind wir aber nicht eigentlich Erdensöhne und Erdentöchter, die auf diesem Planeten eine Heimat finden möchten und damit glücklicher wären als auf der interplanetarischen Durchreise?" Würde sich also an den Gefühlen, die unser Handeln leiten, nicht etwas ändern, wenn wir uns unserer Zugehörigkeit zum Ganzen der Natur erinnerten und die außermenschliche Natur nicht bloß als Umwelt, sondern als natürliche Mitwelt empfänden?
Damit sind wir mitten in der Problematik der Gegenwart. Hat das 20. Jahrhundert - in Gestalt von Hitlerismus und Stalinismus - das Grundvertrauen in die menschliche Zivilisation erschüttert, droht das 21. Jahrhundert, auch noch das Grundvertrauen in die Natur zu zerstören, Natur verstanden als das, was von selbst da ist, ein ins unendlich Große und unendlich Kleine ausgedehntes, reich gegliedertes Ganzes, das das Prinzip seiner Bewegung in sich trägt, das seine eigenen Zeitkreise, seine eigenen Ereignisse, Polaritäten und Reaktionsweisen hat, die nicht durch den Homo sapiens und nicht durch den Homo faber gesetzt sind.
Auf den ersten Blick erscheint uns Brecht nicht als ein Dichter der Naturhinwendung, als einer, der Pflanzen und Tiere, Landschaften, Jahreszeiten, Wasser, Feuer, Luft und Erde besingt. Er erscheint uns eher als ein Dichter der Naturabwendung. Bei Brecht spricht keiner von einer Ästhetik der Natur. Laut Benjamin war er Urbanist, der erste bedeutende deutsche Lyriker, „der vom städtischen Menschen etwas zu sagen hatte". Und der ist bekanntlich ein Mensch der Gesellschaft, kein Mensch der Natur.
Es hat daher im 20. Jahrhundert, dem Jahrhundert der endgültigen Vorherrschaft des Städtischen über das Ländliche, immer wieder Versuche gegeben, das Naturgedicht für illegitim zu erklären, sei es im Namen der Geschichte, der Aktualität oder der Urbanität. Naturlyrik wurde beargwöhnt und nur unter gewissen Bedingungen für statthaft gehalten. Auch ein Dichter wie Peter Huchel, nicht gerade poetologischer Parteigänger Brechts, hielt sich nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr für berechtigt, die Natur zu besingen. In einem Gedicht von 1947, das sich auf den Bürgerkrieg zwischen kommunistischen Partisanen und Regierungstruppen in Griechenland bezieht, heißt es: „Perlgraue Feder im Sand, / die der Vogel verlor, / als er am Rand der Morgenröte / flog aus dem Nebel empor, / zarteste Kraft des Halms, / der die Erde durchstößt, / tauiger Ölbaum, Wasser des Bachs, / darf ich euch preisen, / eh nicht der Mensch den Menschen erlöst?" Hier ist sie geradezu mit Händen zu greifen, die Brechtsche Antinomie „In mir streiten sich / Die Begeisterung über den blühenden Apfelbaum / Und das Entsetzen über die Reden des Anstreichers. / Aber nur das zweite / Drängt mich zum Schreibtisch." Huchels Zeilen klingen wie eine Anspielung auf das berühmte Diktum „Was sind das für Zeiten, wo / Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist / Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt". Natur als Gegenstand der Poesie, so die Botschaft, ist nur zulässig, wenn das gesellschaftliche Unheil aufgezeigt wird.
Nun könnte es gut sein, dass gesellschaftliches Unheil künftig direkt durch Naturunheil hervorgerufen wird, ein Unheil, das nicht zuerst durch die Natur, sondern durch menschliche Einwirkung verursacht wird. Augenscheinlich befindet sich das Verhältnis von Mensch und Natur an einen Krisenpunkt. Wir leben mehr und mehr in der Angst, dass uns Wetter und Klima bald dafür bestrafen werden, dass wir in der industriellen Naturausbeutung zu weit gegangen sind.
Gerade deshalb kommt der Aufmerksamkeit für Umwelt und Natur ganz neue Bedeutung zu. In den Tagebüchern Simone Weils findet sich der Satz: „Wie viele Male geht das Licht der Sterne, das Rauschen der Meereswogen, das Schweigen der Stunde vor dem Frührot vorüber, ohne die Aufmerksamkeit der Menschen zu wecken? Der Schönheit der Welt keine Aufmerksamkeit zu schenken ist vielleicht ein so großes Verbrechen der Undankbarkeit, dass es die Strafe des Unglücks verdient."
Trotz seiner Vorliebe für Politik und Gesellschaftskritik, trotz hübscher Sarkasmen auf Kosten der Romantiker ist auch Brecht ein Dichter mit Sinn für Landschaft und Natur. Im PUNTILA-Prolog lesen wir: „Sie sehn dies Tier, sich ungeniert bewegend / In einer würdigen und schönen Gegend. / Wenn sie aus den Kulissen nicht erwächst / Erfühlt ihr sie vielleicht aus unserm Text: / Milchkesselklirrn im finnischen Birkendom / Nachtloser Sommer über mildem Strom / Rötliche Dörfer, mit Hähnen wach / Und früher Rauch steigt grau vom Schindeldach. / Dies alles, hoffen wir, ist bei uns da / In unserm Spiel vom Herrn auf Puntila." Brecht notiert im Arbeitsjournal: „Es ist ein kleines fettes Kalb von einem Stück. Mehr Landschaft drin als in irgendeinem meiner Stücke, ausgenommen vielleicht BAAL."
In der Zeit von BAAL und HAUSPOSTILLE, als Brecht im Ton kalter Prophezeiung Gedichte über den Untergang der Städte, ja der ganzen modernen Zivilisation schrieb, hielt er der Vergänglichkeit der historisch-sozialen Welt immer wieder die Ewigkeit der Natur entgegen: „Von diesen Städten wird bleiben: der durch sie hindurchging, der Wind!" Die radikale Absage des jungen Brecht an die Gesellschaft führte, so Hans Kaufmann, „zu einer philosophisch hochstehenden Naturlyrik, die das genaue Gegenteil von botanisierender Lyrik ist. Der in den bürgerlichen Verhältnissen so kleine und depravierte Mensch findet sich in der Natur unentstellt und in seiner eigentlichen Größe wieder." Die Gedichte VOM KLETTERN IN BÄUMEN und VOM SCHWIMMEN IN SEEN UND FLÜSSEN haben bis heute nichts von Ihrer Frische verloren.
Indem Brecht sich dem Marxismus zuwandte, schob er seine naturpoetische Neigung beiseite. Er wurde zu einem Dichter, der gegen das soziale Unrecht anschrieb und zur Veränderung der Welt aufrief. Ebendarum befasste er sich vor allem mit Dingen, die zu ändern, und nicht mit Dingen, die nicht zu ändern sind. In dem berühmten Gedicht AN DIE NACHGEBORENEN heißt es: „In die Städte kam ich zur Zeit der Unordnung / Als der Hunger herrschte / Unter die Menschen kam ich zu der Zeit des Aufruhrs / Und ich empörte mich mit ihnen. / So verging meine Zeit / Die auf Erden mit gegeben war. // Mein Essen aß ich zwischen den Schlachten / Schlafen legte ich mich unter die Mörder / Der Liebe pflegte ich achtlos / Und die Natur sah ich ohne Geduld."
Wer heute lebt, weiß, dass wir gerade der Natur Geduld und Achtsamkeit entgegenbringen müssen, und zwar mehr als je zuvor, weil wir noch nie so intensiv in die Naturwelt eingegriffen haben. Unsere Untaten fallen uns jetzt gewissermaßen auf die Füße. Es reicht nicht mehr, die ökologischen Feuerwehren besser auszurüsten oder einzelne Krankheitssymptome der Umwelt zu kurieren. Die Komplexität des Problems erfordert ein generelles Umdenken. Sonst stellt sich am Ende noch heraus, dass der Mensch, die Krone der Schöpfung, nicht nur ein Parasit der Erde, sondern ein Irrläufer der Evolution ist.
Sebastian Kleinschmidt
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Brechts Ästhetik der Naturvon Ursula Heukenkamp | Seite 10 |
Ästhetische Naturanschauung und philosophischer Naturbegriff bei Brechtvon Gerd Irrlitz | Seite 28 |
"Ich sitze hier wie in Tahiti, unter Palmen und Künstlern ..."Bertolt Brecht und die Südsee – Eine Spurensuchevon Holger Teschke | Seite 87 |
"Auf's Land!" "In den Wald!"Ästhetik und Aktionismus der Berliner Boheme um 1900von Valentina Di Rosa | Seite 105 |
Mit Dolly im "Second Life"Junge deutschsprachige Lyrik nach der Naturvon Peter Geist | Seite 125 |
Der Stoizismus großer Pflanzenvon Sebastian Kleinschmidt | Seite 142 |
Editorische Notiz | Seite 144 |
Autorinnen und Autoren | Seite 145 |
Das Angesicht der Erde
Brechts Ästhetik der Natur. Brecht-Tage 2008
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Zum Herausgeber
Sebastian Kleinschmidt
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Nachtwasser. Sternensegen
Zwei Flussgedichte Peter Huchels
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Moderation: Sebastian Kleinschmidt
Der Stoizismus großer Pflanzen
Vorwort
Bibliographie
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Recherchen 66
Das Angesicht der Erde
Brechts Ästhetik der Natur. Brecht-Tage 2008
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Recherchen 31
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